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Totempfahl und Tradition: die Holzpuppe im Kung-Fu

Die legendäre Holzpuppe ist für Kung-Fu-Kämpfer viel mehr als nur Trainingsobjekt. Sie dient als kraftspendende Inspirationsquelle und Verbindung zu den alten Meistern.

Mach dir mal den Spaß und gib bei Google „Holzpuppe" ein. Du wirst auf ein kunterbuntes Sortiment an Kung-Fu-Dummys stoßen, das für jedes Portemonnaie etwas zu bieten hat: 741 Euro (plus Versandkosten) für eine echte „Wing Chun Holzpuppe Schwenkbar"? Kein Thema! Selbst wer eine Allergie gegen Holzoberflächen hat, muss sich nicht grämen. Es gibt die „Muk Yan Jong" (so die Streberbezeichnung für Holzpuppen) auch aus PVC oder Metall. Und so ziemlich jede Unterart von Kung-Fu wird mit der Holzpuppe bedient: Mantis, Jeet Kune Do, Hung Gar Kuen oder Choy Lee Fut—für jeden ist etwas dabei.

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Wer wissen will, wie man genau mit so einer Holzpuppe trainiert, wird unter dem Video-Reiter bei Google fündig. Von Wannabe-Jackie-Chans bis echten Meistern—unzählige Kämpfer zeigen den Zuschauern, wie man die Puppe am besten malträtiert. Noch mehr Videos tauchen übrigens auf, wenn man es mit dem englischen Suchbegriff „wooden dummy" versucht. Um zu verstehen, dass die Jungs sich und ihre Videos sehr ernst nehmen, muss man nur einen Blick in den Kommentarbereich werfen. Dort wird schnell klar, dass es zwischen den Anhängern verschiedener Kampfstile elementare Meinungsunterschiede gibt, die mit viel Leidenschaft und unter Rekurs auf reichlich Fachchinesisch ausgetragen werden.

Doch bei aller Dissonanz: So ziemlich allen Kämpfern ist gemein, dass sie die Holzpuppe fast schon verehren und ihr in ihrem Trainingsprogramm eine wichtige Rolle zukommen lassen.

Vom Original zum Exportschlager

Yip Man wird von Kampfsport-Gelehrten nachgesagt, die allererste Wing-Chun-Holzpuppe erfunden zu haben. Der Grund: Yip Man war immer viel unterwegs. Nur selten blieb er für längere Zeit an einem Ort, weswegen eine tragbare und kompakte Puppe für Trainingszwecke nötig wurde. Die traditionelle Holzstange, die man fest im Boden justiert—und die man heute noch überall in den Kung-Fu-Schulen Chinas finden kann—war für den rastlosen Großmeister keine Option. Also entwickelten er und ein befreundeter Schreiner, Fung Shek, eine Puppe auf einem Holzlattenkonstrukt, die bis heute von Wing-Chun-Anhängern (aber nicht nur) beim Training zum Einsatz kommt.

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Als einer von Yip Mans Schülern, ein gewisser Bruce Lee, zum gefeierten Weltstar wurde, wurden durch ihn auch Wing Chun, Hongkong-Filme und die Holzpuppe berühmt. Letztere entwickelte sich zu einem echten Verkaufsschlager, und das nicht nur in Hongkong und seiner wachsenden Wing-Chun-Community, sondern auch in den USA, wo sich neben Wing Chun auch Jeet Kune Do und Hung Gar Kuen immer größerer Beliebtheit erfreuten. Wie schon im Fall von Karate und seiner Bubishi-Bibel reichte ein einziger Verbindungspunkt zwischen Südchina und dem Westen aus, um eine Welle von Kung-Fu-Schulen fernab von Hongkong loszutreten. Mit einer Holzpuppe in ihrem Zentrum.

Die Holzpuppe als heiliger Totempfahl

Das Training mit der Holzpuppe wurde zu einem wichtigen Ritus für Kung-Fu-Schüler. Die Kunst, schnelle und flüssige Bewegungen auszuführen, während man gegen eine harte Oberfläche aus Holz schlägt, trennt die Spreu vom Weizen—oder den Anfänger vom erfahrenen Schüler. Neben der motorischen Herausforderung, gegen die Holzpuppe eine Serie von sauberen Schlägen abzuspulen, härtet einen die harte Holzoberfläche auch gegenüber Schmerzen ab. Sobald Schüler die wichtigsten Bewegungen draufhaben, geht es ans Improvisieren und Erfinden eigener Moves. Als Jackie Chan und Donnie Yen für das Kinopublikum mit der Holzpuppe trainierten, hatten Generationen von westlichen Kung-Fu-Kämpfern ihre Skills-Endgegner gefunden. Die Nachfrage nach den Puppen brummte prompt.

Dabei ist die Holzpuppe viel mehr als nur reiner Trainingsgegenstand. Die Holzpuppe ist für viele Kämpfer auch so etwas wie ein heiliger Totempfahl, der sie mit den Kung-Fu-Großmeistern ihrer Vorzeit verbindet. Es ist fast schon ein Muss für traditionelle Dojos, in ihrem Zimmer eine Puppe stehen zu haben. Das Bild vom Kung-Fu-Anhänger, der sich einer Puppe gegenübersieht, ist mittlerweile fest verankert in der popkulturellen Konzeptualisierung der klassischen Kung-Fu-Schule. Das geht schon so weit, dass in Romanen, Filmen etc. eine Puppe beinahe auftauchen muss, damit ja klar ist, dass die vorliegende Kampfsportart besonders traditionell und altehrwürdig ist. Ganz nach dem Motto: Diese Kampfsportart hat ein Vermächtnis. Erfordert zeitlich wie körperlich große Opfer. Und tut auf jeden Fall richtig weh.

Die Holzpuppe als Kontinuitätshüter

Schon seit Jahrhunderten beklagen die Menschen den Untergang des wahren Kung-Fu. Auch in unserer Epoche ist das nicht anders. Dabei sind die Argumente dieselben wie schon seit ehedem: Kung-Fu sei zu weich geworden, Kung-Fusei nicht mehr alltagstauglich, Kung-Fu fehle es an richtigen Meistern.

Natürlich ist Kung-Fu nie wirklich untergegangen, vielmehr geht es um die unterschwellige Sorge, nicht genügend Traditionen an die kommenden Generationen weitergeben zu können. Und genau deswegen ist die Erfindung von Yip Man ein wahrer Segen und sein wichtigster Nachlass für die Kampfsportszene. Denn sein Kung-Fu-Totempfahl hat für Alt wie Jung eine riesige Symbolkraft, die es heutigen Kampfkünstlern ermöglicht, sich auf vergangene Meister zu berufen—und das nicht nur hinsichtlich ihrer Technik und Schläge, sondern auch im Bezug auf ihre ethischen und philosophischen Vorstellungen.