Der Spandex-Zirkus ist in der Stadt——Einblicke in die deutsche Wrestling-Szene
Alle Fotos: Grey Hutton

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WRESTLING

Der Spandex-Zirkus ist in der Stadt——Einblicke in die deutsche Wrestling-Szene

In einem Zirkuszelt in Berlin zeigt die German Wrestling Federation zwischen explodierenden Bierflaschen und berstenden Plastikstühlen die Stärken und Schwächen des Mythos Show-Catchen auf.

„Die Kunst beim Wrestling ist vor allem Hinfallen und Aushalten", erkläre ich meinem Nebenmann, der hier ist, weil er „Trash" sehen will und ihn Wrestling irgendwie an plakative Deichkind-Videos erinnert. Es ist sauvoll im Shake-Zelt am Ostbahnhof an diesem Samstag Abend, es müssen über 500 Leute hier sein. Wer jetzt um 18:30 Uhr aus der Kälte kommt, stand weit über eine Stunde in der Schlange, um die hundert werden sogar wieder nach Hause geschickt. Diejenigen, die es gerade noch geschafft haben, müssen auf dem Boden um den Ring statt auf den Rängen sitzen, aber jemand hat aus der Not eine Tugend gemacht und sich einen ganzen Kasten Becks auf den Boden geholt, aus dem er sich in den folgenden drei Stunden nach Gusto bedient—darauf kommen wir noch zurück. Falls es je ein Sicherheitskonzept gegeben hat, ist es spätestens jetzt Geschichte.

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Wie beinahe jeden ersten Samstag im Monat hält die German Wrestling Federation (GWF) hier ihr Berliner Heimspiel ab, entsprechend informiert, loyal und laut ist das Publikum. Dieses Mal—und das wird sich noch als Nachteil herausstellen—kommt es zu einem Crossover mit der befreundeten Liga Westside Xtreme Wrestling (WXW) aus Oberhausen, die im Moment auch internationale Aufmerksamkeit erhält, weil der umstrittene Promoter Vince Russo (WCW, WWE, TNA) dort als Investor eingestiegen ist.

Ein Zirkuszelt als Austragungsort einer Wrestlingshow ist per se eine Metapher, die man nicht erklären muss. Bis in die Neunziger hieß Wrestling (engl.: Professional Wrestling oder Pro Wrestling) auf Tele 5 und Eurosport noch „„Catchen" und löste einen kleinen Boom in Deutschland aus, so dass man sich zum Beispiel von Tele 5 kopierte Infoblätter mit den Ergebnissen aller Wrestlemanias (Wrestling-Pendant zum Superbowl) für ca. 2,50 D-Mark nach Hause schicken lassen konnte. Tatsächlich ist der Begriff des catch wrestling auch der sprachliche Ursprung dieser Ring-Revue. Die fand ihre Anfänge bei fahrenden Zirkustruppen und auf Jahrmärkten Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika, wo sich die unterschiedlichsten Nationalitäten und Kampfstile auf dem neuen Kontinent trafen, um die klassische Geschichte von David gegen Goliath im Ring nachzuerzählen. Natürlich nur gegen Eintritt. In den USA erwehrt sich Wrestling in Form des gigantischen Marktführers WWE (World Wrestling Entertainment) standhaft dem Overkill an Serien und Sportberichterstattung, aber von einem erneuten Boom ist trotz neuer Formate wie Lucha Underground noch nichts zu spüren.

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Die Sache mit den Nationalitäten ist bis heute eine der beliebtesten Maschen im Wrestling geblieben, um das Publikum zu reizen. Im Eröffnungskampf des Abends heißt der Antagonist (Jargon: heel) Sasa Keel und schwenkt unter lauten Buhrufen die kroatische Fahne. Keel kommt aus dem rechten Vorhang heraus stolziert, dem für die Heels. Danach stürmt überschwänglich der Held (im Jargon: face) aus dem linken Eingang heraus und fünft die Fans. Der Wiener Catcher Chris Colen hat ein Gary-Cooper-Gesicht und verhältnismäßig geschmackvolle Tätowierungen. Keel spielt seine Rolle, den dalmatischen Geck mit Hang zum Gewaltausbruch, so souverän, dass man ihn eigentlich dafür gern haben müsste, während Chris Colen ein echter Overseller ist, der jede Attacke und jede Emotion verkauft wie ein übermotivierter Schauspielschüler. Es ist letztlich die Dynamik der beiden, die aus einer simplen Konstellation ein Narrativ macht. Die Leute im Shake-Zelt kennen natürlich die Tricks und Ticks ihrer Pappenheimer, aber die glaubhafte Inszenierung der Brutalität in Kombination mit der Hingabe der Wrestler an ihre Rollen als Heel und Babyface lässt die Leute wider besseren Wissens in den Kampf eintauchen wie in die Episode einer TV-Serie. Sie akzeptieren das, was man im Fachjargon Kayfabe nennt.

