Eine Frau mit einem Smoothie bei einer Selbstbedienungskassa in einem Supermarkt. Studien zufolge wird an SB-Kassen besonders viel gestohlen.
Diese Person hat sehr wahrscheinlich an der SB-Kasse für ihren Smoothie bezahlt | Symbolfoto: Getty Images
Menschen

Studierende erzählen, warum sie im Supermarkt klauen – und wie

"Von meinem eigenen Geld könnte ich mir am Tag vielleicht ein Baguette und eine Packung Hummus leisten, aber bestimmt keine Smoothies oder Sushi."

Selbstbedienungskassen stellen Supermärkte vor ein Problem. Einerseits sparen sie Personalkosten und die Kunden haben das Gefühl, ihren Einkauf damit schneller zu erledigen. Andererseits scheinen sie Ladendiebstahl zu begünstigen. Eine weltweite Umfrage unter Einzelhändlern ergab 2022, dass rund 23 Prozent ihrer Verluste auf SB-Kassen zurückzuführen sind. Anfang dieses Jahres schaffte sogar eine Aldi-Filiale in Köln ihre Selbstbedienungskassen wieder ab, weil zu viel gestohlen wurde.

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Eine 2015 erschienene Studie untersuchte, wie sich der Einsatz von mobilen Scanner-Apps auf die Supermarktkundschaft auswirkt. Mit diesen Apps können Kunden komplett eigenständig ihre Waren scannen. Die Untersuchung kam zu dem Schluss, dass die Technologie tendenziell zum Diebstahl verleitet, "indem sie den menschlichen Kontakt vom Einkaufsprozess und vor allem den menschlichen Kontakt beim Bezahlvorgang entfernt". Praktischerweise gab die Scanner-App Ladendiebinnen und Ladendieben direkt die Ausreden mit, warum sie bestimmte Produkte nicht gescannt hatten: Fehler der App oder Vergesslichkeit.


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Vielleicht macht Gelegenheit also wirklich Diebe. Dank Inflation und gestiegener Lebenshaltungskosten ist der Anreiz zum Klauen momentan jedenfalls besonders hoch. Immer mehr Menschen haben Probleme, über die Runden zu kommen, vor allem Studentinnen und Studenten. Daran ändern auch 200 Euro Einmalzahlung wenig. Gleichzeitig ist Klauen verdammt stressig. In den meisten Supermärkten gibt es Sicherheitsleute, Gewichtskontrollen an den SB-Kassen oder zufällige Überprüfungen des Einkaufs. 

Wir haben mit drei Studierenden gesprochen, die regelmäßig Lebensmittel klauen. Alle drei baten uns, nicht ihre echten Namen zu verwenden, damit sie keine rechtlichen Probleme bekommen. 

Tammie, 23, klaut jeden Monat Lebensmittel im Wert von rund 400 Euro 

VICE: Hi Tammie, wann hast du mit dem Klauen angefangen?
Tammie:
Als ich neun war, habe ich etwas im Spielwarenladen geklaut. Als Kind war mir schon bewusst, wie teuer manche Sachen sind. Es fühlte sich toll an, mit kostenlosem Spielzeug aus dem Laden zu gehen. Für mich ist Klauen mit Rauchen vergleichbar: Beim ersten Mal machst du es noch, um cool zu sein, aber irgendwann packt es dich. 

Du bist süchtig nach Klauen?
Ich glaube nicht, auch wenn es ziemlich aufregend sein kann. Seit ich mit der Uni angefangen habe, klaue ich im Albert Heijn (die niederländische Version von REWE oder Edeka). Die SB-Kasse macht es einem sehr leicht. Viele Studierende scannen acht Produkte und nehmen zehn mit nach Hause.

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Letztes Jahr habe ich dann angefangen, größere Mengen zu stehlen. Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich sonst über die Runden kommen soll. Die Miete ist so hoch, dazu kommen Studiengebühren, Versicherung und überhaupt die Inflation. Meine Mutter möchte ich nicht nach Geld fragen, die muss ja selbst über die Runden kommen.

Über das letzte Jahr verteilt habe ich Sachen im Wert von mehreren tausend Euro gestohlen, was sehr schlimm ist. Wenn ich im Laden bin, packe ich einfach meine Einkaufstasche voll, zahle für ein Produkt und gehe raus. Die ersten paar Mal war ich so gestresst, dass ich fast umgekippt bin. Jetzt habe ich nur noch Herzklopfen. Ja, Klauen ist nicht gut, aber es steckt auch eine Philosophie dahinter. 

Eine Philosophie, die dein Verhalten rechtfertigt?
Ein Freund von mir, der Philosophie studiert hat, hat mein Verhalten ethisch hinterfragt. Durch unsere Unterhaltungen bin ich auf ein paar Regeln gekommen, die ich mir selbst setze. Ich klaue nur, was ich brauche: Gemüse, Obst, nichts Unnötiges. Ich klaue nur bei Albert Heijn – bei Amazon würde ich wahrscheinlich auch klauen, wenn es einen richtigen Laden gäbe. Ich finde es OK, von großen Unternehmen zu stehlen, die verdienen sowieso genug.

