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Meine Generation Tipico—wenn im Freundeskreis nur noch die Quote zählt

Jeder zehnte Jugendliche wettet auf Fußballspiele. Der Gedanke dahinter ist einfach: Fußballfans würden am liebsten mit Fußball Geld verdienen. Unser Autor erzählt uns von sich und seinem Freundeskreis, der längst schon der Quote verfallen ist.
Foto: Johannes Kuczera

Die Uhr tickt: 90+1,90+2,90+3, eine letzte Ecke, Abpfiff! Der SC Paderborn und der SV Sandhausen trennen sich 0:0, ein müder Montagabend-Kick in der zweiten Liga. Während ich meine Fernbedienung vor Wut gegen die Wand schmeiße, verschwinden die Spieler im Kabinentrakt, ohne dass sie wissen, was sie mir angetan haben. Eigentlich könnte mir das Spiel völlig egal sein. Trotzdem sitze ich frustriert vor dem schwarzen Bildschirm meines Fernsehers.

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Der Grund dafür liegt vor mir auf dem Tisch: ein Tippschein. Es wäre zu schön gewesen, denke ich mir mit einem Blick auf den Zettel: BVB gegen den HSV —über 2,5 Tore: geschenkt. Die Bayern zuhause gegen Schalke—Torschütze: Lewandowski. Ein Idiot, wer die 2,1-Quote nicht mitnimmt. Darmstadt auswärts in Leverkusen—Doppelte Chance X oder 2. No risk, no fun! Komm, einer geht noch: Sandhausen gewinnt in Paderborn, keine Ahnung wer da spielt, aber wird schon. Zwanni rauf und ab dafür. 600 Euro winken am Ende des Abends.

Von Spiel zu Spiel, von Tipp zu Tipp steigt meine Zuversicht. Fein säuberlich markiere ich jedes richtige Ergebnis mit einem Häkchen auf meinem Wettschein. Nur noch Paderborn gegen Sandhausen, ausgerechnet das letzte Spiel, das meinem Glück noch im Weg steht, geht 0:0 aus. „So eine Scheiße", ärgere ich mich und zerreiße das Stück Papier. 600 Euro gehen mir durch die Lappen. Ich hätte die 20 Euro aber auch für sinnlosere Sachen wie Zigaretten oder Alkohol ausgeben können, beruhige ich mein Gewissen. Mund abwischen und weitermachen heißt die Devise. Es kommen auch wieder bessere Zeiten.

So wie beim ersten großen Gewinn. Ein Freitagabend im Oktober 2011, EM-Qualifikation. 15 Euro Einsatz, zur Sicherheit auf drei Wettscheine gestreut, 90 Minuten, 700 Euro Ausbeute. Nervös kaute ich an meinen Fingernägeln, während ich auf der Geburtstagsparty eines Freundes alleine in der Ecke saß. Nur noch Augen für meinen Handy-Liveticker, kaum ansprechbar, kaum in der Lage, mein Glück in Worte zu fassen, als der Ball endlich ruhte.

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Ich erinnere mich noch genau, wie ich am nächsten Tag sämtliche Einkaufsläden in meiner Umgebung abklapperte, um das gewonnene Geld schnell wieder loszuwerden. Beim Abholen meines Gewinns konnte ich der Verlockung nicht widerstehen, den erste Hunni direkt wieder in den Automaten zu schmeißen.

Das Ergebnis meines Kaufrauschs: ein blaues Paar New-Balance-Sneaker und ein iPod Touch. Stolz lief ich mit meinen neuen Trophäen durch die Gegend und verkündete großspurig: Ich werde jetzt von Tipico gesponsert. Vom Wettvirus infiziert, dachte ich mir: Das ist erst der Anfang. Was kommt als Nächstes, ein Urlaub, das erste Auto?

Eine Hoffnung, die ich mit vielen meiner Freunde in der Schulzeit teilte. Angetrieben vom ersten Gewinn setzten wir all unser Erspartes auf Fußballspiele. Drei-, manchmal sogar viermal die Woche radelten wir in der großen Pause zum Wettanbieter unseres Vertrauens und standen mit gebanntem Blick vor den—mit Flachbildschirmen gepflasterten—Wettbürowänden. Zurück im Unterricht tüftelte ich mit meinem Sitznachbar neue Strategien aus, die uns langfristigen Erfolg bringen sollten. Hohe oder niedrige Einsätze, Kombi- oder Systemwetten, Amateure oder Profis, Eckenverhältnis oder gelbe Karten?

