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working class hero

Jamie Vardy: Vom Diskoschläger zum Rooney-Nachfolger

Noch vor wenigen Jahren war Vardy der englischen Nationalmannschaft so nah wie seine kugelrunden Saufkumpanen. Jetzt führt der Leicester-Stürmer überlegen die Torjägerliste an. „Working Class Hero" lässt grüßen.
Foto: Imago

Arsène Wenger beschäftigt sich nicht nur leidenschaftlich gerne mit seiner eigenen Mannschaft, dem FC Arsenal, er zerbricht sich auch schon mal den Kopf über weitreichendere Fußballfragen. Im September etwa gab er seine Gedanken zum chronischen Stürmermangel in Europa zum Besten. „Schaut man sich den Weltfußball an, ist Südamerika der einzige Kontinent, der noch Stürmer hervorbringt. Fast 80 Prozent von ihnen kommen aus Südamerika." Warum das so ist? Weil laut Wenger der Straßenfußball in unserer Kultur mittlerweile Geschichte sei und das Gros der heutigen Jugendspieler davon träumt, zu einem Mittelfeld-Edeltechniker zu reifen.

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Do you ever stop fucking running? (José Mourinho zu Vardy)

Dabei hätte Wenger in seiner Aussage ruhig Platz für eine Ausnahme (und aktuelle Ausnahmeerscheinung) lassen können: Jamie Vardy. Warum? Weil Vardy das Paradebeispiel eines „guten alten" Stoßstürmers ist, also der Kategorie von Angreifer, die akut vom Aussterben bedroht zu sein scheint. Doch damit nicht genug, der 28 Jahre alte Leicester-Stürmer gilt außerdem als Musterexemplar eines fußballerischen Spätstarters und englischen „working class hero". Denn noch vor rund drei Jahren spielte er bei Fleetwood Town sage und schreibe fünftklassig. Mittlerweile ist er aber in der Premier League angekommen, führt dort die Torschützenliste souverän mit 12 Buden an und ist englischer Nationalspieler. Was ist denn da passiert?

Erst Fußfessel, dann wie entfesselt

Als Vardy im Alter von 16 Jahren bei Sheffield Wednesday wegen zu geringer Körpergröße aussortiert wurde, schien es, dass seine Karriere schon beendet war, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen hat. Er selbst schien auch nicht mehr an eine Fortsetzung zu glauben und endete nach einem kurzen Abstecher aufs College schon bald in der Normalo-Jobwelt. Der Sohn eines Arbeiters heuerte in einer Prothesenfabrik an, wo seine Hauptaufgabe darin bestand, schwere Kohlefaserstücke Richtung Ofen zu schleppen. Unter der Woche Malocher, am Wochenende dann mit seinen Jungs in den Pubs und Clubs der Stadt unterwegs. Bei einem dieser Nachtausflüge geriet er in eine Schlägerei, nachdem sich andere Gäste über einen hörgeschädigten Freund von ihm lustig gemacht hatten. Aufgrund einer Verurteilung wegen Körperverletzung musste er dann eine elektronische Fußfessel tragen. Die behinderte dann für eine Weile seine zweite fußballerische Laufbahn als Amateurkicker bei Stocksbridge Park Steels (aufgrund einer Ausgangssperre nach sechs konnte er die meisten Auswärtsspiele nicht bis zum Ende bestreiten).

Denn auch wenn er mit dem Kapitel Profifußball bereits abgeschlossen hatte, konnte er dennoch nicht die Füße vom Ball lassen. Und vom Tore schießen. In 107 Spielen gelangen ihm beachtliche 66 Tore für den Achtligisten, bis dann Halifax Town anklopfte. Dort kam er in nur einer Saison auf 29 Tore, was wiederum Begehrlichkeiten beim Fünftligisten Fleetwood Town weckte. Der war dann 2011 bereit, rund 200.000 Euro für die Dienste Vardys zu überweisen. Eine unfassbare Summe für den Amateurbereich, vor allem wenn man bedenkt, dass es sich nicht um ein 16-jähriges Supertalent, sondern um einen vorbestraften 24-Jährigen handelte.

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Leicester-Fans wissen ganz genau, dass Vardy früher keine Party ausgelassen hat

Noch ein Jahr zuvor hatte er vom Fernseher aus verfolgen müssen, wie die gleichaltrigen Aaron Lennon und Joe Hart bei der WM 2010 in Südafrika England vertreten durften. Zu dem Zeitpunkt war er einer Einladung zur Nationalmannschaft wohl genauso nahe wie seine kugelrunden Sitznachbarn in den Pubs von Stocksbridge.

