Die „Super Bowl Village"—die Zeltstadt von San Franciscos verbannten Obdachlosen
Alle Fotos: Stefan Thoben

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Die „Super Bowl Village"—die Zeltstadt von San Franciscos verbannten Obdachlosen

Als San Francisco den Super Bowl austrug, ließ der Bürgermeister die Obdachlosen aus der Innenstadt räumen. Doch nicht nur bei den Bedürftigen gab es großen Widerstand gegen den Super Bowl. Ein Ortsbesuch.

Der Mops trottet zum Gartenzaun, geht in die Hocke und macht einen Haufen. Seinem Herrchen entgeht die Ironie der Situation, er steht in seiner Einfahrt und wiederholt empört: „Dieser Kerl hat letzte Nacht in meinen Garten gekackt!" Dieser Kerl ist Phil, und Phil streitet den Vorwurf vehement ab. Phil hat vor einigen Tagen sein Zelt neben der Einfahrt des Hausherrchens aufgeschlagen. Das Hausherrchen—der Prototyp eines SoMa-Yuppies im Sonntagmorgenoutfit: gepflegter Vollbart, lässiger Kapuzenpulli, Flip Flops und graue Shorts, die das Tattoo auf der durchtrainierten Wade zum Vorschein bringen—hält grimmig und mit geschwollener Brust den Gartenschlauch in der Hand. „Es ist mein Recht, mein Auto zu waschen", insistiert er.

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Phil und der SoMa-Yuppie

Dieser Sonntagmorgen ist nicht irgendein Sonntagmorgen: Es ist Super Bowl Sunday, also Nationalfeiertag in den USA, kurz nach acht in der Früh, die Super-Bowl-Stadt langsam am Erwachen. Phils Erwachen gestaltete sich eben etwas rabiater. Phil hat den Tag mit einem Bad begonnen, jedoch unfreiwillig. Phil läuft rastlos hin und her, versucht die Aufmerksamkeit einer Polizeistreife auf sich zu lenken. „Der setzt mein Zelt unter Wasser!", ruft Phil verzweifelt. Das Hausherrchen setzt die Autowäsche stoisch fort, der Strahl des Gartenschlauchs spritzt demonstrativ in hohem Bogen von der Windschutzscheibe gegen das Zelt, das direkt neben dem silbernen Mini Cooper S in der Einfahrt steht. An der Zeltwand bildet sich ein beachtlicher Wasserfall und hinterlässt eine Pfütze unter Phils Obdach. Als schließlich eine Polizeistreife in der Nähe anhält, wechselt das Hausherrchen vom Gartenschlauch zum Putzschwamm und seift scheinheilig seinen Wagen ein. Phil droht zu explodieren.

Die frühmorgendliche Szenerie spielt sich südlich der Innenstadt von San Francisco ab, da, wo eine gewaltige Hochstraße die Grenze zwischen SoMa (kurz für „South of Market Street") und dem Mission District zieht. Unter dem Freeway erstrecken sich Myriaden einfacher Campingzelte. Vereinzelte Zelte haben dort schon länger gestanden, aber im Vorfeld des Super Bowls ist dieses Zeltlager immens angewachsen. Einige der Obdachlosen nennen es „Super Bowl Village", manche auch „Bürgermeister Lees Super Bowl City", und bringen damit ihren Frust über die bestenfalls halbherzige Sozialpolitik von Bürgermeister Ed Lee zum Ausdruck. Es sind Bezeichnungen voller Zynismus. Denn dieser unselige Ort ist natürlich nicht zu verwechseln mit der Super Bowl City, dem großen Pop-up-Werbezirkus in bester Lage in Downtown San Francisco. Während jenes Fanfest am Abend zuvor beim kostenlosen Konzert von Alicia Keys aus allen Nähten platzt, verirrt sich in das etwa drei Kilometer entfernte Super Bowl Village während der ganzen Woche kein einziger Tourist.

