Das Paradies beginnt kurz hinter McDonald's. Dort, wo die chilenischen Sozialisten Salvador Allende und Pablo Neruda in Straßennamen wiedervereint sind, lässt der Bus die Plattenbauten von Berlin-Köpenick mit ihren orangefarbenen Balkonen hinter sich. Der Wald wird grüner, die Straßen breiter, die Luft besser. Nach fünf Kilometern Landstraße begrüßt schließlich das Ortsschild die Besucher und Besucherinnen: Willkommen in Müggelheim.
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Müggelheim, das ist Berlin. Aber es könnte nicht weiter von der Hauptstadt entfernt sein. Im Osten liegt Brandenburg, im Norden der Müggelsee, im Süden die Dahme, ein Nebenfluss der Spree. Keine S-Bahn, keine U-Bahn, keine Straßenbahn fährt in diesen östlichen Ortsteil. Nur die tief fliegenden Flugzeuge des nahegelegenen Flughafen Schönefeld erinnern an die Großstadt. Wer hier hinaus fährt, ist entweder einer von 6.700 hier Wohnenden, auf Durchreise, oder Journalist auf Suche nach dem Paradies.Ja, richtig: Müggelheim ist das Paradies, jedenfalls was die Kriminalität angeht. Kein Ort in Berlin ist so sicher. Nur 247 Straftaten wurden laut des kürzlich veröffentlichten Kriminalitätsatlas im vergangenen Jahr registriert. Der Alexanderplatz, einer der kriminellsten Orte Berlins, kam auf 21.103 Verbrechen. Durchschnittlich wird bloß alle 52 Tage ein Fahrrad in Müggelheim gestohlen, im gesamten letzten Jahr gab es nur einen einzigen Raubüberfall.Ist dieser Ort wirklich so dermaßen harmlos? Wir wollen es herausfinden und machen uns auf die Suche nach Kriminellen, nach Räubern, Dealern und Brandstiftern. Die Geschichte führt uns zu randalierenden Waschbären, in ein sonderbares Motel – und zu einem Doppelmord.
Ein Camper am Strand
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Erhardt, 72, und sein Hund Tommy, Alter unbekannt, kennen die Zwischenmieter des Müggelheimer Strandes. Sie kommen hier täglich vorbei. "Das sind meistens Wanderleute auf der Durchreise, die sind meistens nach zwei, drei Tagen wieder weg", sagt der Rentner. Ärger machen sie in der Regel nicht, auch wenn im Sommer schon mal ein halbes Dutzend Zelte aufgebaut seien. Wenn etwas störe, dann seien es die Strandpartys in den Sommernächten, die bisweilen etwas lauter seien. Aber: "Besser da als woanders", sagt Erhardt.Seit der Wende hat er ein Grundstück in Müggelheim. Kriminalität? Klar, ab und zu würde mal eine Laube aufgebrochen und zuletzt hätten ihm vermutlich Jugendliche das Leergut geklaut. Die Idee, dass es vielleicht auch Obdachlose aus den Zelten gewesen sein könnten, kommt ihm nicht. Mehr Ärger machen sowieso die Waschbären, die sich wie kleine Räuber durch die Mülltonnen wühlen. Oder die Wildschweine, die schlecht gesicherte Gärten umgraben. Ob man die Tiere dann nicht wegen Vandalismus verhaften sollte? "Könnt ihr ja mal versuchen", lacht Erhardt und verabschiedet sich. Tommy will weiter.
"Nachts gehe ich nicht alleine in den Wald"
In Straßen, die Himmels- oder Drachenwiese heißen, reihen sich Einfamilienhäuser mit großen Vorgärten, Carports und kitschigem Dekor aneinander. So sicher Müggelheim statistisch sein mag, so vorsichtig sind viele seiner Einwohner und Einwohnerinnen: "Privatgrundstück!", "Zutritt für Unbefugte verboten!" "Dieser Bereich wird videoüberwacht!", warnen die Schilder an Bäumen und Toren, hinter denen teilweise teure Limousinen und SUVs parken.
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Nur sechs registrierte Wohnraumeinbrüche gab es in Müggelheim im vergangenen Jahr. So viele gibt es in Bezirken wie Charlottenburg-Wilmersdorf manchmal an einem Wochenende. Schwer zu sagen, ob die häuslichen Abschreckungsmanöver dazu beitragen, dass die Zahl so niedrig ist. Oder ob die Schilder nicht doch eher die Mein-Haus-mein-Hof-mein-Hund-Einstellung ihrer Bewohner beschützen.