Kayfabe ist die stille Übereinkunft zwischen Akteuren und Publikum, das Storytelling um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Das ist im Internet-Zeitalter eine echte Herausforderung, weil jeder auf Fanseiten oder gewitzten Sportpublikationen wie grantland.com Fakten und Gerüchte über das manchmal erschütternd reaktionäre Geschäft hinter den Vorhängen nachlesen kann. Dennoch geben sich gerade Wrestlingfans, die vor Insiderwissen platzen, anschließend voll und ganz der naiven Erzählweise im Ring hin—es ist das Faszinosum dieser Sportart.

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Als größte Wrestling-Liga der Welt verzweifelt die WWE dennoch zusehends an der Diskrepanz zwischen smart fans (auch smarts marks oder Internet Wrestling Community genannt) und sogenannten marks, die nichts wissen oder wissen wollen, was außerhalb von Ring und Kameras passiert. Sie hadert mit sich, an wem sie ihr Produkt ausrichten soll. Soll der „Internet-Liebling" und Underdog Daniel Bryan dieses Jahr erneut ins Main Event von Wrestlemania oder reicht der pupswitzereißende Saubermann John Cena das Zepter weiter an den von den Bossen auserkorenen, aber vom Publikum verstoßenen The-Rock-Cousin Roman Reigns weiter? Dabei ist es gar nicht so kompliziert: Es geht es dem Wrestling-Publikum um dieselben Dinge wie jedem Tatort-Zuschauer: glaubhafte Protagonisten und die Kohärenz der erzählten Geschichte. Wenn das stimmt, darf oder soll der Rest gerne trashig sein.

Womit wir wieder bei Chris Colen und Sasa Keel sind, deren Ring-Psychologie zwar lediglich daraus besteht, dass der weiße Ritter sich mit seinem Heroismus nicht gegen die Tricks und Provokationen des Gegners durchsetzen kann und „„unfair" verliert, aber damit ist schon das Wichtigste erreicht: Colen ist der moralische Sieger, aber hat durch seine Niederlage beim Publikum das Bedürfnis erzeugt, dass dem Kroaten möglichst bald in den Arsch getreten wird. Und so ein Bedürfnis bringt Eintrittsgelder.

Beim nächsten Kampf zwischen den schwarz-rot-goldenen Ringseilen der GWF kann man das Storytelling ohne schlechtes Gewissen außer Acht lassen, denn es ist Zeit für das sogenannte Spotfest. In diesem Fall ein Vier-Mann-Tag-Team-Match (die vielen Bindestriche geben eigentlich schon den hektischen Grundton vor) zwischen den Young Lions, den Schilds, der Dark Society und den Waschbären auf Koffein. Spricht man im Wrestling von High Flying, meint man damit idealerweise Sprünge vom Turnbuckle (Ringpfeiler) in Richtung Gegner, die in ihrer Artistik kaum dem Turmspringen nachstehen. Bei besonders spektakulären Ausflügen wie „Franz „Zero" Engels Moonsault auf die übrigen Wrestler außerhalb des Rings kommt es dann auch zum Ritterschlag des Publikums—dem Holy Shit-Chant. Der rangiert gleich hinter der ebenfalls aus dem Englischen entlehnten Respektbekundung „„sis is awesome". Darstellerisches Highlight des Kampfes ist die brennende Zigarette von Wrestler Bobby Gunns. Wann hat man jemals den Schlachtruf „„Rauchverbot! Rauchverbot!" gehört?