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Zelte in der Super Bowl Village

Der Umgang mit den geschätzt bis zu 10.000 Obdachlosen in San Francisco ist eines der Themen, das vor und während der Super-Bowl-Woche zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen hat. Das Thema bringt den Super Bowl am Super Bowl Sunday sogar ums gewohnte Rampenlicht in der größten Lokalzeitung. Während das große NFL-Finale in der Sonntagsausgabe des San Francisco Chronicle nüchtern mit den Worten „Game on!" bedacht wird, lautet die Hauptschlagzeile: „Obdachlosencamps und ihre Kosten steigen rasant". In einer Stadt, die schon immer für ihre Gegenkultur bekannt war—hier nahmen die Beat-Generation, LGBT-Bewegung und Flower Power ihren Ursprung—, wird die NFL nicht nur mit offenen Armen empfangen, so wie sie es eigentlich gerne hat und auch seit vielen Jahren gewohnt ist. So wurden die zehn mächtigen Statuen, die zu Ehren des 50. Super-Bowl-Jubiläums an beliebten Touristenorten aufgestellt wurden, wiederholt geschändet. Eine 50, die besonders exponiert vor dem Civic Center platziert wurde, las für kurze Zeit „Sup Bro" (Slang für „What's up, brother") statt Super Bowl. Die 50 am Alamo Square, ein noch beliebteres Fotomotiv für Touristen, wurde gar umgetreten und mit „Oops" beschriftet, kein leichtes Unterfangen bei einer Größenordnung von rund zwei mal zwei Metern und 700 Kilogramm. In den Tagen zuvor war an gleicher Stelle bereits ein Buchstabe verschoben worden zu „Superb Owl". War die prächtige Eule („Owl" ist zugleich ein Synonym für Hacker) etwa eine Anspielung auf die verschärften Überwachungsmaßnahmen in der Innenstadt, die zusätzlich installierten „Traffic Cameras"? Eines ist klar: Mit solch offenem und beharrlichem Protest haben NFL und Stadtverwaltung nicht gerechnet. Die Aktionen richten sich gegen die kompromisslose Exzesshaftigkeit und das Hegemoniestreben der NFL, die mit ihrer Macht und Markststellung sicherstellt, dass der milliardenschwere Sponsoren-Hofstaat genauso hofiert wird wie sie selbst.

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Sicherlich begründet sich die viele Kritik auch darin, dass der Super Bowl gar nicht in der Stadt selbst ausgetragen wird. Auch wenn die NFL bemüht ist, genau das den weltweiten Zuschauern vor den Bildschirmen zu suggerieren, als bei der TV-Übertragung des Super Bowls immer wieder Aufnahmen der Golden Gate Bridge eingestreut werden. Nur liegt das Wahrzeichen von San Francisco satte 75 Kilometer entfernt vom Levi's Stadium in Santa Clara. Viele Bürger San Franciscos klagen unisono: „Santa Clara empfängt den Super Bowl, wir empfangen den Verkehr." Denn eigens für die Super Bowl City bleiben mehrere Straßen im Innenstadtbereich für eine gute Woche gesperrt. Mit jedem Tag, den der Super Bowl näher kommt, stauen sich mehr und mehr Autos auf den Straßen im Stadtzentrum. Vor allem aus Richtung Oakland quälen sich die Blechkolonnen über die acht Kilometer lange Bay Bridge nach Downtown San Francisco, wo sich mit der Super Bowl City, der NFL Experience sowie dem Medienzentrum drei Hot Spots auf engstem Raum befinden.

Das Verkehrschaos in der Super Bowl City

Für einen Journalisten, der eigens für die Super-Bowl-Woche angereist und noch nie in San Francisco gewesen ist, ist es schwer, sich ein umfassendes Bild von der Lage vor Ort zu verschaffen. Wie viele Obdachlose sind normalerweise auf den Straßen unterwegs? Selbst für Lokaljournalisten ist es ein schwieriges Unterfangen, die massive Obdachlosenproblematik zu erfassen; die Resümees, die die lokalen Reporter ziehen, hängen stark von persönlichen Eindrücken ab, und die können sich schon eine Stunde später komplett anders gestalten. Denn die meisten Obdachlosen bleiben nie am selben Ort, sondern ziehen wie Nomaden durch die Stadt. Ein zentralisiertes System oder übergeordnete Behörden, die die Bewegungsmuster der Obdachlosen erfassen, gibt es in San Francisco nicht. Es gibt zwar unzählige Hilfsorganisationen, doch niemand weiß, welche Obdachlosen welche Hilfen wann und wo und wie oft in Anspruch nehmen.