Anja ist dieses Territorialverhalten fremd. Die 36-Jährige zog erst vor wenigen Wochen mit ihrer Familie nach Müggelheim. Aus Hamburg. Ein "kleiner Kulturschock" sei das schon gewesen, aber sie sei auch positiv überrascht davon, wie viele junge Familien es hier doch gebe. Sie sagt, dass derzeit wieder viele junge Leute zurückkehren und das "Kleinod" Müggelheim neu entdecken. Die Sicherheit sei kein Grund für sie und ihren Mann gewesen, nach Müggelheim zu ziehen. Ausschlaggebend war dann die noch vergleichsweise bezahlbare Miete.Dass hier kein Hotspot des Verbrechens sei, habe sie schon vermutet. "Aber nachts gehe ich deshalb trotzdem nicht alleine in den Wald."
Ein Stück USA in Berlin
Im Supermarkt, sagt Anja, könne sie Tierschreck kaufen. Wenn sie Socken braucht, müsse sie aber mehrere Kilometer weit fahren. Auf der Hauptstraße sehen wir, was sie meint: drei Discounter, eine Apotheke, zwei Döner ("einer ist neu"), ein Bäcker, ein Blumenladen, eine Tankstelle. Müggelheim ist ein Dorf, das überall in Deutschland liegen könnte. Das einzige, was hier auffällt, ist ein Sheriff-Auto, das am Straßenrand parkt. Leider nur zur Dekoration; es gehört zum "Down Town Diner & Motel", dem mit Abstand extravagantesten Etablissement in Müggelheim. Früher war es eine Werkstatt für amerikanische Autos, heute ist es eine Kombination aus Motel mit Mottozimmern mit Panoramatapete, einem als Eiscafé ausgebauten US-Schulbus und einem Diner, der mit USA-Souvenirs dekoriert ist.
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Paul Albrecht betreibt das Restaurant. Wir sind bis auf drei biertrinkende Männer die einzigen Gäste. Früher war Paul im Onlinemarketing tätig, doch das viele Rumsitzen bekam ihm nicht. Diagnose: Rücken. Vor allem im Sommer laufe der Laden, sagt er. Dann, wenn Einheimische, Touristen und Motorradclubs ("nur die harmlosen") auf der Terrasse zusammenkommen. Auf eine Geschichte ist er besonders stolz: "Wir hatten einen Mann zu Gast, der seinem Sohn versprochen hatte, mit ihm in die USA zu fahren. Dann kam die Scheidung dazwischen, das Geld war knapp. Also sind die beiden für ein paar Tage zu uns ins Motel gekommen, um wenigstens ein bisschen USA-Flair schnuppern zu können."
Noch nie sei ins Motel oder den Diner eingebrochen worden, aber andere seien nicht so glücklich: Im "Café No.1" die Straße runter wurde im Mai eine Softeismaschine gestohlen, der Schaden: 45.000 Euro. Ein Auftragswerk, vermuten die Betreiber des Cafés, das am Tag unseres Besuchs geschlossen ist. Andere Theorien gab es in der Facebook-Gruppe von Müggelheim: "Da hat tatsächlich jemand behauptet, wir hätten die Eismaschine geklaut, weil wir auch Softeis anbieten", erzählt Paul Albrecht. "Was glauben die, was wir dann machen? Über Nacht drei Sorten Softeis anbieten?"Als wir den "Down Town Diner" verlassen, gibt es kurz Aufregung: Ein öffentlicher Mülleimer spuckt den Inhalt, den ein älterer Mann oben reinwirft, unten wieder heraus. Schimpfend rückt der Mann ab, den Müll lässt er auf dem Bürgersteig liegen. Auf dem Dorfanger, dem historischen Zentrum Müggelheims, hat jemand "FCK AFD" an eine Wand gesprüht. Um die Ecke steht "Anarchie" und unter einem Halteverbotsschild hat jemand demonstrativ ein oranges Bikesharing-Fahrrad abgestellt. Vielleicht sieht so der Müggelheimer Protest gegen das Spießbürgertum aus, vielleicht ist es eine der zehn Graffiti-Straftaten, die 2017 gemeldet wurden.
