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Der letzte Liquidator

Wir haben uns in den letzten Wochen beim Blick nach Fukushima oft gefragt, was das eigentlich für arme Teufel sind, die dort fieberhaft Stromleitungen verlegen, den Druck kontrollieren und mit Sneakers in der radioaktiven Brühe herumstapfen.

Wir haben uns in den letzten Wochen beim Blick nach Fukushima oft gefragt, was das eigentlich für arme Teufel sind, die dort fieberhaft Stromleitungen verlegen, den Druck kontrollieren und mit Sneakers in der radioaktiven Brühe herumstapfen. Warum setzen diese schlecht ausgebildeten und genauso schlecht ausgerüsteten Hilfsarbeiter ihr Leben für einen Hungerlohn aufs Spiel, anstatt einem grundvernünftigen Trieb zu folgen und mit ihren Toyotas möglichst weit wegzufahren? Irgendwie wollten wir uns nicht mit der Antwort zufriedengeben, dass Japaner eben so sind – stoisch, aufopferungsvoll und immer zum Harakiri bereit. Aber leider haben wir auch keine Möglichkeit gesehen, einen von den Kerlen direkt zu fragen.

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Dann fiel uns ein, dass Fukushima nicht die einzige Nuklearkatastrophe war, die es auf der INES-Skala (das ist die Messlatte für nukleare Störfälle) auf eine Sieben gebracht und damit den Status „katastrophaler Unfall" erreicht hat. Bereits am 26. April 1986 flog ein Reaktor im Kernkraftwerk von Tschernobyl im Norden der Ukraine während eines Tests einfach in die Luft und verteilte Unmengen an Plutonium und anderem nuklearem Material in der Umgebung. Die brennende Ruine spuckte tagelang hochradioaktiven Staub in die Atmosphäre. Der nukleare Fallout machte ganze Landstriche unbewohnbar, und die Fälle von Leukämie, Schilddrüsenkrebs und Missbildungen stiegen deutlich an.

Wie heute in Fukushima stand auch damals das Schicksal ganzer Regionen und Länder auf dem Spiel. Und genau wie dort brauchte man dringend nützliche Idioten, die die Drecksarbeit direkt am Reaktor erledigten. Dafür wurden insgesamt 600.000 sogenannte Liquidatoren mobilisiert, die ihren Arsch und ihre Gesundheit dafür gaben, die Katastrophe in den ersten Tagen und Wochen einzudämmen. Genauso wie die Helden von Fukushima sammelten Hilfskräfte in Tschernobyl mit bloßen Händen und Schaufeln Dinge ein, die normale Menschen nicht einmal von Weitem anschauen würden. Heute leiden sie an Krebs und schweren Herzproblemen - wenn sie überhaupt noch leben. Während die Ingenieure unter den Liquidatoren mit einem stattlichen Gehalt gelockt wurden, hatten die einfacheren Männer, meist Reservisten der Armee, keine Möglichkeit, den Befehl zu verweigern. Vor allem westliche Historiker reden heute gerne von Zwangsrekrutierungen. Dies trifft es aber nur zum Teil und erklärt nicht, warum sich auch in Fukushima Leute für diesen mörderischen Job finden.

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Die Liquidatoren selbst sprechen meistens lieber von Pflichtgefühl und Patriotismus als Motivation für ihre Taten. Oder von der schlichten Tatsache, dass es ja irgendjemand tun musste. Aber auch das ist nicht die ganze Wahrheit, die wie immer irgendwo dazwischen liegt. Deshalb haben wir uns mit Boris Iwanowitsch Derkatsch, einem ehemaligen Reservisten der ukrainischen Armee, getroffen. Er war als Teil des Sonderbataillons 731 drei Tage nach der Havarie des Reaktors von Tschernobyl vor Ort.

Blick in den zerstörten Block 4 des KKW Tschernobyl kurz nach dem Unfall im April 1986. Im Vordergrund die im Bau befindliche Kaskadenwand, in der Bildmitte die Stahlträger B1 und B2

Der Sarkophag, der den havarierten Block 4 des KKW Tschernobyl umschließt, während der Bauphase (Mai bis Dezember 1986).