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Auch vor den Toren der hermetisch bewachten Super Bowl City ziehen Dutzende Obdachlose ihre Kreise. Viele schieben ihr Hab und Gut in Einkaufswagen vor sich her. Darin befinden sich Utensilien, die zum täglichen Überleben auf den Straßen nötig sind: Decken, Pappen und Alufolien und alles, was irgendwie warm hält, teilweise Zelte, oft auch leere Flaschen und Becher. An vielen Stellen an der Market Street, der Hauptverkehrsader in Downtown San Francisco, sticht einem beißender Uringeruch in die Nase, häufig auch süßliche Marihuanawolken. Einige Obdachlose erleichtern sich auf offener Straße, andere reden mit sich selbst oder schreien herum, die meisten verharren in Häuserecken oder bitten Passanten um Kleingeld. Ein alter Mann, der oberhalb einer Bahnstation an der Market Street etwas Undefinierbares aus einer Styroporbox isst. Seine brüchigen, vergilbten, lange nicht geschnittenen Fingernägel kringeln sich dabei um die Plastikgabel, sein ganzer Körper zittert wie bei einem kranken Greis, im Augenwinkel klebt eine einsame Träne. Er beteuert leise krächzend, so leise, dass es kaum zu verstehen ist: „Es hat sich nichts geändert. Niemand interessiert sich für mich. Ich werde in Ruhe gelassen." Im Vorfeld des Super Bowls ist immer wieder darüber berichtet worden, dass die vielen Obdachlosen die neuralgischen Punkte in der Nähe der Super Bowl City verlassen müssten, einige sogar von der Polizei abgeführt worden seien, teils auch gewaltsam. Zwei Polizisten in der U-Bahnstation am Civic Center wollen von Vertreibungen nichts wissen. „Wir können nicht viel machen. Hier in der Gegend gibt es schon viele Hilfsaktivitäten. Da holen die [Obdachlosen] sich ihr Geld und kaufen sich Schnaps davon", beklagt einer der beiden. Der andere spricht ihn mit Joe an.

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Für Kontroversen sorgten einige harsche, gefühlskalte Formulierungen von Bürgermeister Lee, der ganz explizit geäußert hatte, dass die Obdachlosen die Innenstadt während der Super-Bowl-Woche zu verlassen hätten. Dabei hatte Lee seine Augen zu lange vor der so offensichtlichen „Homeless"-Problematik verschlossen, sie sogar geleugnet. Erst im Zuge der letzten Vorbereitungen auf die Super-Bowl-Feierlichkeiten sah sich Lee zum Handeln veranlasst und ließ am Pier 80, fast zehn Kilometer südlich vom Stadtzentrum, eine riesige Notunterkunft errichten, offiziell jedoch nicht wegen des Super Bowls. Als Vorwand mussten die heftigen Regenfälle herhalten, die das Schlechtwetterphänomen El Niňo erwarten ließ. Eine Million Dollar lässt sich die Stadt diese temporäre Notunterkunft monatlich kosten; bei einer erwarteten Auslastung von 225 Personen pro Nacht bezahlt die Stadt also happige 150 Dollar pro Nacht und Bett. Bloß liegt die Auslastung der Unterkunft bei weniger als 20 Prozent, viele Obdachlose bemängeln den Gefängnischarakter, andere sprechen gar von einem Konzentrationslager.

„Am Pier 80 sind vielleicht ein paar Handvoll von uns, niemand will dort wohnen, das ist viel zu weit außerhalb", erklärt Dino. Der 41-Jährige lebt mit seiner Ehefrau Amanda seit einem halben Jahr auf der Straße, die beiden stammen aus dem Contra Costa County, einem Landkreis hinter Oakland. Auch sie campieren unter dem Freeway. „Die Mitarbeiter in den Notunterkünften behandeln uns ohne Respekt. Wir sind schon pleite und die wollen uns die Welt erklären." Die Notunterkünfte kämen für Dino und Amanda auch deshalb nicht in Frage, weil sie dort als Paar nicht zusammenleben könnten, zudem müssten aus Platzgründen zahlreiche Habseligkeiten aufgegeben werden. Die Super-Bowl-Festivitäten hätten jedoch nichts damit zu tun, dass ihr Zelt hier stehe, betont Dino: „Wir ziehen immer umher. Sie wollen uns in der Innenstadt nicht haben, und wir wollen dort ohnehin nicht sein." Geduldig schildert Dino seine Sicht der Dinge, während Amanda im Zelt bleibt, sie schämt sich für ihre Armut. Dino trägt eine Baseballkappe mit der Aufschrift „San Francisco", vorne fehlt ihm ein Schneidezahn, er lispelt ein wenig, seine Stimme klingt rau. Ansonsten macht Dino einen sehr gepflegten Eindruck. „Wir sind hier sehr reinlich. Wir räumen unseren Müll weg. Wir wollen nicht krank werden." Neben dem Zelt steht eine blaue Mülltonne, die Dino organisiert hat und so sauber ist, dass ein Freund seinen Plastikteller mit Cornflakes und Milch darauf abgestellt hat. Für ein Foto posiert Dino stolz vor dem Teppich, den er vor dem Eingang des Zeltes ausgerollt hat.

