Drogen

Wie ein Brot eine ganze Insel jahrelang halluzinieren ließ

Ohne es zu wissen, waren die Bewohner der winzigen italienischen Insel Alicudi quasi auf LSD. Erst durch Touristen wurden die bizarren Umstände erklärt.
Andrea Strafile
Rome, IT
Ein Graffiti auf der italienischen Insel Alicudi zeigt eine fliegende Frau, Roggenähren mit Mutterkornbefall und einen Hasen und spielt damit auf die dort auftretenden LSD-Halluzinationen an
Ein Graffiti auf der Insel Alucudi | Alle Fotos: Paolo Lorenzi

Während seiner Reisen im Jahr 1835 schrieb der französische Autor Alexandre Dumas über die kleine Vulkaninsel Alicudi nördlich der Küste Siziliens: "Es ist schwer, einen traurigeren, miserableren und einsameren Ort zu finden als diese bedauernswerte Insel. Sie ist eine Ecke der Welt, die bei der Schöpfung vergessen wurde."

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Ganz Unrecht hat Dumas nicht. Alicudi ist geprägt von schroffem Fels, liegt weit draußen im Tyrrhenischen Meer und hat nur wenige Bewohner. Auf der Insel gibt es keine Autos, den einzigen bewohnten Teil erreicht man nur über steile Treppen, die in den Fels gehauen wurden. Die Leute dort – zum Großteil Fischer oder Ziegenhirten – brauchen Esel, um schwere Lasten zum Dorf zu bringen. Aber trotz der winzigen Größe und der unnachgiebigen Landschaft hat Alicudi schon viel von sich reden gemacht – und das nicht wegen der wilden Natur oder der friedlichen Stille.

Irgendwann zwischen 1903 und 1905 bekamen die Bewohner von Alicudi plötzlich Halluzinationen: Hexen, die an einem abgelegenen Strand ein Festmahl feiern, sprechende Kartoffelsäcke, Frauen, denen Flügel wachsen und die dann zum Einkaufen nach Sizilien fliegen, Geister, Clowns und weiche Kieselsteine, die vom Himmel fallen. Experten glauben, dass diese Visionen mit dem Brot zusammenhingen, das man damals auf Alicudi aß.

Ein Mann steht vor der italienischen Insel Alicudi auf seinem kleinen Fischerboot

Viele der Bewohner von Alicudi verdienen ihr Geld mit dem Fischen

Damals war Roggen ein wichtiger Bestandteil der lokalen Ernährung und wurde beim Brot- und Keksebacken verwendet. Roggen wird aber oft vom Mutterkornpilz befallen. Wenn das passiert, wachsen an den normalerweise hellbraunen Ähren des Getreides schwarze "Schläuche". Mutterkorn enthält ein Alkaloid namens Lysergsäure, aus dem auch LSD gemacht werden kann. Anders gesagt: Wer Mutterkorn isst, dem brennen richtig die Synapsen durch.

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Die Bevölkerung von Alicudi war schon immer eher arm, deswegen waren Essen und Lebensmittel nichts, das man einfach wegwarf. Also wurde der vom Mutterkornpilz befallene Roggen – wegen der schwarzen Farbe im lokalen Dialekt als "tizzonara" (auf Deutsch so viel wie "Asche") bezeichnet – trotzdem zu Mehl verarbeitet. Es ist möglich, dass die Lagerräume auf der Insel so jahrzehntelang kontaminiert waren.


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"Es scheint, als seien es die Briten gewesen, die den Pilz auf die Insel brachten", sagt Paolo Lorenzi. Der Anthropologe hat vor drei Jahren acht Monate auf Alicudi verbracht, um seine Masterarbeit über das Thema zu schreiben. "Sie wollten hier Malvasier-Weintrauben kaufen, um daraus Sherry und Absinth herzustellen." Zwar betrieben die britischen Schiffe ihren Handel mehr in den größeren Häfen von Messina und Palermo, aber auf dem Weg sind sie auch an Alicudi vorbeigekommen.

Laut Lorenzi gehen andere Experten aber davon aus, dass der Mutterkornbefall schon lange vor Anfang des 19. Jahrhunderts begann und danach noch lange anhielt. Die Anthropologin Macrina Marilena Maffei, die sich auf Mythen und Legenden der Liparischen Inseln spezialisiert hat, hat in den 90er Jahren ältere Bewohner von Alicudi interviewt. Sie glaubt, dass Mutterkorn früher ganz normal auf der Inselgruppe war und dass der Befall gar Jahrhunderte zurückgehen könnte.

