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Verletzungen

Haben wir die Belastungsgrenze im Fußball erreicht?

„Die Belastung für die Spieler ist zu hoch“, hat letztes Jahr Bundestrainer Joachim Löw gesagt. Stimmt das? Und was sagt die Wissenschaft dazu?
Foto: Imago

Nach gut einem Monat Pause begann Ende Januar die Rückrunde der Bundesliga. Aufgrund eines extrem harten WM-Jahres, das für viele Spieler zudem eine deutlich verkürzte Sommerpause bedeutete, hätte die spielfreie Zeit nicht einen Tag später kommen dürfen. „„Die Belastung für die Spieler ist zu hoch", sagte Bundestrainer Joachim Löw letzten Oktober. „„Die Doppelbelastung durch nationale Ligen und Champions League ist einfach zu viel. Man sieht den Spielern an, dass sie längere Regenerationsphasen brauchen."

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Die These, dass den Fußballern von heute zu viel abverlangt wird, wurde im Oktober zudem auf andere Weise gestärkt, als das damals 19-jährige Wunderkind des englischen Fußballs, Raheem Sterling, kurzfristig seine Teilnahme beim EM-Qualifikationsspiel gegen Estland absagen musste, weil er sich ausgelaugt fühlte. Daraufhin wurden ihm von allen Seiten fehlender Einsatz und mangelnde Fitness vorgeworfen. Unter den Personen, die Sterling in Schutz nahmen, befand sich auch Frank Lampard. Kein Wunder, weiß doch Lampard etwas, das vielen Fans und „Experten nicht bewusst ist: dass der Fußball auf Top-Niveau schon seit Jahren immer schneller und intensiver wird. Und Lampard, der schon seine zwanzigste Saison als Profi spielt, hat die Veränderungen am eigenen Leib erfahren.

Man muss nicht lange suchen, bis man auf Leute trifft, die einem davon berichten, wie sehr Fortschritte im Fitnessbereich den Fußball verändert haben. Doch angesichts der Tatsache, dass bekannte Trainer und Spieler—und sogar vereinzelte Teamärzte—andeuten, dass diese Entwicklung einen gesundheitlichen Preis haben könnte, drängt sich einem die Frage auf, ob wir nicht schon jetzt zu weit gegangen sind. Ist also die physische Belastung für heutige Spieler schlicht und einfach zu hoch?

Löw hat offensichtlich eine klare Meinung zu dem Thema und ist damit nicht der einzige. „„Wir müssen den Spielern endlich bessere Regenerierungsmöglichkeiten bieten", sagt Dr. Thorsten Rarreck.

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Rarreck hat bis letzte Saison als Teamarzt bei Schalke 04 gearbeitet—und das 13 Jahre lang. Als ich ihn frage, was seiner Meinung nach getan werden müsse, schlägt er vor, die Spiellänge zu verkürzen, ein Spiel in Drittel statt in Halbzeiten aufzuteilen, den Kader von 25 auf 30 Spieler zu erhöhen oder bis zu sechs Auswechslungen pro Partie zuzulassen. Er kann sich aber ein Lachen nicht verkneifen, weil er wohl weiß, dass nichts davon eintreten wird.

Foto von Mark J. Rebilas—USA TODAY Sports

Fortschritte im Trainingsbereich (und möglicherweise auch im Doping) haben Profifußball dergestalt verändert, dass er körperlich anstrengender ist als jemals zuvor.

„„Der Charakter des Fußballspiels hat sich verändert", so Oliver Schmidtlein, der als Physiotherapeut sowohl die Bayern als auch die deutsche Nationalmannschaft betreut hat. Laut Schmidtlein habe sich die Zeit, die ein Spieler zu Verfügung hat, bis er bei eigenem Ballbesitz von einem Gegenspieler angegriffen wird, in den vergangenen 15 bis 20 Jahren deutlich verringert, „von mehreren Sekunden bis zu weniger als zwei Sekunden, was für den ballführenden Spieler bedeutet, dass er pro Spiel viel mehr Zweikämpfe bestreiten muss.

„Die Spieler legen auch längere Strecken zurück: „Im Schnitt sind heutige Spieler drei Kilometer mehr unterwegs und bestreiten zehn Spiele pro Saison mehr. Außerdem gibt es in heutigen Spielen viel mehr Situationen, in denen schnelle Antritte nötig werden. Alles in allem führt das dazu, dass die Belastung viel höher ist als noch vor 10 Jahren", sagt Rarreck.

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Das Spiel ist also schneller und körperbetonter geworden. Aber was bedeutet das nun genau für die Spieler? Schwer zu sagen. Vielen geht es wohl wie Sterling, auch wenn die meisten—womöglich auf Kosten der eigenen Gesundheit—auf die Zähne beißen, schließlich winkt bei guten und vor allem konstanten Leistungen ein neuer Vertrag oder besserer Verein. Zumal es der interne Konkurrenzkampf eh verbietet, sich aufgrund „„nichtiger" Gründe krankzumelden.