Seit seinem ersten Tag bei Leicester bin ich sein größter Fan. Er verkörpert all das, was ich an Fußball liebe. (Kasper Schmeichel, Torwart von Leicester)

Doch auch bei Fleetwood schoss Vardy weiterhin Tore wie am Fließband und hatte maßgeblichen Anteil daran, dass der Verein aus dem Nordwesten Englands erstmals den Aufstieg in die Football League, den prestigeträchtigen Unterbau der Premier League, schaffte. Also hätte auch Vardy ab der Saison 2012/13 zum ersten Mal in der vierten englischen Liga kicken können. Doch es kam anders. Und zwar viel besser. Für die ligainterne Rekordsumme von 1 Million Pfund wechselte er zum damaligen Zweitligisten Leicester City und zahlt seit diesem Tag das Vertrauen in seine Person mit reichlich Toren zurück. Tore, die auch Fleetwood im Nachhinein finanziell zugutekommen. Denn deren Vorstandsvorsitzender Andy Pilley soll fast schon hellseherisch darauf gepocht haben, eine Extraklausel in den Vertrag schreiben zu lassen: Sollte Vardy jemals für die Three Lions spielen, würde Fleetwood ein Handgeld aus Leicester in Höhe von mehreren hunderttausend Euro zustehen.

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Englands neuer erster Stürmer?

Fleetwoods Plan ging auf. Im Juni dieses Jahres wurde Vardy für Rooney gegen Irland eingewechselt und feierte so sein Nationalmannschaftsdebüt. Dieser Wechsel könnte übrigens auch sinnbildlich für eine allgemeinere Entwicklung bei den Three Lions sein. Denn Rooney, obwohl erst 30 Jahre alt, scheint seinen Zenit schon überschritten zu haben. In der diesjährigen Premier-League-Saison kommt er auf mickrige zwei Treffer, also zehn weniger als Vardy. Natürlich kann Vardy mit seinen 28 Jahren nicht die Zukunft der englischen Nationalmannschaft darstellen. Doch für ein paar Jahre sollte es noch locker reichen können, weswegen sich die Rooneys, Sturridges und Walcotts wohl warm anziehen müssen. Zumal sich Vardy in den Jahren zwischen 16 und 25 fußballerisch nicht unbedingt verausgabt hat.

Er kann seine Erfolgsgeschichte selbst noch nicht fassen. Foto: imago/BPI

„Do you ever stop fucking running?" Dieses Zitat stammt von einem genervten José Mourinho, als der nach einem Spiel gegen Leicester im Spielertunnel auf Vardy traf. Und bringt die Spielweise Vardys perfekt auf den Punkt. Der spielt nämlich giftig, schnörkel- und kompromisslos und gibt keinen Zweikampf verloren. Ein ganzer Arbeiter, also. Überraschen sollte das aber eigentlich niemanden. Denn wer seinen Traum vom Profifußball schon verloren geglaubt hatte, der ist sich jetzt nicht zu schade, auch noch in der 85. Minute im Vollsprint einem schier unmöglichen Ball hinterher zu rennen. Warum? Weil er einfach glücklich und dankbar ist, in der Premier League überhaupt einem Ball hinterher rennen zu dürfen. Es ist seine bemerkenswert andere und alles andere als gradlinige Biografie, die ihn heute als Spieler prägt. Was ihm auch selbst bewusst ist:

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„Ich war gezwungen, meinen eigenen Weg zu gehen. Das Tolle am Fußball ist aber, dass immer wieder neue Möglichkeiten entstehen, Sachen gerade zu rücken und sein Talent zu verwirklichen. Ich will nichts von meinen bisherigen Erfahrungen missen, denn sie haben mich zu dem gemacht, der ich heute bin. Hätte ich irgendeine elitäre Jugendschmiede durchlaufen, wäre das alles vielleicht nie passiert."

Vor Kurzem wurde Vardy zum besten Premier-League-Spieler im Monat Oktober ausgezeichnet. Zum letzten Mal wurde einem Leicester-Kicker diese Ehre vor 15 Jahren zuteil. Seine Anhängerschaft ist in den letzten Jahren stetig angewachsen, und das obwohl—oder eher gerade weil—er nicht gerade zum skandalfreien Vorbild taugt. Seinen Mannschaftskameraden Kasper Schmeichel, Stammtorwart bei der dänischen Nationalmannschaft, musste er auf jeden Fall nicht lange von seinen Qualitäten überzeugen:

„Seit seinem ersten Tag bei Leicester bin ich sein größter Fan. Er verkörpert all das, was ich an Fußball liebe, seine Aggressivität, seine Mentalität, seine Eigenschaft, sein Einsatz für das Team."

Es sieht fast so aus, als müsste der englische Fußball den kurzsichtigen Herrschaften von Sheffield Wednesday am Ende sogar dankbar sein.