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Marktwerte

Wissenschaftler: "Fußballer sind eine Art Luxusgut oder Sammlerstück"

Ein Wissenschaftler erklärt, warum Dembélé teuer verkauft werden konnte und Matthias Ginter ein Schnäppchen war.
Foto: IT University of Copenhagen

94 Millionen Euro sind eine beinahe lächerliche Summe im modernen Fußball. 2009 war das noch richtig viel Geld, damals bezahlte Real Madrid diese Summe für einen der bis heute besten Spieler: Cristiano Ronaldo. Doch seither ist einiges passiert.

Diese Saison ging es um andere Summen: Der FC Barcelona hat sich den 20-jährigen Ousmane Dembélé geschnappt – für 150 Millionen Euro. Der Auslöser: Neymars Transfer von den Katalanen zu Paris Saint-Germain. Der Preis: 222 Millionen Euro. Für PSG aber nicht genug: Für zusätzlich bis zu 180 Millionen holten sie sich Kylian Mbappé aus Monaco.

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Trotzdem: Einen richtigen Durchblick bei solchen Transfersummen haben die wenigsten. Klar ist, junge Spieler sind begehrt, gute Leistungen führen zu hohen Preisen. Aber das allein taugt als Erklärung noch nicht. Drei Wissenschaftler von der IT University of Copenhagen und der Universität Liechtenstein haben versucht dieses Problem zu lösen, indem sie ein Modell entworfen haben, das nur mit Daten arbeitet.

Oliver Müller ist einer der Forscher. Wir haben uns von ihm erklären lassen, wie der Algorithmus funktioniert und warum es trotzdem keine rein wissenschaftliche Erklärung für die neuen Rekord-Transfers gibt.

VICE Sports: Hat der BVB für Dembélé deutlich mehr bekommen, als er eigentlich wert ist?
Oliver Müller: Vor zwei Monaten hätte wohl niemand daran gedacht, bis zu 150 Millionen für Dembélé zu zahlen. Zum Vergleich: Unsere Modellschätzung lag gerade einmal bei etwa 37 Millionen. Das liegt auch daran, dass er erst zwei Jahre Profi-Fußball gespielt hat – ein Jahr bei einem eher mittelklassigen Verein in Frankreich und ein sehr erfolgreiches Jahr bei Borussia Dortmund. In diesem letzten Jahr hat sich sein Marktwert mehr als verdoppelt, was schon eine beträchtliche Steigerung ist. Aber ob jemand nach nur einer Saison bei einem Top-Klub wirklich so viel Geld wert ist? Das ist natürlich fraglich.

Fans und selbst die Spieler können die ohnehin schon riesigen Summen gar nicht mehr fassen. Wie konnten die Preise derart explodieren?
Ich würde sagen, dass in den letzten Wochen auf dem Transfermarkt eine Art Inflation eingesetzt hat. Das fing schon mit den TV-Geldern aus England und dem wachsenden chinesischen Markt an. Der Transfer von Neymar, beziehungsweise das Geld, was aus Katar in den Markt floss, hat das nochmal beschleunigt. Man kann das vielleicht mit einem überhitzten Wohnungsmarkt vergleichen. Dort sind bestimmte Immobilien auf der einen Seite sehr knapp, auf der anderen Seite aber nahezu unbegrenzte Geldmengen vorhanden sind. Das führt dann zu sehr bizarren Preisen.

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Wieso haben Sie überhaupt einen Algorithmus entwickelt, um Marktwerte von Spielern zu schätzen?
Meine Kollegen und ich beschäftigen uns mit statistischen Modellen und ihrer Anwendung in betriebswirtschaftlichen Fragestellungen – und sind gleichzeitig große Fußballfans. Irgendwann haben wir uns gedacht, dass wir beides doch zusammenbringen könnten. Wir haben uns anfangs gefragt, wie Marktwerte überhaupt bestimmt werden. In der Vergangenheit waren solche Schätzungen wenigen Experten vorbehalten, beispielsweise Managern und Sportjournalisten. Dann kam "transfermarkt.de" und auch die Fans gaben subjektive Schätzungen ab. Wir haben nach einer datenbasierten Variante gesucht.