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Dino

Nicht alle Zeltplätze im Super Bowl Village sind so ordentlich wie der von Dino und Amanda. Vielerorts liegen vergammelte Essensreste herum, menschliche Exkremente, Haus- und Sperrmüll, verschiedenste Sitzgelegenheiten und alle möglichen Gegenstände, die irgendwann nochmal von Gebrauch sein könnten. Nach einigen Minuten kriecht Amanda aus dem kleinen Zelt, um sich frisch zu machen und in den Tag zu starten, obwohl die beiden, wie sie sagen, noch keine Pläne hätten. Die 29-Jährige sieht nicht so aus, wie man sich eine Obdachlose vorstellt. Sie trägt hochhackige Lederstiefel und einen feinen Lederrucksack, ihre Haare sind frisch gewaschen und gekämmt. „Wir sind super Leute", grinst Dino in Anspielung auf das Super Bowl Village, und kündigt noch eine kleine Protestaktion an: „Unser Bürgermeister Lee sagt, es gäbe kein Obdachlosenproblem. Wir werden unser Zelt in seinem Garten aufschlagen, dann wird er schon sehen. Ist uns egal, ob wir verhaftet werden. Er lässt fünf Millionen Dollar für den Super Bowl springen, davon hätte er uns doch 250.000 abgeben können. Er hätte uns einen Kaffee und Donut kaufen können. San Francisco macht mit dem Super Bowl einen großen Reibach, Hunderte von Millionen, und trotzdem gibt uns dieser Mistkerl nichts ab."

Dass sich Bürgermeister Lee keiner großen Beliebtheit erfreut, ist auch am Mittwochnachmittag unschwer zu erkennen, als verschiedene Organisationen zu einer Demonstration unter dem Motto „Tackle Homelessness" aufrufen. Auf den Plakaten stehen Slogans wie „People Before Profit", „House Keys Not Homelessness" oder „No Penalty for Poverty". Viele Schilder ziert eine Karikatur des Bürgermeisters, dem beim Sprechen lauter Footbälle aus dem Mund kommen. Einige der Demonstranten tragen Zelte auf ihren Schultern, als Protest gegen gewaltsam von der Polizei durchgesetzte Abtransporte von Obdachlosen. „Stop the Class War" hat jemand auf das Zelt geschrieben, links und rechts daneben sind weiße Blumen aufgemalt. Die Situation ist angespannt. Die Beamten des San Francisco Police Departments beobachten die Zeltträger mit Argusaugen, es soll um jeden Preis verhindert werden, dass die Zelte auf der Straße vor dem Fanfest verankert werden können; gewaltsame Szenen und Verhaftungen sollen den größtenteils ahnungslosen Super-Bowl-Touristen erspart bleiben.

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Bei der „Tackle Homelessness"-Demonstration

Die knapp 200 Demonstrationsteilnehmer sind bunt durchmischt. Obdachlose, Aktivisten und Sozialarbeiter vermischen sich mit Linksalternativen, Mittelständlern und Akademikern. Der Demonstrationszug endet am historischen Ferry Building, in unmittelbarer Nähe zur Super Bowl City werden die Kundgebungen gestartet. Zwei Tage zuvor hatte hinter dem Zaun Aloe Blacc auf der von Levi's präsentierten City Stage gestanden und wurde vom Publikum für seinen Welthit „I need a Dollar" gefeiert. Der blanke Hohn, vermutlich ohne dass dem Soulstar dies bewusst war. Zwischen den Demonstranten und den Eingängen zum Fanfest positioniert sich eine fast identische Anzahl behelmter Einsatzkräfte, man könnte sich auch beim 1. Mai im Hamburger Schanzenviertel wähnen. Auf der anderen Seite, zur Bucht hin, drängen sich die Menschenmassen an der Demo vorbei: Jogger, Radfahrer, Touristen und Tagespendler, die pünktlich zu ihrer Fähre wollen, es ist mittlerweile Feierabendzeit. „Wir wollen Gerechtigkeit für alle obdachlosen Menschen", wettert einer der Redner. „Wie kann Ed Lee es wagen zu sagen, dass er alle obdachlosen Menschen aus San Francisco rausschmeißen will für diese dämliche Super Bowl City?" Die Lokalpolitik hofiere die Reichen, während die Bedürftigen nicht nur zur Seite gedrängt würden, sondern auch noch kriminalisiert, lautet der Vorwurf.