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Ein Graffiti auf der italienischen Insel Alicudi zeigt eine fliegende Frau, Roggenähren mit Mutterkornbefall und ein Schwein und spielt damit auf die Halluzinationen an

Ein Graffiti auf Alicudi spielt auf die Halluzinationen an

In der kleinen und isolierten Insel-Community erzählten sich die Leute gegenseitig von ihren Visionen. Manche glauben noch heute, dass es die Hexen und Geister wirklich gab. Anderes abergläubisches Denken von der Insel existiere heute ebenfalls noch, wie es in der Dokumentation L’Isola Analogica – auf Deutsch so viel wie "Die analoge Insel" – heißt. Der Name der Doku bezieht sich dabei nicht nur auf den technologiearmen Alltag auf der Insel, sondern auch auf die dortige komplizierte Beziehung zur Realität, den Hang zum Aberglauben.

An einem der höchsten Punkte von Alicudi befindet sich zum Beispiel eine Kirche für den heiligen Bartholomäus, die man nur über 820 Treppenstufen erreicht. Irgendwann haben die Bewohner die Statue des Heiligen aber in eine andere Kirche näher zum Dorf gebracht. Heute sagt man, dass zwischen dem 20. und 24. August – also den Tagen, die dem heiligen Bartholomäus gewidmet sind – vermehrt schlimme Unfälle auf der Insel passieren, zum Beispiel ertrinken Taucher und Touristen stürzen auf den Klippen in den Tod. Viele Bewohnerinnen und Bewohner glauben, dass es nur zu solchen Unglücken kommt, weil Bartholomäus mit seinem neuen Zuhause nicht zufrieden ist.

Alicudi wird auch oft von heftigen Winden getroffen, die sich ganz plötzlich bilden und die Bewohner überraschen. Laut einer Legende gibt es aber eine magische Formel, mit der die Leute den Wind waagerecht in zwei Stücke teilen und so auflösen können. Die Formel wird nur ausgewählten Mitgliedern der Community beigebracht und so von Generation zu Generation weitergegeben – meistens am Heiligabend.

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Ein älterer Mann steigt die Stufen zum höchsten Punkt der italienischen Insel Alicudi hinauf

Die Stufen, die zum höchsten Punkt der Insel führen

"Wenn du hier vor 30 Jahren hergekommen wärst, hättest du schnell gemerkt, dass die Realität hier anders abläuft", sagt ein anonymer Bewohner von Alicudi in der Dokumentation. Obwohl die meisten Geschichten aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts stammen, geht man weithin davon aus, dass mehrere Generationen mit Mutterkorn befallene Roggenprodukte gegessen haben.

Da die Bewohnerinnen und Bewohner der Insel nicht wussten, dass sie den Bestandteil eines Psychedelikums essen, waren sie auch nicht auf die Halluzinationen vorbereitet. So hat sich die Erfahrung für sie noch realer und intensiver angefühlt. "Um bei einem LSD-Trip die Kontrolle zu behalten, ist einiges an Können nötig. Aber dieses Können haben die Leute dort nicht mehr verlernt", sagt der Mann in der Dokumentation.

Ein in eine Decke gehüllter Mann sitzt auf einem Fischerboot vor der italienischen Insel Alicudi und starrt in die Ferne

Ein Fischer aus Alicudi

In den 50er Jahren habe sich dann aber alles verändert, so der Anthropologe Lorenzi. Denn da hieß die Insel die ersten Touristen willkommen.

"Wegen der mystischen und abgeschiedenen Lage wurde Alicudi zu einem Hippie-Hotspot", sagt Lorenzi weiter. Die Hippies hörten sich die Geschichten der Inselbewohner an und erkannten sofort die Anzeichen für einen LSD-Trip. "Für die Bewohner war das Ganze völlig normal. Erst durch die Touristen wurde ihnen klar, dass das nur psychedelische Halluzinationen gewesen waren", erklärt Lorenzi. "Heute sind ihre Geschichten also sowohl von wissenschaftlichen Erklärungen als auch von ihrer eigenen magischen Perspektive beeinflusst."

Die örtliche Kirche erklärte das Roggenbrot schließlich zum "Brot des Teufels". Daraufhin wurde es auf der Insel nicht mehr gegessen und verschwand in den 60er Jahren komplett. Aber auch noch Jahrzehnte später erzählen die älteren Bewohner von Alicudi die Geschichten von den bizarren Visionen.

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