VICE: Alles Gute. Soweit ich weiß, ist heute dein 59. Geburtstag. Du bist also der lebendige Beweis dafür, dass auch die Arbeiter in Fukushima nicht unbedingt verloren sind. Wie geht es dir?

Boris Iwanowitsch Derkatsch : Danke. Ich bin in vernünftiger ärztlicher Behandlung. Deshalb geht es mir ganz gut, auch wenn ich krank bin.

Erzähl mal. Wo warst du, als der Reaktor von Tschernobyl in die Luft flog?

Ich war zuhause, nicht weit von Kiew. Am 28. April 1986 klingelte auf einmal mein Telefon. Man sagte mir, ich müsse sofort ins Kriegskommissariat kommen. Ich war Unteroffizier der Reserve und hatte keine Möglichkeit, mich zu widersetzen. In Kiew wurde ich dann dem Sonderbataillon 731 zugeteilt und mit einem Militärtransporter zum Kraftwerk nach Tschernobyl gefahren.

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Wie alt warst du damals?

34.

Verstandest du etwas von Atomkraftwerken? Und wusstest du, wie scheißgefährlich Radioaktivität ist?

Von Atomkraftwerken wusste ich eigentlich nicht besonders viel. Ich hatte aber genug vom Atombombenangriff der Amerikaner auf Japan gehört. Dass Radioaktivität gefährlich ist, wusste ich also. Unser Bataillon hat nach drei, vier Tagen Geigerzähler bekommen. Die haben ständig ausgeschlagen und bis zu 800 Röntgen pro Stunde gemessen. Normal sind so etwa 14 Mikroröntgen pro Stunde. Uns war also allen klar, welcher Gefahr wir uns da aussetzen.

Was war ganz konkret deine Aufgabe?

Das Wichtigste war, so schnell wie möglich das Feuer zu löschen. Hubschrauberpiloten, die teilweise frisch aus dem Afghanistankrieg kamen, haben aus ihren Maschinen Sand und blieb direkt in den brennenden Reaktor geworfen. Meine Kameraden und ich haben die Hubschrauber beladen. Die Beladestationen waren nicht weit vom Reaktor entfernt, und die Maschinen brachten jedes Mal eine Unmenge an radioaktivem Staub mit.

Wolltest du nie weglaufen?

Der grundlegende Gedanke war: Je schneller wir das Ganze hier fertig kriegen, desto besser. Das war einfach Pflichtgefühl. Meine Familie hat etwa 150 km entfernt von diesem verdammten Reaktor gelebt. Das war bei allen Liquidatoren in den ersten Tagen so – man hat ja zuerst Leute aus der Umgebung mobilisiert. Zu Beginn wehte der Wind nach Norden, weg von Kiew. Anfang Mai habe ich dann aber gespürt, dass er dreht. Habt ihr untereinander über die Gefahr für euch und eure Familien gesprochen?

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Wir haben 16 Stunden, von früh am Morgen bis spät in die Nacht, gearbeitet und bis zu 70 Kilo schwere Säcke geschleppt. Wir hatten eigentlich kaum die Möglichkeit oder Kraft, uns untereinander auszutauschen.

Es heißt immer, man würde Radioaktivität nicht spüren. Stimmt das? Was habt ihr von der Katastrophe noch gemerkt?

Der Reaktor war von unserem Lager aus die ganze Zeit sichtbar. Vor allem nachts schimmerte er in einem rötlichen Licht, einer Art Morgenröte. Die Luft schmeckte nach Metall, und nach einiger Zeit begann der Hals zu schmerzen. Unsere Körper waren ständig heiß.

Traten medizinische Probleme schon vor Ort auf und wurdet ihr versorgt?