Ich habe aber auch Schuldgefühle wegen meiner privilegierten Position. Mir ist bewusst, dass ich die ausnutze. Vor Kurzem war ich mit einem Schwarzen Freund im Supermarkt. Er war schockiert, als er sah, wie viel ich klaute. Als Weiße Studentin falle ich für andere nicht ins Muster einer typischen Ladendiebin. Manchmal fühle ich mich deswegen schlecht.

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Ich frage auch Obdachlose am Eingang vom Supermarkt, ob sie etwas brauchen, und klaue es ihnen dann. Es ist eine Art Robin-Hood-Komplex. Es ist schon unerträglich, dass ich so versuche, meine Schuldgefühle loszuwerden, aber ich komme sonst einfach nicht über die Runden. 

Hörst du mit dem Klauen auf, sobald du mehr Geld verdienst?
Das hat mich mein Freund auch gefragt. Er findet es nicht OK, dass ich klaue. Vielleicht ist das hier nicht die beste Antwort, aber ich glaube nicht, dass ich mit dem Klauen aufhören werde, bis ich erwischt werde. Vielleicht wird man nach der Veröffentlichung dieses Artikels in der Kommentarspalte auf mich eindreschen und ich dann vor lauter Scham damit aufhören. Ich habe tatsächlich ein bisschen Angst davor, was die Leute darüber sagen werden.

Luuk, 20, klaut jeden Monat Lebensmittel im Wert von rund 300 Euro 

VICE: Hi Luuk, seit wann klaust du?
Luuk:
Ich war eigentlich immer sehr gegen Diebstahl. Wenn meine Freunde geklaut haben, hat mich das sehr wütend gemacht. Das änderte sich Ende 2021. Ich stand mit Himbeeren, Mandarinen und einer Sushi-Box an der SB-Kasse. Als sich herausstellte, dass das Sushi 17 Euro kostet, entschied ich mich dazu, es zu klauen. Das war so einfach, dass ich anfing, es immer öfter zu machen. Anfangs waren es noch Sachen im Bereich von zehn Euro, aber irgendwann habe ich auch drei Tage hintereinander geklaut, jeweils für etwa 100 Euro.

Meine Freunde waren beeindruckt und fragten mich, ob ich ihnen auch mal was mitbringen kann. Die ganze Sache verselbstständigte sich. Einmal habe ich den Laden sogar mit einem vollen Einkaufswagen verlassen, ohne zu bezahlen. Vier Kisten Bier, Champagner und einen Haufen Snacks für meinen ganzen Kurs. Meine Kommilitonen warteten um die Ecke, um alles ins Auto zu packen. 

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Wie klaut man so viele Lebensmittel an der SB-Kasse?
Der Einkaufswagen war wirklich eine Ausnahme. Wenn ich alleine bin, habe ich andere Techniken. Sobald ich im Supermarkt bin, nehme ich mir eine Einkaufstüte, fülle sie komplett mit Sachen und scanne dann an der Kasse nur die Tasche. Ich warte, bis die Mitarbeiter mit anderen Kunden beschäftigt sind. Meinen Fahrradschlüssel habe ich griffbereit in meiner Hosentasche und meine Bankkarte habe ich in der Hand. So kann ich möglichst schnell abhauen. Falls da doch mal jemand steht, der mich kontrollieren könnte, gehe ich einfach zurück in den Laden und tue so, als hätte ich etwas vergessen. Dann versuche ich es noch mal.

Wenn ich erfolgreich mit einer Tasche voller unbezahlter Lebensmittel aus dem Laden gehe, fühle ich mich kurz allen überlegen. Die Vorstellung, dieses Geheimnis in mir zu tragen, während mich gleichzeitig alle für den netten Typen von nebenan halten, löst etwas in mir aus. Das klingt schon fast pervers [lacht].

Ich habe außerdem eine ausgeklügelte Methode: Zuerst baue ich eine Beziehung zu den Angestellten auf, damit sie mich freundlich finden und nicht direkt verdächtigen. Ich quatsche hin und wieder mit den Leuten, die da arbeiten. Einmal habe ich sogar extra meinen Fahrradschlüssel im Laden liegen lassen, damit ich ihn zusammen mit einem Angestellten suchen konnte. 

Das geht ein bisschen über den armen Studenten hinaus, der nur überleben will, oder?
Von meinem eigenen Geld könnte ich mir am Tag vielleicht ein Baguette und eine Packung Hummus leisten, aber bestimmt keine Smoothies oder Sushi. Aber ernsthaft, ich habe bei einer großen Supermarktkette kein schlechtes Gewissen, teure Produkte zu klauen. Diebstahl ist bei denen schon in den Preis mit einkalkuliert. Ich glaube nicht, dass ich damit jemandem finanziell schade. Ich würde mich selbst als Antikapitalist bezeichnen. Diese großen Firmen machen eh schon haufenweise Geld.

