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Judenfeindlichkeit

Grüner-Jungpolitiker wird Zeuge eines antisemitischen Angriffs in Hannover

"Bist du auch so ein Drecksjude? Ich bin Nazi, hast du was dagegen?"
Fotos des Holocaust-Mahnmal in Hannover, darüber das Bild eines Tweets
Foto: Holocaust-Mahnmal | imago | Streiflicht-Pressefoto || Screenshot: Twitter | @Dzienus || Montage: VICE

Gerade einmal zehn Tage ist es her, dass die EU-Grundrechteagentur die erschreckenden Ergebnisse einer europaweiten Umfrage unter Juden und Jüdinnen vorgestellt hat. 89 Prozent der in Deutschland lebenden Befragten gaben an, der Antisemitismus habe sich in den letzten fünf Jahren verschlimmert. Jeder Zweite habe in der Zeit Judenfeindlichkeit in Deutschland erlebt. Das sind höhere Zahlen als in allen anderen untersuchten EU-Ländern. Wie sich Antisemitismus anfühlt, können nicht-jüdische Menschen dabei kaum nachfühlen. Aber der am Dienstag veröffentlichte Twitter-Thread von Timon Dzienus, dem 22-jährigen Sprecher der niedersächsischen Jungen Grünen, zeigt, wie aggressiv Antisemitismus in Deutschland sein kann.

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Gerade erst am Montag hatte eine Gedenkfeier zur Deportation von Juden und Jüdinnen aus Hannover am Holocaust-Mahnmal am Opernplatz stattgefunden. Zum Gedenken wurden Anfang der Woche Blumenkränze am Mahnmal abgelegt. Genau diese habe am Dienstagabend ein etwa 20-jähriger Mann auseinandergenommen, so Timon gegenüber VICE. Er selbst sei mit dem Fahrrad am Mahnmal vorbeigefahren. "Dabei habe ich gesehen, wie er aus einem der Kränze Blumen ausgerissen hat", erzählt er.

Als der Randalierende Timon gesehen habe, habe er sich über ausländische Rosenverkäufer lustig gemacht und ihn mit imitiertem Akzent gefragt, ob er Rosen kaufen wolle, schreibt der Jungpolitiker auf Twitter. Timon habe sein Fahrrad angehalten und den Mann zunächst freundlich, aber entschieden unterbrochen. "Es hätte sein können, dass er nicht wusste, was er da tut", erklärt der Jungpolitiker im Gespräch mit VICE. Viele Jugendliche würden am Holocaust-Mahnmal rumhängen und es als Fotokulisse nutzen, ohne den historischen Hintergrund ausreichend zu kennen. "Deswegen wollte ich darauf hinweisen, dass sein Verhalten nicht geht", so Timon. Doch die Reaktion des Mannes dürfte gezeigt haben, dass ihm der Hintergrund des Mahnmals sehr wohl bewusst war.

"Er fragte mich, ob ich 'auch so ein dreckiger Jude' sei", erklärt Timon. Dann habe der Mann gesagt, "dass er ein Nazi ist und ob ich ob ich etwas gegen Nazis hätte". Dabei sei er Timon immer näher gekommen und habe weiter antisemitische Parolen skandiert. "Man sollte so etwas [wie den Holocaust] nochmal tun", zitiert der Grünen-Politiker den fremden Mann. Eine etwa zehnköpfige Gruppe in der Nähe habe sich nicht solidarisiert oder sei eingeschritten. "Ich dachte mir, dass ich aufs Maul kriege, wenn ich nicht verschwinde", erzählt Timon. Also sei er weitergefahren.

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Als der Jungpolitiker zurückkam, war auch ein anderer Passant eingeschritten

Einige Minuten später sei er dennoch zurück zum Mahnmal gefahren, um einzuschreiten, sagt Timon. In der Zwischenzeit habe auch ein anderer Passant in die Situation eingegriffen und die Polizei verständigt. Offenbar auch, weil der mutmaßliche Antisemit am Mahnmal getrunken hatte. "Ich rief auch die Polizei", schreibt Timon bei Twitter. Zehn Minuten später sei er mit vier Einsatzkräften zu dem immer noch pöbelnden Mann zurückgekehrt. "Ich habe Anzeige erstattet wegen Volksverhetzung, Relativierung von NS-Verbrechen und Beleidigung", so Timon.

Ein Pressesprecher der Polizei Hannover bestätigte per E-Mail gegenüber VICE, dass es einen entsprechenden Vorfall gegeben habe: "Die Polizei war am Dienstag gegen 20:15 Uhr am Opernplatz am Holocaust-Mahnmal im Einsatz", so der Polizei-Sprecher. Es sei ein Strafverfahren wegen Volksverhetzung gegen einen 19-Jährigen eingeleitet worden. Die Ermittlungen dauerten an. Dennoch befürchtet Timon, seine Anzeige und die Arbeit der Polizei seien eher Symptombekämpfung für ein größeres Problem.

"Ich will nicht, dass die Stadt repressiv gegen alle Leute vorgeht, die am Mahnmal rumhängen", sagt Timon im Gespräch mit VICE. Er fände es zwar fragwürdig, wenn Holocaust-Mahnmale als Selfie-Hintergründe genutzt werden. Das eigentliche Problem sei aber eher strukturell. "In Deutschland gibt es auch heute noch Antisemitismus und körperliche Angriffe gegen Juden." Seine Anzeige bei der Polizei helfe dabei auch nur bedingt, so Timon. "Gegen Antisemitismus, Rassismus oder Sexismus sollten sich alle solidarisieren."

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