Wenn der Fußball heutigen Spielern tatsächlich mehr abverlangt, könnte man davon ausgehen, dass es mittlerweile auch mehr Verletzungen geben müsste. Denn genau das ist mein Eindruck, was aber auch daran liegen könnte, dass ich in den letzten Jahren zu viele Dortmund-Spiele gesehen habe.

Glücklicherweise haben sich mit dieser Fragestellung auch schon Wissenschaftler auseinandergesetzt, und zwar mehr als zehn Jahre lang. Die Ergebnisse sind, zumindest auf den ersten Blick, alles andere als alarmierend. Laut einer mehrjährigen UEFA-Studie hat sich die Verletzungsrate bei europäischen Spitzenmannschaften (untersucht wurden nur solche Mannschaften, die an der Champions League teilgenommen haben) kaum verändert. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass sich die Art der Verletzungen dramatisch verändert hat.

Foto von Mark J. Rebilas—USA TODAY Sports

Knöchelverletzungen sind beispielsweise deutlich zurückgegangen. Der Forschungsleiter der Studie—Dr. Jan Ekstrand, ein schwedischer Orthopäde und Professor für Sportmedizin an der Universität Linköping—sagt, dass man bei Knöchelverletzungen seit den 80ern einen Rückgang von 50 Prozent verzeichnen konnte. Zudem habe sicher dieser Trend auch während des Untersuchungszeitraums fortgesetzt. Es gebe dafür verschiedene Erklärungsansätze, unter anderem ein verbessertes Schuhwerk und besser geschulte Schiedsrichter. Am wahrscheinlichsten sei aber, dass der Rückgang mit Fortschritten in der Medizin zu tun hat. Laut Ekstrand habe eine intensive Forschung in den letzten Jahren möglich gemacht, dass „Sportmediziner mittlerweile wissen, wie sie Knöchelverletzungen am besten diagnostizieren, behandeln und vorbeugen können.

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Anders sieht es hingegen bei Muskelverletzungen aus. „Sie sind häufiger geworden, „vor allem Oberschenkelverletzungen, die sind seit Beginn unserer Studie 2001 jedes Jahr um drei Prozent gestiegen", sagt Ekstrand. Drei Prozent mag sich erstmal nicht nach besonders viel anhören, aber es addiert sich eben. Und laut Ekstrand machen Verletzungen der Oberschenkelmuskulatur rund ein Drittel aller Verletzungen im Profibereich aus.

Die meisten Oberschenkelverletzungen sind Überlastungsverletzungen und passieren vermehrt am Ende einer Halbzeit, wenn sich die Spieler schon müde gelaufen haben. Zudem treten Muskelverletzungen häufiger auf, wenn zwischen zwei Partien weniger Zeit liegt.

Was kann man nun dagegen machen? Sowohl Rarreck als auch Schmidtlein sprechen sich für das sogenannte Prehab-Training (oder Prehabilitatives Training—eine Trainingsform, bei der man Verletzungen und Bewegungsproblemen bewusst vorbeugt) aus und betonen, dass das Training, zumindest im Fall von Spitzenmannschaften, mehr auf die einzelnen Spieler zugeschnitten werden müsste. Dafür müssten die Spieler individuell hinsichtlich ihrer Bewegungsfähigkeit, Geschwindigkeit, Ausdauer und anderer Parameter getestet werden, damit die medizinische Abteilung bei jedem Spieler basierend auf einem bestimmten Ausgangswert dessen Entwicklung und—im Verletzungsfall—dessen Rekonvaleszenz genau analysieren kann.

„„Ich denke, dass wir wirklich evidenzbasierte Systeme brauchen, um den Physiotherapeuten und Trainern mehr Informationen an die Hand zu geben, sodass auf diesem Wege zu jedem Spieler ein detailliertes Profil erstellt werden kann", sagt Schmidtlein. „„Bei großen Vereinen wie dem FC Bayern gibt es schon längst stark individualisierte Trainingsansätze, doch bei vielen, vielen Vereinen ist das noch nicht der Fall. Das dortige Vorgehen würde ich als rein reaktiv bezeichnen."

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Ein proaktiver Ansatz bei der Vorbeugung und Behandlung von Verletzungen wäre ein wichtiger Schritt nach vorne. Gleichzeitig muss aber klar sein, dass die Ermittlung von individuellen Ausgangswerten nicht unbedingt dabei helfen muss, die individuelle Belastung eines Spielers festzustellen. Angaben wie die während einer Saison zurückgelegte Strecke oder die Gesamtzahl an Sprints sind zwar aufschlussreich, doch diese Zahlen allein sagen noch längst nicht alles. Die Gesamtbelastung eines Spielers setzt sich aus all diesen Werten sowie aus Daten über das Herz-Kreislauf-System, der Trainingszeit, der Trainingsart und noch vielem mehr zusammen.

