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Politik

Wie Istanbul Başakşehir mit Erdoğans Hilfe die Süper Lig erobert

Zu Heimspielen von Başakşehir kommen nur 2.500 Seelen, trotzdem steht der Verein vor den drei Istanbuler Großklubs in der Tabelle. Man setzt auf die Jugend, arbeitet fernab der Medien und hat die richtigen Parteifreunde.
Foto: imago

Istanbul führt mal wieder die Tabelle der türkischen Süper Lig an. Die Rede ist aber nicht von Galatasaray, Fenerbahçe oder Beşiktaş, sondern von Istanbul Başakşehir—einem Verein, der den meisten Fußballfans außerhalb der Türkei nur wenig sagen wird. Der Klub aus dem gleichnamigen Bezirk hat in dieser Saison mit Gala und Fener schon zwei der drei großen Hauptstadtklubs schlagen können. Doch wer denkt, dass der von Erfolg zu Erfolg eilende Klub die Zuschauer wie in Heeresscharen in sein Stadion zieht, irrt gewaltig. Im Schnitt besuchen die Heimspiele von Başakşehir gerade mal 2.500 Menschenseelen. Doch genau das könnte sich als Vorteil im Meisterschaftskampf erweisen, hat uns Harald Aumeier erklärt, ein ausgemachter Experte für den türkischen Fußball, der seit etlichen Jahren in der Türkei lebt und von dort aus einen Sport-Blog betreibt. Außerdem hat er erläutert, welche Vorteile es hat, wenn man super Kontakte zu Präsident Erdoğan und der Regierungspartei pflegt.

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Gestern Abend hat Medipol Istanbul Başakşehir FK im heimischen Fatih-Terim-Stadion Çaykur Rizespor mit 2:1 geschlagen und sich dadurch von Beşiktaş die Tabellenführung zurückerobert. Rizespor ist die Mannschaft aus der osttürkischen Stadt Rize, wo auch der Trainer von Başakşehir, Abdullah Avcı, herkommt. Ebenso mit der Stadt vom Schwarzen Meer verbunden ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dessen Eltern aus Rize stammten. Doch damit enden noch nicht die Überschneidungen zwischen beiden Männern: Aufgewachsen sind Avcı und Erdoğan beide im Istanbuler Arbeiterbezirk Kasımpaşa. Und noch viel wichtiger: Avcıs Team gilt als regierungsnaher Verein, oder um Aumeier zu zitieren: als einer von den Klubs in der Türkei, „die mit der AKP groß geworden sind". Und das bringt durchaus den ein oder anderen Vorteil mit sich.

Takımımız, Çaykur Rizespor galibiyeti ile zirvedeki yerini bu hafta da korudu.— İstanbul Başakşehir (@ibfk2014)November 22, 2016

Der Überraschungsverein der Süper Lig hieß vor wenigen Jahren noch Büyükşehir. Dann zog man in den Stadtteil Başakşehir und die Erfolgsgeschichte nahm seinen Lauf. Ursprünglich war der Klub die Betriebsmannschaft der Istanbuler Stadtverwaltung und wurde als solcher auch von der Stadtverwaltung finanziert. Dementsprechend war die Einflussnahme auf den Verein vonseiten der Regierungspartei AKP sehr groß—und ist es noch immer. So ist der Vorsitzende des Vereins Mitglied in der AKP, während seine Frau—wenn auch über ein paar Ecken—mit Erdoğan verwandt ist. Das Ergebnis dessen sind ausgezeichnete Kontakte zwischen Başakşehir und der Politik. Daran hat auch der Hauptsponsor (und Namensgeber), die Krankenhauskette Medipol, seinen Anteil. Denn obwohl das Unternehmen privat ist, pflegt es ausgezeichnete Verbindungen zur Regierung. Bei Eröffnungen neuer Medipol-Kliniken ist Erdoğan regelmäßig anzutreffen.

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Ich will von Aumeier wissen, wie die Vorteile von „regierungsnahen" Vereinen in der Praxis aussehen. „Der Staat hilft den Vereinen nicht auf direktem Weg—außer im Fall von Stadionneubauten, die zum großen Teil von Steuergeldern finanziert werden. Doch hier sind nicht nur AKP-nahe Vereine wie Başakşehir oder Osmanlıspor Nutznießer, sondern ebenso Galatasaray oder Beşiktaş". Worauf Başakşehir aber jederzeit setzen könne, sei eine strukturelle Unterstützung vonseiten der AKP. So können sie bei Problemen auf kurzem (lies: unbürokratischem) Wege mit Hilfe von Parteiseite rechnen. Aumeier gibt ein Beispiel: „Başakşehir hat drei relativ moderne Trainingsplätze, was für den türkischen Fußball schon ziemlich gut ist. Sollte denen durch Unwetter ein Platz mal völlig absaufen, könnten sie von der Stadt—schneller als vielleicht Fener, Gala und Beşiktaş—Unterstützung erwarten."

