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Das fanatischste Fußballvolk der Welt boykottiert seine eigene Liga

Die türkische Regierung hat ein Ticketsystem eingeführt, bei dem sich jeder Fan mit Namen und Sitzplatz registrieren muss. Seitdem boykottieren selbst die Ultras alle Spiele.

Die Beşiktas-Fans von Carsi während der Gezi-Proteste. Foto: Ekin Özbiçer

Es war das letzte Spiel einer erbitterten Fußballsaison, bei dem Beşiktaş, eine der beliebtesten Fußballmannschaften der Türkei, gegen den verhassten Rivalen Kasimpaşa antrat. Es war eines jener Spiele, die das Atatürk-Olympiastadium, mit 80.000 Plätzen das größte Stadium des Landes, hätte fülle sollen. Doch die Beşiktaş-Fans, die in der fußballbesessenen Türkei lange als die fanatischsten galten, waren an diesem Abend nirgendwo zu sehen. Als das Spiel begann, war das Stadium gespenstisch leer.

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E-bilet uygulamasını protesto eden Beşiktaş'ın taraftar grubu Çarşı takımını stat dışından destekliyor #EbileteHAYIR pic.twitter.com/tG1qPXCBFA

— İÜ Muhalefet (@iumuhalefet) 20. April 2014

Es schien ein unglaublicher Verrat durch die Beşiktaş-Fans zu sein, die gerne von ihrer Bereitschaft singen, für ihr Team zu sterben—und es gelegentlich auch tun. In einer Bar im Zentrum des Stadtteils von Istanbul, nach dem die Mannschaft benannt ist, beharrt der Hardcore-Fan Mehmet Boral jedoch darauf, sein geliebtes Team keineswegs im Stich gelassen zu haben. „Es ist nur so, dass ich heute Abend auf keinen Fall in die Nähe des Stadiums gehe“, sagt er und stimmt in den Chor der betrunkenen Fans hinter ihm ein. Plötzlich dreht er sich um und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen, um die drei fehlenden Zähne zu zeigen, die er bei einem Fußballspiel vor 12 Jahren verloren hat. „Ich würde für Beşiktaş sterben, 32 Jahre lang hatte ich eine Dauerkarte, obwohl ich kaum Geld hatte. Aber eins will ich dir sagen: Ich werde nie wieder zu einem Spiel gehen.“

Der Grund dafür: eine neue Bankkarte namens Passolig, die Fans fortan benutzen müssen, um Tickets für die erste und zweite Liga zu kaufen. Die Einführung letzten Monat erregte Proteste und den Boykott von Fans, die das neue System als weiteren Versuch der Regierung betrachten, jeden Widerstand zu unterdrücken.

Mit der Einführung des neuen Systems müssen Fans eine Bankkarte erwerben und von der nationalen Identifikationsnummer und einem Foto bis hin zu ihrem Lieblingsteam all ihre Informationen übermitteln. Nach Angaben der Behörden steht dahinter die Idee, so die Gewalt auf den Tribünen—ein Problem, das die meisten Fans bereitwillig anerkennen,—zu vermindern.

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Kritiker sehen hinter dem neuen Kartensystem, das die türkische Regierung Anfang des Jahres eingeführt hat, jedoch mehr Hinterlist. Denn seit vor fast einem Jahr  die Proteste gegen die regierende AKP ausbrachen, stehen die eingefleischten Fußballfans im Zentrum der Anti-Regierungsdemonstrationen.
 
„Sie haben ziemliche Angst vor uns, das kann ich dir versprechen“, sagte Turgay Akaroglu, ein Beşiktaş-Fan, der letzten Sommer bei den Gezi-Protesten bei der Entführung eines Bulldozers beteiligt war. Fans nahmen die Baumaschine, um polizeiliche Kampffahrzeuge aus dem Beşiktaş-Stadion, das ein Zentrum des Protests war, zu vertreiben.

Türkische Beamte verhafteten Akaroglu und Dutzende andere unter dem Vorwurf des „Terrorismus“ und kündigten an, zukünftig Anti-Regierungsparolen bei Fußballspielen zu verbieten.

„Da die Regierung alle möglichen Dissidenten verfolgt, ist es schwer vorstellbar, dass dies nichts damit zu tun hat“, sagte Bagis Erten, Sportkolumnist bei der türkischen Tageszeitung Radikal. Ein Beweis dafür ist für Bagis und die Anderen die undurchsichtige Firma, die hinter dem Kartensystem steht. Das Unternehmen namens Aktif Bank verfügt nur über acht Filialen und wird von einer Firma verwaltet, die vom Schwiegersohn des türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan geführt wird.

Diese Ängste dürften nicht unbegründet sein. Anfang des Jahres, als sich die Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung in sozialen Netzwerken verbreiteten, legten die Behörden Twitter und YouTube still. Doch die Anarchie in den türkischen Stadien stellte die Regierung vor größere Probleme. Als die türkische Regierung Ende letzten Jahres erstmals von einem Korruptionsskandal erschüttert wurde, erschallte bei den Beşiktaş-Spielen die Protestparole „Überall herrscht Bestechung, überall Korruption!“ Fans missachteten die Regeln des Stadiums, um die acht Demonstranten zu ehren, die letztes Jahr bei den Gezi-Protesten getötet wurden.

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Als die Behörden im April das elektronische Ticketsystem einführten, gingen Fans in Istanbul auf die Straße. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei und Touristenoasen wie die Unabhängigkeitsstraße wurden in qualmendes Chaos gestürzt.

Al sana #ebilet pic.twitter.com/4eLT23qpNY

— b.zeyno bayramoğlu (@zeytimm) 21. April 2014

Es waren jedoch nicht nur unflätige Fans, die sich gegen die E-Tickets aussprachen. Vertreter der CHP, der größten Oppositionsparty des Landes, haben unter anderem öffentlich danach gefragt, wie die Daten der Fans genutzt werden würden. Metin Feyzioğlu, Präsident der türkischen Anwaltskammer, sagte, dass „offensichtlich mehr hinter dem System [stand], das zwei Monate vor Saisonende eilig in die Praxis umgesetzt wurde.“ Er fügte hinzu, dass es „den deutlichen Anschein eines Systems der Massenüberwachung“ habe.

Diese Woche sprach sich eine Vorinstanz in Ankara gegen das System aus und warf ihm eine „Verletzung der Verbraucherrechte“ vor. Der türkische Sportminister Akif Kılıç feuerte umgehend zurück und sagte, die Regierung würde die Gerichtsentscheidung anfechten. „Ich weiß nicht, auf welcher Beweisführung diese Entscheidung beruht, aber sie wird angefochten werden.“

Der Sportjournalist Erten sagt, dass die Atif Bank bereits 150 Millionen Dollar für das neue System ausgegeben habe, und bezweifelt, dass der Gerichtsbeschluss beachtet werden wird.

In der Zwischenzeit haben die Fans die türkischen Spiele rigoros boykottiert. Letzten Monat, als Fenerbahce in einem der wichtigsten Spiele der Saison gegen Beşiktaş antrat, waren nur 8.000 der 70.000 neuen Tickets für das Olympiastadium in Istanbul verkauft worden.

„Die Regierung stößt uns ins Herz, aber wir werden standhalten“, sagte Arif Demirkan, ein Beşiktaş-Fan. „Selbst wenn es bedeutet, dass wir auf das Spiel verzichten, das wir lieben, wir werden nicht nachgeben.“