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In letzter Zeit finde ich es aber schwieriger zu stehlen. Man muss schon sehr selbstbewusst sein. Wenn ich nicht denke, dass ich etwas Falsches tue, dann denken die Mitarbeiter das auch nicht. In letzter Zeit habe ich aber immer mehr Angst, erwischt zu werden. Inzwischen dürfte ich Zeug im Wert von etwa 7.000 Euro geklaut haben. 

Glaubst du wirklich, dass du nichts Falsches tust?
Natürlich nicht. Ich weiß auch, dass es den Menschen gegenüber unfair ist, die ihr hartverdientes Geld im Supermarkt ausgeben. Ich könnte mir auch einfach einen Job suchen, aber das werde ich nicht. Es ist sehr egozentrisch.

Sobald ich meinen Abschluss habe, werde ich mit dem Klauen aufhören. Abgesehen davon macht es mir gar nicht mehr so viel Spaß, ich mache es aus rein praktischen Gründen.

Sacha, 23, klaut jeden Monat Waren im Wert von rund 220 Euro 

VICE: Hey Sacha, warum hast du mit dem Klauen angefangen?
Sacha:
Ich war eine ziemlich rebellische Teenagerin. Ich habe Hosen in Modegeschäften geklaut, obwohl ich sie mir locker hätte leisten können. Es war für den Kick, aber wahrscheinlich auch, um von meinen Eltern Aufmerksamkeit zu kriegen. Mit 17 wurde ich im H&M beim Klauen erwischt. Ich musste deswegen einen Tag ins Gefängnis, aber weil ich noch minderjährig war, bekam ich keinen Eintrag. Danach habe ich erst mal mit dem Klauen aufgehört, bis ich mit 20 die SB-Kassen für mich entdeckt habe.

Zu der Zeit hatte ich gerade angefangen, allein zu leben, und musste für einen Haufen Zeug selbst zahlen. Eine Freundin erklärte mir, wie einfach es ist, im Supermarkt zu klauen. Ich war sofort überzeugt. Du scannst einfach nur die Hälfte der Produkte. Wenn ein Mitarbeiter deine Tasche kontrolliert, zeigst du ihm zwei EC-Karten und sagst, dass du für den Rest separat zahlst. Es fing sehr klein an, aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. 

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Als Jugendliche hast du wegen dem Kick geklaut. Findest du es immer noch so aufregend?
Ja, insbesondere, wenn ich dabei Augenkontakt mit einem Sicherheitsmann halte und ihn anlächle. Mein Adrenalinlevel geht dann durch die Decke. Es ist ein schönes Gefühl. Wenn ich meine Tasche zu Hause auspacke und mir klar wird, dass ich für das ganze Zeug nichts bezahlt habe, freue ich mich auch. Schuldgefühle habe ich nicht.

Mein Zimmer ist voller Krempel, den ich in Läden geklaut habe. Es sind schon längst nicht mehr nur Lebensmittel. Ich bin wie eine Kleptomanin [lacht]. Wenn ich mich innerlich leer fühle, klaue ich mir Duftkerzen oder eine neue Teekanne. Ich lasse Aschenbecher aus Restaurants mitgehen und Duftstäbchen von Toiletten. Es hat schon etwas Zwanghaftes und es ist nur zum Spaß. Ich brauche keine Duftstäbchen. 

Kleptomanie ist eine Störung, bei der man dem Drang zu Stehlen nicht widerstehen kann.
Ja, das wurde bei mir letzten Juni diagnostiziert. Ich spreche da jeden Monat mit einem Psychiater drüber, aber deswegen klaue ich nicht weniger. Die Diagnose hat mir eher dabei geholfen, mein Verhalten zu akzeptieren. Anscheinend ist das ein Teil meiner Persönlichkeit. 

Wirst du versuchen, in Zukunft weniger zu klauen?
Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich in vielerlei Hinsicht erwachsener werde und dieses Verhalten nicht mehr wirklich zu der Person passt, die ich gerade werde. Ich bezweifle aber, dass ich alleine damit aufhören kann. Es wäre vielleicht gut, wenn ich einmal erwischt werde. Die Geschichte mit H&M hat mir in gewisser Weise geholfen. Aber natürlich möchte ich auf keinen Fall erwischt werden, ich bin schließlich nicht mehr minderjährig.

Als Teenagerin habe ich geklaut, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Dann habe ich mit dem Klauen weitergemacht, um über die Runden zu kommen. Aktuell ist es außer Kontrolle. Wenn meine Eltern das herausfinden würden, müsste ich erst mal unser Vertrauen von null wieder aufbauen. Sie sind so unglaublich stolz auf mich. Früher wollte ich, dass sie von meinen Diebstählen erfahren, aber jetzt schäme ich mich für mein Verhalten.

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