Wie unterscheidet sich Ihr Modell von der Vorgehensweise bei transfermarkt.de?
Bei transfermarkt.de diskutieren Fans und nach dem Prinzip der "Weisheit der Masse" wird ein Marktwert festgelegt. Dieser Ansatz funktioniert auch ziemlich gut, allerdings vor allem bei Spielern, die man auch aus dem Stadion oder aus dem Fernsehen kennt. Bei weniger bekannten Spielern gibt es dagegen deutlich weniger Leute, die sich an der Diskussion beteiligen. Das kann zur Gefahr werden, weil zum Beispiel Interessen von bestimmten Fans oder vielleicht sogar Fußballagenten die Marktwertschätzungen erheblich beeinflussen können. Außerdem ist dieser Ansatz für die Fans natürlich sehr aufwendig, deswegen werden die Marktwertschätzungen häufig nur ein- oder zweimal pro Saison aktualisiert. Daher wollten wir diesen Prozess automatisieren und einen Algorithmus entwickeln, der Marktwerte objektiv, d.h. auf Daten basierend, berechnet.

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Welche Faktoren berücksichtigt Ihr Modell?
Unser Modell basiert auf circa 30 Faktoren, die eine Rolle spielen. Es gibt drei große Blöcke: Charakteristika des Spielers (z.B. Alter, Größe, Position, Verein, Nationalität), sportliche Leistung (z.B. Einsatzminuten, Tore, Vorlagen, Passquote, Dribblings) und die Popularität (z.B. Schlagzeilen oder Suchanfragen). Ein gutes Beispiel für einen populären Spieler ist David Beckham. Der war zwar ein sehr guter Spieler, gleichzeitig aber auch sehr populär, was seinen Marktwert noch zusätzlich steigerte. Googelt man David Beckham findet man zuerst Treffer, die gar nichts mit Fußball zu tun haben – dort geht es vielmehr um sein Image. Für einen Klub ist das interessant, weil solche Spieler möglicherweise den Verkauf von Trikots und Tickets ankurbeln können.

Was steigert den Marktwert am meisten?
Betrachtet man die Faktoren einzeln, sind es Tore und die Vorlagen. Allerdings ist auch die Einsatzzeit nicht zu unterschätzen, gerade bei defensiven Spielern. Passquote und Anzahl der Pässe gehören auch zu den wichtigen Leistungsdaten.

Wie genau sind die Schätzungen?
Wir haben den Algorithmus mit transfermarkt.de und tatsächlich gezahlten Transfersummen verglichen. Dazu haben wir über einen Zeitraum von fünf Jahren alle Transfers in den Topligen herangezogen, bei denen nicht der Vertrag auslief. Wir haben festgestellt, dass unsere Schätzungen insgesamt vergleichbar mit den Schätzungen der Fans auf transfermarkt.de sind – allerdings können wir "auf Knopfdruck" schätzen. Dadurch sind wir wesentlich effizienter und das Verfahren ist für jeden Spieler wiederholbar und transparent. Im Vergleich mit den gezahlten Summen liegen wir im Schnitt übrigens ungefähr drei Millionen daneben – ähnlich wie die Schätzungen der Fans.

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Spieler wie James Rodriguez oder Neymar haben sehr große Fangemeinden. Können diese Fans auch interessant für einen Verein werden?
Ja, obwohl James Rodriguez im Nachhinein fast ein Schnäppchen ist. Er hat einfach unglaublich viele Twitter-Follower. Neymar ist vielleicht ein noch besseres Beispiel. Für Paris und die katarischen Eigentümer von Paris könnte der Transfer auch eine große Marketing-Aktion sein. Mit Blick auf die bevorstehende Weltmeisterschaft in Katar hat dies natürlich eine Menge Publicity gebracht. Allerdings ist Neymar auch ein Ausnahmespieler, der Transfer lohnt sich natürlich auch auf der sportlichen Seite.

Welcher Verein hat im Sommer ein riesiges Schnäppchen beim Einkaufen gemacht, ohne, dass wir das genügend honoriert haben?
Der Transfer von Matthias Ginter zu Borussia Mönchengladbach könnte ein solches Schnäppchen sein. Unsere Marktwertschätzung für Ginter beläuft sich auf ungefähr 22 Millionen, gewechselt ist er aber für lediglich 17 Millionen, plus mögliche Bonuszahlungen. Das war ein sehr solider Einkauf, da hätten durchaus noch ein paar Millionen mehr gezahlt werden können. Herr Ginter hat in den vergangenen Saisons sehr konstant gespielt, insgesamt gute Werte gehabt und vor allem viel Einsatzzeit bei einem europäischen Top-Klub bekommen. Sicherlich ist er aber kein Spieler mit dem Glamour-Faktor eines Neymar.

