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Scholl und Rauch

Ich halte nicht noch ein Turnier mit “Experte” Scholl aus

Mein einstiges Idol Mehmet Scholl hat den Sprung zur Fußballanalyse der Gegenwart verschlafen. Stattdessen kaut er Bauchmeinungen und Anekdoten wieder – und nervt nur noch.
Foto: Imago/Camera

"Kein Foul. Bei der Entscheidung hätte ich keinen Videobeweis gebraucht, aber Gott sei Dank bin ich Spieler geworden und nicht Schiedsrichter". So analysiert Mehmet in wenigen Sätzen einen Zweikampf, über den die Sportschau 90 Minuten rätselte. Ich denke nur: "Mehmet, du bist auch Fernsehexperte geworden. Gib mir gefälligst alle Argumente, warum es doch ein Foul sein könnte oder nicht. Kurz: Mach deinen Job!"

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Mit dem Spieler Mehmet Scholl verbinde ich meine Kindheit. Der beste deutsche Straßenfußballer der Neunziger war auf dem Cover meiner ersten Bravo Sport und der erste Fußballspieler überhaupt, von dem ich eine Autogrammkarte ergattern konnte. Dazu verkörperten Mehmets Sprüche mein Sinnbild für jugendliches Rebellentum.

Als ARD-Experte arbeitet Mehmet im Moment daran, sein Heldendenkmal in meinem Kopf wieder abzureißen. Als ab dem Halbfinale im Confed-Cup Thomas Hitzelsberger die Expertenrolle im Ersten übernahm, musste ich feststellen: Vermissen tue ich Mehmet nicht. Zumindest nicht als Fernsehexperte und Spielanalytiker. Ich habe das Gefühl, dass das heutige Anforderungsprofil für den Experten-Job Mehmets Können einfach übersteigt.

So stark sein Spielverständnis auf dem Platz war, so verwundert bin ich, wie viele Schwäche seine Spielanalyse im Fernsehen hat. Bei der Europameisterschaft 2016 im Spiel gegen Italien wählte Joachim Löw gegen Italien eine Dreierkette. Mehmet kritisierte die taktische Variation scharf: "Warum muss man eine Mannschaft, die so funktioniert, auf den Gegner anpassen? Der Spielbeobachter Urs Siegenthaler soll gefälligst im Bett liegen bleiben". Mehmet ignorierte jedoch gänzlich, dass die Italiener mit Doppelspitze aufliefen, anders als vorher die Mannschaften aus der Ukraine, Polen, Nordirland oder der Slowakei. Eine Verdichtung des deutschen Abwehrzentrums ergab durchaus Sinn.

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Auch beim diesjährigen Confed-Cup fehlinterpretierte Mehmet den Spielverlauf der deutschen Vorrundenpartie gegen Chile: „In der zweiten Halbzeit hat die Mannschaft das Spiel angenommen, hat dagegen gehalten und das Tempo rausgenommen". Tatsächlich ließ lediglich das Tempo der Chilenen nach. Nach ihrer dominanten ersten Halbzeit musste Chile ihrem laufintensiven, weil mannorientierten Pressing dann doch Tribut zahlen.

Mein nächster trauriger Höhepunkt aus diesem Jahr war Mehmets Kommentar zur Steueraffäre von Cristiano Ronaldo. Der folgende Tweet der Sportschau eröffnete wieder einmal die Diskussion um Mehmet, in die sich sogar der Sprecher des Lesben- und Schwulenverbandes, Markus Ullrich, zu Wort meldete. Dieser verurteilte den Spruch als "dumm und plumb".

Was ich früher so frech und cool am jungen Mehmet fand, passt einfach nicht zu einem 46-Jährigen, der live vor zehn Millionen Zuschauern spricht. Auch wenn seine zerrissenen Jeans und sein Button-Down-Hemd den Anschein des ewig jung gebliebenen Alternativen erhalten sollen, ist Mehmet doch die Ausgeburt der Angepasstheit.

Wie gerne er sich an jene freie Zeit erinnert, merkt man bei den Anekdoten, auf die Mehmet bei fast jeder Analyse zurückgreift. Während des Spiels von Mexiko gegen Russland kritisierte Mehmet die Schiedsrichterleistung und rundete seinen Vortrag mit einer Geschichte von seinem ehemaligen Kollegen Willy Sagnol ab: "Er hat dann zu Markus Merk gesagt: 'Schiedsrichter, wir wollen wechseln'. Darauf Merk: 'Aber da steht doch gar keiner draußen' und Sagnol wieder: 'Nein, wir wechseln dich".

Dass Willy Sagnol gerade einen Vertrag als Co-Trainer in München unterschrieben hat, hat Symbolcharakter. Ein solches Einbeziehen von alten Weggefährten in seine Analyse erinnert stark an Günther Netzers Geschichten von seinem Bundesligaaufstieg 1965 oder der Vorbereitung zur Weltmeisterschaft 1974. Anekdoten, die vor allem jene nicht vom Hocker hauen, die Fußball nicht nur als wandelndes Poesie-Album erleben wollen.

Außerdem: Ich möchte das aktuelle Spiel erklärt haben, wenn ich die knapp bemessene Zeit zwischen den Halbzeiten schon bei Mehmet und der ARD bleiben soll. Das ZDF zeigt mir mit dem Trainer Holger Stanislawski, wie spannend Taktik sein kann. Aus der Vogelperspektive wird mit Pfeilen und Markierungen kurz aber präzise der Spielverlauf analysiert. Zusammen mit Sebastian Kehl geht die Taktikauswertung jenseits von Mehmets Dauerzitaten à la „Sie haben die Räume eng gemacht" und „Sie sind früh draufgegangen".

Seit 2008 ist Mehmet Experte bei der ARD, und der Confed-Cup war sein viertes großes Turnier, bevor sein Vertrag im nächsten Sommer auslaufen wird. Grund für sein temporäres Aussteigen nach der Vorrunde des Confed-Cups war laut der Bild die von der Sportschau geplante Berichterstattung über Dopingvorwürfe in Russland. Mehmet hat das Thema nicht gepasst und er ist einfach gegangen, kurz vor Sendungsbeginn. Wieder typisch Mehmet.

Zur WM 2018 wird Mehmet voraussichtlich wieder zurückkommen. Das Dumme ist, dass ich an Mehmets Berichterstattung gar nicht vorbeikommen kann, da die ARD wieder die Hälfte der WM-Spiele zeigen wird. Ich will professionelle Analysen statt Mehmet-Bauchmeinungen. ARD-Sportkoordinator Axel Balkausky hält weiter an Mehmet fest: "Solche Meinungsverschiedenheiten kommen in den besten Familien vor". Ich frage mich derweil, ob Mehmet immer noch der coole Cousin oder nur noch der nervige Onkel ist.