Zu unserem Bataillon gehörte ein Arzt. Wenn es Probleme gab, hat er sich um die Erste Hilfe gekümmert. Aber eigentlich hielt sich das vor Ort in Grenzen. Die größte Dosis an Radioaktivität haben die Feuerwehrleute, die zuerst am Reaktor waren, abbekommen. Die sind wirklich einfach verbrannt und unter schrecklichen Schmerzen gestorben. Wir hatten da Glück und waren bereits einer etwas geringeren Strahlung ausgesetzt, die nicht sofort zu akuten Symptomen führte.

Luftaufnahme des zerstörten Blocks 4 kurz nach dem Unfall. Im Vordergrund das Maschinenhaus, rechts der Block 3, zwischen den Blöcken das Hilfsanlagengebäude.

Habt ihr etwas von den Soldaten mitbekommen, die direkt am Reaktor arbeiteten? Hattet ihr Kontakt zu ihnen?

Nein. Die Arbeit und die Lager der Bataillone waren streng getrennt.

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Der Einsatz der Hubschrauber hat, soweit ich weiß, nur einige Tage gedauert. Was hat dein Bataillon danach gemacht?

Nachdem der Brand gelöscht war, hat man versucht, die Brennstäbe mit Wasser zu kühlen. Das hat nicht funktioniert. Alle waren verzweifelt. Die Temperatur musste dringend runter, sonst hätte es weitere Explosionen gegeben und die Lage wäre noch mehr eskaliert. Die nächste Idee war flüssiger Stickstoff. Dafür musste aber erst das Kühlwasser, das sich unter dem Reaktor gesammelt hatte, irgendwie abgepumpt werden. Wir haben also Rohre in ein nahes Dorf gelegt, und das hoch radioaktive Wasser in einen Teich geleitet. Mein Bataillon war nach dem Abpumpen noch damit beschäftigt, die Gegend um das Kraftwerk herum zu dekontaminieren. Man hat die obersten Bodenschichten abgetragen und die radioaktiven Teile, die aus dem Reaktor geschleudert wurden und herumlagen, in große „Gräber" gebracht. Für diese Arbeiten gab es eigentlich Roboter, die haben aber aufgrund der hohen Strahlung versagt. Also brauchte man „Bioroboter" - einen Soldaten mit einer Schaufel. Das hat aber größtenteils die Gruppe gemacht, die uns abgelöst hat.

Wie lang warst du insgesamt in Tschernobyl?

17 Tage. Die Strahlung war so hoch, dass man nicht viel länger dort arbeiten konnte.

Du dürftest in diesen 17 Tagen extrem viel Strahlung abbekommen haben. Weißt du, wie viel genau?

Die Geigerzähler, die wir nach ein paar Tagen bekommen haben, zeichneten die Strahlung im Prinzip über den Tag hinweg auf. Aber wir mussten sie abends abgeben, und das Ergebnis haben wir nie erfahren. Bis heute nicht. Es gab zwar für jeden Liquidator einen Grenzwert, aber es wurde so hingetrickst, dass jeder bei Abreise genau diesen Wert erreicht hat. Wir sind davon überzeugt, dass wir mehr Strahlung abbekommen haben.

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Hatte das sofort Folgen?

Ich habe einen Monat nach Abzug ein großes Geschwulst am Hals bekommen. Heute weiß ich, dass das von einem radioaktiven Teilchen in meiner Speicheldrüse kam. Aber damals konnte oder wollte mir niemand die Ursache dafür nennen. Innerhalb des Gesundheitsministeriums gab es eine Verordnung, laut derer man keine Krankheit direkt auf Tschernobyl zurückführen durfte. Im Krankenhaus kam der Chefarzt auf meinen behandelnden Arzt zu und fragte ihn, was ich für ein Patient sei. Er sagte leise: „Ein Liquidator aus Tschernobyl." Ich wurde dann operiert, und zum Glück haben sich beide Tumore als gutartig herausgestellt.

Sarkophag im Bau, Kaskadenwand links und Westwand, vor der später die Stahlhohlwand errichtet wurde.