Wenn man die Belastung, der ein jeder Spieler im Laufe einer Saison ausgesetzt ist (sei es im Training oder im Spiel), genau und sicher messen könnte, würde das wohl dabei helfen, das Verletzungsrisiko zu senken, vor allem im Bezug auf Überlastungsverletzungen. Außerdem ist es theoretisch denkbar, eine persönliche Grenzlinie festzusetzen: Sobald ein Spieler diese Linie überschreitet, steigt sein Verletzungsrisiko deutlich an. Im Baseball gibt es schon ein „Warnsystem dieser Art. Seit den 80ern wird dort genau mitgezählt, wie viele Würfe ein Pitcher pro Saison hat. Im Allgemeinen gilt: Sobald ein Pitcher mehr als 100 Mal wirft, steigt das Verletzungsrisiko.

Alle Topvereine im europäischen Fußball bedienen sich schon heute tragbarer Technologien, um die Trainingsbelastung messen zu können. Die lustig aussehenden, eng anliegenden Westen, die Spieler im Training tragen, sind mit zahlreichen Sensoren ausgestattet, die es ermöglichen, jede Menge Daten zu sammeln, z.B. den Puls, die zurückgelegte Strecke, die Anzahl und Dauer von Sprints und noch vieles mehr. Wenn man es schaffen könnte, dass sich die Starspieler einer Mannschaft dank des Einsatzes von Technik seltener verletzen, würde das dem Verein eine Menge Geld einsparen (indem etwa keine Nachverpflichtungen getätigt werden müssen).

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Es gibt jedoch noch einige Probleme.

Die Hightech-Industrie verkauft ihre sensorbasierten Produkte zur Vermeidung von Verletzungen. Und setzt dabei auf eine gehörige Portion Gutgläubigkeit bei den Vereinen. Denn, so Ekstrand: „Man sagt zwar gerne, dass Messungen aus tragbarer Technologie dabei helfen, Verletzungen vorzubeugen, doch in Wirklichkeit gibt es keine einzige Studie, die das belegt. Und sie ist der Grund dafür, dass kein Konsens darüber besteht, wie man Belastung misst."

Vereine sammeln Unmengen von Daten, aber keiner weiß, welche von diesen Daten wirklich wichtig sind. „„Außerdem", so Ekstrand weiter, „„gibt es keine gesicherten Daten darüber, wie Belastung und Verletzungen genau zusammenhängen. Schaut man sich zum Beispiel Oberschenkelverletzungen an, kann ein Verein damit rechnen, dass in den ersten drei Monaten einer Saison bei einem Kader von 25 Spielern zwischen sechs und acht Spielern aufgrund von Oberschenkelverletzungen ausfallen werden. Um aber an robuste Daten zu kommen, bräuchte man 10 Mal so viele Verletzungen und zehn Mal so viele Messungen. Also ist der Datensatz von nur einem Verein nicht ausreichend."

Laut Ekstrand weigern sich Fußballvereine, ihre Datensätze miteinander auszutauschen, was dazu führt, dass am Ende niemand über aufschlussreiche Daten verfügt. Analysten auf der ganzen Welt versuchen schon seit Jahren, nach ihren Erfolgen im Baseball auch beim Fußball einen Fuß in die Tür zu kriegen. Vor allem bei einer umfassenden Analyse der biometrischen Daten könnte man mit aussagekräftigen Ergebnissen rechnen.

Doch bis die nötigen Datensätze vorliegen und man mit Sicherheit weiß, welche Daten wirklich relevant sind, bleibt die Grenzlinie zwischen dem, was physisch möglich ist, und dem, was noch gesund ist, ein einziges Ratespiel. Sicher ist nur, dass das Spiel von sich aus nicht langsamer und weniger körperlich anstrengend werden wird. Interessant wird es nur, wenn es irgendwann nicht mehr genug Topspieler geben sollte, die gesund und fit genug sind, um die körperlichen Belastungen des heutigen Fußballs auf Dauer auszuhalten.

Auch wenn eine technologische Lösung vorerst noch Zukunftsmusik ist, bleibt Ekstrand zuversichtlich, dass die Medizin in der Zwischenzeit die Behandlungsmethoden für Fußballerverletzungen weiter verbessern wird. „„Wie bereits erwähnt, gab es in den letzten 15 Jahren große Fortschritte in der Fußballmedizin", sagt er kurz vor Ende unseres Interviews. „„Und das ist vor allem der Verdienst der FIFA und der UEFA, die sich zum Thema Spielergesundheit und Verletzungsprävention extrem viele Gedanken gemacht haben und die zu diesem Zweck auch die Forschung finanziell unterstützt haben. Und ich würde sagen, dass Fußball die weltweit führende Sportart ist, wenn es um sportspezifische Gesundheitsforschung geht. Wird unser Interview auch in den USA veröffentlicht?"

„„Ja", sage ich.

„„OK, das ist kein Problem für mich. Sie können die Aussage gerne stehen lassen. Das wird die NFL zwar erzürnen, aber dann müssen sie wenigstens irgendwie reagieren."