Und selbst wenn die Stadt mal lahmen sollte, auf seinen Bezirk, Başakşehir, kann sich der gleichnamige Klub immer verlassen. Schließlich ist man nicht ohne Grund umgesiedelt. In Başakşehir gibt es eine klare Mehrheit für die AKP, bei den letzten Wahlen kam die Regierungspartei auf über 50 Prozent. Und die Nähe zur AKP spiegelt sich auch beim Stadion und den Zuschauern wider. Die Heimstätte—ein zwei Jahre altes modernes Stadion mit Platz für rund 17.000 Zuschauer—trägt den schönen Namen „Başakşehir Fatih Terim Stadı". Fatih Terim ist der türkische Nationaltrainer und laut Aumeier nicht gerade als regierungskritisch bekannt. Und falls ihr euch wundert, warum man ein neues Stadion mit einer so geringen Kapazität konzipiert, sei euch gesagt: Zu den bisherigen Heimspielen von Başakşehir haben sich im Schnitt weniger als 3.000 Fans verirrt. Und wie tickt so der Durchschnittsfan des Tabellenführers?

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Das genauso schmucke wie leere Stadion von Başakşehir kurz vor dem Anpfiff beim Spiel gegen Fenerbahçe. Foto: imago

Aumeier erzählt mir, dass Başakşehirs Publikum zwar überschaubar, dafür aber sehr homogen sei. Viele sind überzeugte Erdoğan-Unterstützer und AKP-Mitglieder. Viele sind junge Männer, die mit der AKP groß geworden sind oder sogar Mitglieder in der Jugendorganisation der Partei waren. Das sah vor einigen Jahren, soll heißen vor dem Umzug nach Başakşehir, noch anders aus. Damals unterstützte den Verein noch eine kleine Fangruppe, die sich dank ihrer selbstironischen Art auch über Istanbuls Stadtgrenzen hinaus beliebt gemacht hat. Sie sangen Lieder wie „Wir sind die kleinste Fangruppe der Welt, von dem unbedeutendsten Verein der Welt." Doch mit dem Umzug nach Başakşehir hat sich auch die Fangruppe verabschiedet. Ein anderer Punkt, der die (wenigen) Fans von Başakşehir beschreibt, ist ihre Religiosität. Zwar gebe es auch bei den drei großen Klubs (streng) religiöse Fans, doch sind diese bei Başakşehir eher in der Überzahl. So war es dann vielleicht auch kein Zufall, dass eine Schweigeminute anlässlich der Opfer der letztjährigen Paris-Anschläge im Fatih-Terim-Stadion von Pfiffen und Allahu-Akbar-Rufen massiv gestört wurde. Ebenfalls bezeichnend ist die Fangruppe „1453 Başakşehir". 1453 war das Jahr der Befreiung Istanbuls, die Gruppe symbolisiert also eine Form von Revanchismus und Patriotismus. Übrigens seien solche historisch aufgeladenen Fangruppen typisch für Vereine, die der AKP nahestehen, wie mir Aumeier erzählt.

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Besonders interessant wird es, als mir Aumeier erklärt, dass Başakşehirs geringer Zuschauerschnitt am Ende zu einem Wettbewerbsvorteil werden könnte. Denn weniger Fans im Stadion heißt zwar auch weniger Unterstützung, aber eben auch weniger Druck von den Rängen. Stichwort weniger Druck: Was die zum Teil sehr bissige türkische (Sport-)Presse betrifft, steht Başakşehir komplett im Schatten der drei Großen. Das heißt in der Praxis, dass Trainer Avcı und seine Mannschaft ungestört arbeiten können. Es wird (bisher) nur wenig über den Verein berichtet und auch Gerüchte werden kaum gestreut—ein Zustand, von dem Fener und Co. nur träumen können, denen gefühlt jeden Tag ein neuer Transfer angedichtet wird. Die haben in den Sport-Gazetten des Landes jeweils eine eigene Seite für sich, während die anderen Süper-Lig-Mannschaften auf einer Seite abgefrühstückt werden. Dazu passt auch ein kurzer Kader-Vergleich: Laut transfermarkt.de hat Fenerbahçes Mannschaft einen Wert von 158 Millionen Euro, auch Galatasaray und Beşiktaş kommen auf über 100 Millionen Euro teure Kader. Başakşehir hingegen muss sich mit Spielern im Wert von rund 57 Millionen Euro begnügen, und landet damit noch hinter Trabzonspor auf Platz 5.

Um beim Thema Finanzen zu bleiben. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sind die wenigen Zuschauer kein großer Nachteil für Başakşehir, der Passolig-Einführung sei Dank. Denn laut Aumeier garantiert die personalisierte Fankarte fixe Einnahmen, die sich zum Teil auch unabhängig von den jeweiligen Zuschauerzahlen gestalten. Begünstigt werden also vor allem die kleineren Vereine.