Die Sowjetunion hat also versucht, die Auswirkungen zu verschleiern, und ist mit euch Liquidatoren nicht besonders gut umgegangen.

Genau. Man hat versucht, die Katastrophe als kleinen Zwischenfall zu verkaufen. Deshalb war man darauf bedacht, diesen Vorfall nicht als Situation darzustellen, die Heldentaten erforderte, sondern als lokales Problem, das man mit „normalen" Arbeiten in den Griff bekommen hat. Das ärgert mich heute noch. Unser Hauptmann Sborowskij, der mittlerweile leider schon tot ist, hätte sich die höchste aller Medaillen, „Held der Sowjetunion", verdient. Aber leider haben zu Sowjetzeiten die Helden nicht immer ihre Auszeichnungen erhalten.

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Vorarbeiten zur Errichtung des Sarkophags zur Umschließung des im April 1986 havarierten Blocks 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl.

Hast du eine Entschädigung bekommen?

Der Ministerrat hat beschlossen, uns für die „Erledigung einer besonderen Aufgabe" eine Entschädigung von 400 Rubel zu zahlen. Das war lange Zeit alles. Erst nach dem Ende der Sowjetunion gab es ein Gesetz, das den Status der Opfer des Unfalls erfasste. Man wurde in verschiedene Kategorien mit entsprechenden Pensionen und Privilegien eingeteilt. Ich musste vor eine Kommission treten und kam als Vollinvalide in die Kategorie 1. Heute bekomme ich eine Pension, mit der ich einigermaßen über die Runden komme.

Glaubst du, man hat euch Liquidatoren verraten?

Das ist alles relativ. In Weißrussland gibt es gar keine diesbezügliche Sonderbehandlung. Im Vergleich zu unseren weißrussischen Liquidatorenbrüdern geht es uns also etwas besser. Wir haben wenigstens die Gelegenheit, mit Vereinen und Verbänden für unsere Rechte zu kämpfen. Das Problem ist, dass die finanziellen Mittel fehlen. Wir erhalten nicht die Leistungen, die uns dem Gesetz nach zustehen.

Du hast eben erwähnt, dass du Familie hast.

Ja, ich habe eine Frau und zwei Kinder. Mein Sohn ist 22, meine Tochter ist 17. Beiden geht es gut, aber sie sind gesundheitlich auch etwas angeschlagen. Und verglichen mit mir und meinen Freunden in ihrem Alter sind sie sicher einen ganzen Kopf kleiner.

Ich weiß, dass das unangenehm ist, aber wir müssen noch einmal über deinen Gesundheitszustand reden.

Ich lasse mich darüber normalerweise ungern aus. Aber vielleicht erzähle ich doch ein wenig: 1992 bekam ich heftige Herzprobleme (Stechen, Herzrhythmusstörungen) und starke Blutdruckschwankungen. Mein ganzes Herz-Kreislauf-System war kaputt. Das geht den meisten Liquidatoren, die relativ früh vor Ort waren und noch leben, so. Neben diesen Problemen und den beiden Tumoren direkt danach verspüre ich auch heute noch ständig Schmerzen und habe eine ganze Reihe von Krankheiten. Das kommt von den verschiedenen radioaktiven Isotopen in meinem Körper.

Ich habe gelesen, dass von den 750 Soldaten des Sonderbataillons 731 nur noch 93 am Leben sind. Siehst du die manchmal noch?

Wir haben uns nach Tschernobyl verteilt und nicht mehr oft gesehen. Aber wir haben eine neue, gemeinsame Aufgabe: unsere Freunde und Kameraden zu beerdigen. Wir Liquidatoren treffen uns eigentlich nur noch zu Bestattungen. Der Krebs wildert in meinem Freundeskreis herum. Vor einem Monat habe ich Sascha, einen guten Freund von mir, zu Grabe getragen. Das war sehr schwer.

PORTRÄT: RÜDIGER LUBRICHT

Archivaufnahmen mit freundlicher Genehmigung der GRS