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Überhaupt die Klänge und Gesänge aus dem Publikum. Von „„Halt die Fresse" und „„Der Arm muss ab" bis zum zweifelhaften Dynamo-Dresden-Fangesang „„Es kommt die Zeit, in der die Elbe wieder steigt"—die akustische Bandbreite reicht von hool bis cool. Der Chant im nächsten Match lautet ganz puristisch „„Bier! Bier! Bier!", denn Mike Schwarz kommt aus dem Ruhrpott und mit streetkredibiler Hopfenwampe in den Ring, und gönnt sich zwischen back suplex und power slam eine Flasche aus dem eingangs erwähnten Bierkasten. Für das dümmliche Alki-Gimmick allein hat er schon den Stuhl verdient, dem ihm GWF-Vorzeige-Heel Cash Money Erkan so herzhaft überzieht, dass die Plastiksplitter durchs halbe Zelt fliegen. Einen davon reißt ein Fan hinter mir mit einer Hingabe an sich, als handle es sich um das Grabtuch von Turin.

Cash Money Erkan ist eigentlich ein verdammt guter Bösewicht. Der Mann aus dem Kosovo bringt seinen eigenen Rapper zum Ring, hat eine grandiose Mischung aus Schlägervisage und Milchbubi-Gesicht und ist gefühlte 2,50 m groß. Auf seiner Facebook-Seite merkt man, dass er eigentlich eine gute Haut ist, aber das brutale Arschloch steht ihm einfach. Vielleicht wirkt er unter den Jubelrufen der GWF-Fans deshalb heute ein bisschen überfordert und stellt mit dem Stuhlschlag seinen zweifelhaften Ruf wieder her.

Titelgurte im Wrestling haben zwar nur geringen sportlichen Wert, sind aber mythologische Requisiten und verleihen dem Match, in dem sie auf dem Spiel stehen, einen gewissen Glanz, selbst wenn sie aus Alu und Plastik sind. Was ein Shotgun-Championship ist, entzieht sich zwar meiner Kenntnis, aber der exzessiv enthaarte Bitburger Bad Bones John Klinger verteidigt heute eben jenen Titel. Mit seinen pinken Shorts, dem Glatzkopf und dem Ensemble aus konzentrierter Muskelmasse könnte er auch als lang verschollenes Mitglied von Right Said Fred durchgehen.

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Seine Gegner lauten Ilja Dragunov, Axel Dieter Jr. und Ivan Kiev. Ivan ist man of the people, Berlins Daniel Bryan. „Keiner kann so oft und so lange—Ivan, du geile Schlange" singt das ganze Zelt. Für einen Wrestler ist er eher dünn und schlaksig, dazu kalkweiß in einer türkis-gelben langen Spandexhose mit Frisur und Aura eines DHL-Boten. Aber Kiev ist ein working class hero, der einem durch seine herausragende Technik, seine wahnwitzige Bereitschaft einzustecken und seine linkische Verlegenheit schnell ans Herz wächst.

Sein Kontrahent Ilja Dragunov will alles andere als die Herzen des Publikums. Er prescht mit einer russischen Flagge in die Halle, beleidigt die Leute und ist im Grunde fünfzehn Minuten lang aufgebracht—und das mit der Physiognomie von Michel aus Lönneberg. Das Publikum skandiert „USA, USA". Ein Relikt des US-Wrestlings aus Zeiten des kalten Kriegs? Könnte man meinen, aber auch in der WWE gibt es gerade einen Russland-Banner schwenkenden Bulgaren, der Putin-treu gegen den Vorzeigeamerikaner John Cena vorgeht. Dragunov spielt seinen hysterischen Charakter hervorragend, leider fällt er am Ende aus der Rolle (oder zu sehr hinein), tritt in einem Wutanfall gegen besagten Bierkasten und verursacht so eine Scherben- und Pils-Explosion, die im wahrsten Sinne auch ins Auge hätte gehen können.

Right Said Bad Bones verteidigt letztlich seinen Titel, aber wie auch schon in den Kämpfen zuvor wird die Motivation der Wrestler nicht ganz klar. Man möchte wissen, wer warum mit wem gegen wen kämpft und wie das alles weitergehen soll. Solche Sachverhalte und Ring-Beziehungen zu erklären, ist normalerweise die Rolle von Ringsprecher und Wrestling-Impresario Ingo Vollenberg, aber das Crossover der beiden Ligen und die vollgepackte Matchcard lässt das offensichtlich nicht zu.