Foto: Imago

Laut einer Studie wettet jeder zehnte Jugendliche mittlerweile auf Sportereignisse. Die Jüngsten sind 13 oder 14 Jahre alt. Ob 5-, 10- oder 20-Euro-Scheine, ob Taschengeld, Nebenjob oder Zeugnisgeld von der Oma, ist dem Automaten egal. Er verschlingt den Schein wie ein hungriges Raubtier. Immerhin habe ich hier das Geld, das meist für immer den Besitzer wechselt, noch in der Hand. Anders ist es beim Online-Spielen, wo sich mühelos und unabhängig von Uhr- und Ortszeit zocken lässt.

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Das richtige Feeling lässt sich so allerdings nicht erzeugen: Der Besuch einer runtergekommenen, spärlich beleuchteten Spelunke, in der die immer gleichen ominösen Gestalten herumsitzen, Kaffee und Tee statt Alkohol trinken—es hat sich nicht umsonst der Begriff „Wettbüro" und nicht „Wettlokal" durchgesetzt—ist Teil des Erlebnisses.

Selbst ein langweiliger Grottenkick wie Paderborn gegen Sandhausen sorgt bei mir mittlerweile für Herzrasen und schwitzige Hände, solange die Einsätze nur hoch genug sind. Wenn Fußball schon nicht immer unterhaltsam sein kann, muss sich ja wenigstens Profit daraus schlagen lassen. Ordentlich abkassieren, obwohl es zur Profikarriere nicht gereicht hat, eine verlockende Vorstellung, nicht nur für die Spieler.

Der Wettanbieter Tipico erwirtschaftete im vergangenen Jahr einen Umsatz von 2,5 Milliarden Euro. Mit Wetteinsätzen von mehreren Tausend Euro und hohen Verlusten habe ich das Unternehmen in den letzten Jahren kräftig unterstützt. Die steigenden Umsätze sorgen auch dafür, dass Glücksspielkonzerne aus der Fußballberichterstattung nicht mehr wegzudenken sind. Olli Kahn wünscht als „Tipico-Markenbotschafter" in der Werbepause allen Spielern ein glückliches Händchen. Die österreichische Liga heißt sogar „Tipico Bundesliga". Um die junge Zielgruppe zu ködern, zieht der Anbieter alle Register, von kostenlosen Kugelschreibern bis Kindheitshelden.

Noch schnell einen Schein machen und dann mit den ebenso tippsüchtigen Freunden Bundesligakonferenz gucken. Freud und Leid liegen hier nah beieinander. Wer wusste, dass die Bayern in der ersten Halbzeit kein Tor schießen? Wer hatte auf dem Zettel, dass die torarmen Hamburger innerhalb weniger Minuten gleich zweimal zuschlagen? „Ich hab's euch doch gesagt", sagt einer. „Warum hast du es dann nicht getippt?", fragt ein anderer.

Sportwetten haben die Dynamik in unserem Fußballfreundeskreis verändert. Fußballkompetenz wird nun messbar und wertvoll. Das ultimative Rennen um den absoluten Fußballfachmann hat begonnen. Gefordert wird allerdings nicht nur umfangreiches Fußballwissen, sondern auch ein goldenes Näschen und Mut zum Risiko.

Zu beachten gilt es nur ein ungeschriebenes Gesetz, den sogenannten Ehrenkodex. Egal wie gut die Quote ist, egal wie sicher das Bauchgefühl: Es wird nie gegen den eigenen Verein gewettet. Geld verdienen mit dem Unglück der eigenen Elf verstößt gegen das Moralverständnis eines jeden Spielers.

Ähnlich wie diese Regel kennt auch jeder Tipper die Geschichten des einen großen Coups seiner Tippfreunde, bei manchen sogar mehrere Tausend Euro. Dieser Gewinn liegt meist Jahre zurück, wird sich aber immer wieder zur Verarbeitung aktueller Pechsträhnen ins eigene Gedächtnis und das der anderen gerufen.

Viertel nach fünf, die Bundesliga-Konferenz ist vorbei. Lange Gesichter, ernste Mienen. Schon wieder nichts gewonnen, schon wieder war es unfassbar knapp. Da hilft nur noch eins: Druck ablassen und pöbeln. Über den Scheißstürmer, der den Elfmeter verschossen hat, über den blinden Schiedsrichter, der das Abseits nicht gesehen hat, und generell und überhaupt war das wieder eine Riesenfrechheit. Nichts ist mehr wie früher, stelle ich fest. Der Spaß, die bloße Freude am Spiel ist verloren gegangen. Das sind die Auswirkungen des modernen Fußballs, denke ich mir. Die Spielergehälter, die Eintrittspreise, und die nervige Werbung überall, es geht echt nur noch ums Geld. In meiner Generation auch.