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Der Doppelmörder von Müggelheim
Gegen 14 Uhr springen Matthias und Flo aus einem Bus, in der Hand Flaschenbier und Paddel, die Gesichter etwas übermüdet. Sie wohnen in Köpenick, haben aber in Müggelheim ein Grundstück in der Nähe des Wassers, wo auch ihre Boote liegen. "Ich hab' mir da 'nen Smoker hingestellt und am Wochenende machen wir manchmal bisschen Party", sagt Flo. Das führe bisweilen zu kleinen Reibereien mit den älteren Nachbarn: "Die gucken immer komisch. Du kannst hier auch keine 200 Meter die Straße runterlaufen, ohne dass dich jemand beobachtet." Die Polizei sei aber noch nie gekommen, die Müggelheimer äußerten ihren Missmut lieber mit bösen Blicken. Ab und zu komme mal jemand und mache eine Ansage. "Also eigentlich ist es hier wie an jedem anderen Ort", sagt Flo. "Schlimmer", schiebt Matthias nach.Wenn sie an Kriminalität in Müggelheim denken, fallen ihnen vor allem zwei Dinge ein. Erstens: die gestohlene Eismaschine aus dem "Café No. 1". Zweitens: der Doppelmörder, der "hier um die Ecke zuschlug". Im November 2016 erschlug der im benachbarten Gosen lebende Dennis M. seine Schwiegermutter. Kurz darauf meldete er den Fund der Leiche. Bei den anschließenden Ermittlungen kam heraus, dass M. schon 2013 seine damalige Ehefrau getötet hatte. Im Februar dieses Jahres wurde der 52-Jährige zu lebenslanger Haft verurteilt.Ereignisse wie diese brennen sich in das Gedächtnis der Gemeinde ein. Während in den innerstädtischen Bezirken ein Mordfall bloß eine weitere Nummer in der jährlichen Statistik ist. In Müggelheim kannte fast jeder das Opfer, die 66-jährige Altenpflegerin, die mal zum Bäcker ging, in den Blumenladen, in den Discounter. Ihr Bungalow ist nicht mehr nur eine Adresse, sondern der Ort, "in dem die Frau erschlagen wurde". Und mit den Geschichten entsteht die Gewissheit, dass es keinen hundertprozentig sicheren Ort gibt. Auch nicht in Müggelheim.
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Nur wenige Minuten vom Ort des Verbrechens entfernt wirft Benjamin, schwarze Hose, schwarze Jacke, schwarze Union-Berlin-Mütze, die Angel aus, bevor er gleich seine Kinder von der Kita abholt. Seit einem Jahr lebt er hier mit seiner Frau und drei Kindern. Die Miet- und Häuserpreise in Köpenick seien fast nicht mehr bezahlbar gewesen, sagt er, in Müggelheim sei es gerade noch erschwinglich. Dass er nun ein bisschen weiter weg wohnt, störe ihn nicht. Der See, Wald, Natur und die Dorffeste seien auch ganz in Ordnung. Für richtige Partys könne er dann ja "nach Berlin rein" fahren, aber aus dem Alter sei er ohnehin raus. Benjamin ist 31.Gelegentlich könne man abends zwielichtige Personen beobachten, sagt er: "Manchmal sieht man Autos, die offensichtlich auf etwas warten. Wenn man sie dann genauer beobachtet, fahren sie schnell weg." Wenn es mal Stress gebe, dann liege das vermutlich an irgendwelchen Halbstarken. "Die heutige Jugend ist ja hemmungsloser", sagt Benjamin.
Die Jugend trifft sich vor dem Döner
Als der Bus kommt, strahlen die blauen Fensterläden des Heimatvereins in der Nachmittagssonne. Der Rückweg führt noch einmal vorbei an der "Down Town Garage", an den Discountern, an einem Zirkus, der hier seine Zelte aufgeschlagen hat. Es ist leicht zu vergessen, dass wir Berlin nie verlassen haben. Im Vergleich zum Stress, Suff und Siff des Alexanderplatzes wirkt Müggelheim tatsächlich wie das Paradies. Doch dann biegt der Bus nach Köpenick ab, bleibt im Berufsverkehr stehen und braucht noch fast 20 Minuten, um die S-Bahn Richtung Innenstadt zu erreichen. Vielleicht ist das der wahre Grund für die geringe Kriminalität: Müggelheim ist einfach auch für Verbrecher "janz weit draußen", wie Berlinerinnen sagen würden.Folge Eike bei Twitter und VICE auf Facebook , Instagram und Snapchat.