Bei welchem Spieler wurde zu viel gezahlt?
Dembélé würde ich hier schon nennen. Ich bin allerdings Dortmund-Fan und deswegen sehr zufrieden mit dem Transfer. Aki Watzke und der gesamte BVB können sich für diese Transfersumme auf die Schulter klopfen. Natürlich hatte der BVB hier den Vorteil, dass Barcelona enorm unter Druck stand. Sie mussten das verdiente Geld aus dem Neymar-Transfer schnell wieder investieren, auch mit Blick auf die Fans. Dazu kam dann der verlorene Supercup gegen Real Madrid, und auch der Präsident steht aktuell in der Kritik. Ich glaube, dies alles war für die hohe Transfersumme am Ende ausschlaggebend. Selbst wenn Dembélé in Barcelona einschlägt, ist die Summe für mich überraschender als die des Neymar-Transfers.

Gibt es noch ein anderes Beispiel?
Anthony Modeste fällt wohl auch in diese Kategorie. Die 35 Millionen, die für ihn gezahlt wurden, sind für Köln schon ein sehr guter Deal. Unsere Schätzung lag bei ungefähr 17 Millionen. Ich denke aber, dass einige der Transfers, bei denen zuletzt Geld aus China oder Katar floss, schwer zu bewerten sind. Die meisten europäischen Vereine hätten wohl nicht so viel Geld für Modeste bezahlt. Manchmal sind Fußballer heute aber wohl auch eine Art Luxusgut oder Sammlerstück – vergleichbar mit Oldtimern. Manche Menschen zahlen mehr Geld als Materialwert und Leistung oft rechtfertigen würden. Ähnliche Mechanismen gibt es heute auch zunehmend im Fußball, bei denen private Investoren zunehmend in ihre "Spielzeuge", d.h. die Vereine, investieren.

Wer ist aktuell der wertvollste deutsche Spieler?
Das ist Toni Kroos mit über 60 Millionen Euro Marktwert. Er ist Stammspieler bei einem der drei größten Vereine der Welt. Natürlich ist seine Popularität nicht mit einem Ronaldo oder Messi zu vergleichen, aber er liefert überragende Passquoten. Einer der Spieler, die ihren Marktwert zuletzt stark steigern konnten, ist sicherlich Timo Werner von RB Leipzig. Er hat eine sehr gute Bundesliga-Saison gespielt und liegt ungefähr bei 19 Millionen Euro. Allerdings konnte er sich mit Leipzig noch nicht auf einer internationalen Bühne präsentieren. Wenn er auch dort überzeugend spielt, wird das seinen Wert weiter steigen lassen.
Ein anderes Beispiel für einen aufsteigenden Spieler aus der Bundesliga ist Christian Pulisic, der mittlerweile bei mehr als 14 Millionen Euro steht. Er hat schon einige Einsatzzeit bei Dormund bekommen und besonders in den USA steigt seine Popularität enorm. Bei ihm befürchte ich, dass es nächste Saison wie mit Dembélé laufen könnte und ein englischer Verein vielleicht das Portemonnaie aufmachen wird.

Kann Datenanalyse in Zukunft auch für Spieler-Scouting wichtig werden?
Ja, definitiv. Ich glaube, dass Algorithmen für solche Vorhaben sinnvoll einsetzbar sind. Das ist dann aber eher kein Werkzeug für Teams wie Bayern München oder Real Madrid, weil für diese Vereine sowieso nur 10 bis 20 Top-Spieler in Frage kommen. Diese Spieler kann man persönlich scouten. Aber wenn es um unter- und mittelklassige Klubs geht, macht Datenanalyse schon Sinn. In Dänemark setzt der Verein FC Midtjylland beispielsweise intern ein vergleichbares Modell ein – darüber ist in der Öffentlichkeit aber nur wenig bekannt. Für solche Klubs sind natürlich viel mehr Spieler interessant – insbesondere auch Spieler, die man seltener im Fernsehen sieht. Mit Algorithmen kann auf Basis der Spielerdaten eine erste Vorauswahl getroffen werden, um dann zu schauen, mit wem man sich intensiver beschäftigen sollte.