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Mehr zu Passolig: Der türkische Fußball unter Erdoğan—AKP-Vereine und Ultra-Unterdrückung

Und noch ein Kommentar zu den Zuschauerzahlen in der Süper Lig: Auch wenn wir den türkischen Fußball noch immer gerne mit fanatischen Fans assoziieren, so sieht die Wirklichkeit doch deutlich düsterer aus. In der Saison 2012/13 kamen noch 3,5 Millionen Zuschauer in die Stadien der Süper Lig, im letzten Jahr waren es hingegen nur noch 2,6 Millionen. Zudem ist die Fanszene in der Türkei vielerorts zerschlagen. Selbst zu manchen Heimspielen von Fenerbahçe kommen mittlerweile weniger als 10.000 Zuschauer. Genau dieses Vakuum könnte in Zukunft von Başakşehir gefüllt werden, glaubt Aumeier. Vor allem dann, wenn es der Verein—oder eben ein anderer der aufstrebenden Klubs—in den nächsten Jahr schaffen sollte, Meister zu werden. Denn die zahlreichen AKP-Mitglieder und -Sympathisanten im Land haben sich größtenteils noch nicht entschieden, auf welches Pferd—neben den drei Großen—sie setzen werden. Das Rennen macht am Ende wohl das erfolgreichste.

Und was wäre, wenn sich die politischen Verhältnisse in der Türkei ändern würden? Hätten dann AKP-nahe Klubs wie Başakşehir schnell wieder das Nachsehen? Aumeier hält das für äußerst unwahrscheinlich, weil Vereine wie Başakşehir gerade in der Wirtschaft großen Rückhalt genießen (siehe Medipol). So standen die ersten Regierungsjahre unter der AKP auch für ein großes wirtschaftliches Wachstum. In diesem Zusammenhang sind laut Aumeier auch die „anatolischen Löwen" zu nennen. Gemeint sind schwerreiche Geschäftsmänner mit Nähe zur AKP, die vor allem im Osten der Türkei viel Geld gemacht haben, und schon seit Jahren als potenzielle Sponsoren für die „regierungsnahen" Klubs fungieren. „Die Pfründe, Seilschaften und guten Kontakte würden auch bei einem Regierungswechsel fortbestehen", lautet seine Einschätzung.

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Und warum mischt die AKP überhaupt im Fußball mit und konzentriert sich auf kleinere Vereine wie Başakşehir? „Weil es die AKP nicht geschafft hat, die drei großen Istanbuler Klubs im Lande zu Satellitenvereinen zu formen", erklärt mir Aumeier. Dafür seien die Vereine zu groß, hätten zu viele Mitglieder und auch weiterhin zu viele Fans, die untereinander auch zu zerstritten seien. Und für die Regierung unbequem werden können. So wie bei der feierlichen Eröffnung des Stadion von Galatasaray, als es ein Pfeifkonzert gegen Erdoğan gab.

Kritik von den Fans türkischer Traditionsmannschaften würde es auch für Klubs wie Başakşehir geben, die in der Fanszene ähnlich beliebt sind wie hierzulande „Retortenklubs" à la Hoffenheim oder RB Leipzig. Mit einem entscheidenden Unterschied, wie mir Aumeier erklärt: Denn die Fanszene ist nicht zuletzt seit Einführung des Passolig-Systems geschwächt und hat im Gesamtkontext viel weniger zu sagen. Das Gros der türkischen Fußballfans könnte sich längerfristig durchaus für neue Vereine erwärmen. Mit der Folge, dass das Aufkommen neuer erfolgreicher Klubs nachhaltig das Monopol der drei Istanbuler Vereine zerschlagen könnte, die sich mit wenigen Ausnahmen abwechselnd seit 40 Jahren die Meisterschaft sichern. Und ein Etablieren von Başakşehir als türkisches Spitzenteam hätte laut Aumeier noch einen weiteren positiven Nebeneffekt. Denn der Verein setzt auch auf die Jugend und hat bereits Jugendteams bis zur U-14 aufgebaut. Vielleicht würde das auch Fener und Co. zu mehr Nachwuchsförderung inspirieren, die nur allzu gern auf alternde Europäer und Südamerikaner setzen.

Eine letzte Frage brennt mir dann doch noch unter den Nägeln: Kann Başakşehir den ganz großen Wurf schaffen?

„Der Klub hat diese Saison schon Galatasaray und Fenerbahçe geschlagen. Wenn sie demnächst auch noch Beşiktaş besiegen, dann traue ich ihnen auch die Meisterschaft zu. Denn Başakşehir hat den großen Vorteil, dass sie unter dem medialen Radar laufen und ungestört arbeiten können."

Wir sind gespannt.