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Nichts gegen die beiden einzig weiblichen Wrestler des Abends, Blue Nikita (mit Griechenland-Flagge) und Melanie Gray und ihre tadellose Vorstellung, aber langsam weicht das Interesse am physischen Geschehen einer allgemein alkoholisierten Prekariatsheiterkeit, die kurz darauf darin gipfelt, dass der Hüter des berüchtigten Bierkastens den Wrestler Karsten Beck am Fuß zieht und dafür einen Tritt kassiert. Zurecht natürlich, denn Schauspieler, Stripper und Wrestler sind tabu und wer sich nicht daran hält, stellt ihnen einen Freibrief zur Vergeltung aus.

Vor dem Hauptkampf tritt der äußerst beliebte GWF-Methusalem Crazy Sexy Mike (38) gegen seinen ehemaligen Schüler Axel „Axeman" Tischer an und gewinnt. Schüler vs. Lehrer ist neben David vs. Goliath, Bruder vs. Bruder und „„Finger weg von meiner Alten" ein Klassiker unter den Wrestling-Fehden. Crazy Sexy Mike (vielleicht der schlimmste Wrestling-Name aller Zeiten) kommt mit „Seven Nation Army" in den Ring und trägt ein Bandana wie Hulk Hogan auf dem Kopf—es ist mir also beinahe unmöglich, den Mann gut zu finden, obwohl der Mitbegründer der GWF für die Liga Seelsorger und Nachwuchs-Coach zugleich ist.

Der Main Event ist ein Kampf, an den man sich zwei Minuten später schon nicht mehr erinnern wird. GWF-Champion Pascal Spalter, ein smarter und charismatischer big man, tut sich mit dem noch deutlich biggeren Big Daddy Walter unter dem Teamnamen „„Die Bomber" zusammen und tritt gegen den Caribbean Killer Rambo und seinen schmierigen Kollegen, den amtierenden WXW-Champ, Karsten Beck an. In einem „„Skandal der Extraklasse" (Zitat GWF-Website) schlägt Beck mit dem Gürtel Big Daddy Walter k.o. und Rambo pinnt den Publikumsliebling Pascal Spalter, was die bierseligen „„Spalten, spalten, spalten"-Chants abrupt verstimmen lässt.

In der Regel schicken die Booker ihre Gäste mit einem „Sieg der „Guten" nach Hause, sie sollen ja nicht mit der Erinnerung an eine ungerechte Welt einschlafen und deshalb beim nächsten Mal nicht mehr kommen. Manchmal verliert auch der Held, aber darf sich dann durch eine „„Promo" rehabilitieren. Eine Promo ist eine kurze Rede oder ein Aufsager vor Kamera oder Publikum, und für viele sind Promos das wichtigste Element im Wrestling, wichtiger noch als das Handwerk. Die Möglichkeit, seinen Charakter rhetorisch zu unterstreichen, zu mystifizieren oder überhaupt erst zu formieren ist der X-Faktor. Du kannst die beste Technik oder die schickste Elastan-Unterhose haben—ohne die Fähigkeit, dein Publikum mit dem Mikrofon zu fesseln, schaffst du zumindest im Wrestling-Mekka USA nicht den Sprung zum hochbezahlten Pro-Wrestler.

Pascal Spalter hat jetzt, am Ende von drei Stunden Nonstop-Geprügel, endlich die Gelegenheit, eine Geschichte zu erzählen, diesem Abend einen Rahmen zu geben, etwas, an das man sich erinnert. Er entscheidet sich für eine rührige Dankesrede an seinen Mentor Crazy Sexy Mike, der Spalter gerade eben vor einer Attacke der Dark Society bewahrt hat. Als neutraler Zuschauer hoffe ich, dass Spalter seinen alten Trainer noch während der fraternisierenden Umarmung zu Boden schmeißt und mit einem big splash vom dritten Seil spaltet. Es wäre ein Heel-Turn (Jargon: Kehrtwende zur dunklen Seite), wie ihn Berlin noch nicht gesehen hat.

Leider bleibt es bei der Umarmung und der Erkenntnis, dass Wrestling in Deutschland keineswegs die Technik, die Tradition oder die Leidenschaft fehlt, wohl aber ein wenig die Typen und das konsequente Aufgehen in Rolle und Storyline, was natürlich ohne TV-Präsenz und TV-Gelder nur schwer zu realisieren ist. Apropos Typen, Storyline und Geld—mein Nebenmann fragt mich: „„Wo bleibt eigentlich Tim Wiese?"

Folgt Berni auf Twitter: @stburnster