„Viele von uns haben eine kriminelle Laufbahn hinter sich," bekennt Lee, „aber wir werden auch kriminalisiert." Lee steht in schwarzen Tennissocken vor seinem Zelt unter dem Freeway. Obwohl es sommerliche 20 Grad sind, trägt er mehrere Kleidungsschichten übereinander. Seine Jeans ist etwas zu weit, über einem langärmeligen Shirt trägt er ein kariertes Hemd und eine Daunenweste. Um den Hals hat er sich einen Strickschal gebunden. Kürzlich sei Lee verhaftet worden, weil er ohne funktionierendes Fahrradlicht über den Parkplatz eines Baumarkts fuhr, mitten im Industriegebiet, anderthalb Wochen verbrachte er anschließend in Haft. „Sie denken sich irgendwas aus, um uns von der Straße zu holen. Wenn du nicht Folge leistest, gehst du in den Knast, oder sie verhauen uns." Ob die Polizisten Gewalt anwenden oder nicht, hänge davon ob, wie sehr man kooperiere, erklärt Lee: „Wenn du sie ihren Job ein wenig machen lässt, bekommst du eine kleine Abreibung. Wenn du sie ihren Job machen lässt, bekommst du eine derbe Abreibung." Nur unmerklich bewegt Lee beim Sprechen seine Lippen, so manch ein Pokerspieler würde ihn um seine festgemeißelten Gesichtszüge beneiden. Seit einem Jahr lebt Lee auf der Straße. Als seine Kraftfahrerlizenz auslief und ihm die 1.300 Dollar fehlten, um den Führerschein zu erneuern, verlor er seinen Job, und wenig später seine Wohnung. Der 40-Jährige zieht mehrfach die Nase hoch, während er das erzählt, er klingt ziemlich verschnupft. An Bürgermeister Lee lässt er kein gutes Haar: „Denen geht es nur um das Wohl ihrer Geldbeutel, nicht um das Wohl der Leute. Sie wollen nicht, dass wir armen Leute die Reichen beim Einkaufen stören. Anstatt sinnvolle Lösungen zu finden, werden wir nur umhergeschubst."

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Lee vor seinem Zelt

Herumgeschubst fühlen sich auch die Künstler der San Francisco Arts Commission, obwohl diese eine weitaus bessere Lobby als die Obdachlosen haben. Normalerweise verfügt die Arts Commission über etwa hundert Stellplätze rund um den Justin Herman Plaza, der die Market Street vom Ferry Building trennt. Seit über vierzig Jahren beziehen lokale Künstler rund um den Park ihre Stände. Wird der Platz anderweitig benötigt, zum Beispiel für Dreharbeiten eines Filmteams, erhält die Arts Commission eine lukrative Kompensation und schüttet diese großzügig an die betroffenen Kleinhändler aus. Der Justin Herman Plaza gehört nun aber zu dem Bereich, den die NFL und ihre Sponsoren für ihre gigantische Super Bowl City in Beschlag genommen haben. Eine Entschädigung zahlt weder die NFL noch die Stadt. Als Ersatz für die hundert Stellplätze, die den Künstlern wegen der Auf- und Abbauarbeiten an insgesamt drei Wochenenden nicht zur Verfügung stehen, wurden der Arts Commission zehn weitaus weniger attraktive Alternativplätze entlang der Market Street angeboten, die täglich um 9 Uhr per Losverfahren an die Händler verteilt werden.

Jeffrey Porter hat seinen Stand im vorderen Bereich der Market Street aufgebaut, in Sichtweite der Super Bowl City. Eine Erlaubnis dafür hat er nicht, die genehmigten Alternativplätze befinden sich weitere zehn Minuten Fußmarsch stadtauswärts, etwas abseits des Geschehens. „Ich bin ein Rebell", lächelt Jeffrey und rückt seine Baskenmütze zurecht. „Immerhin werde ich hier geduldet, die Polizei lässt mich gewähren. Die Alternativplätze sind nicht zu gebrauchen." Jeffrey verkauft selbstgemachten Schmuck, doch das Geschäft läuft schlecht während der Super-Bowl-Woche, sein Umsatz ist um 70 Prozent eingebrochen. „Wir haben hier eine Party, und wir wurden ausgeladen. Es geht doch einzig um den ganzen Schrott der Großkonzerne, die mit der NFL zusammenhängen. Ein Kollege von mir hat es gewagt, NFL-Logos auf seine Artikel zu machen, das wurde gleich konfisziert." Das Gespräch kommt auf den neuen Will-Smith-Streifen „Concussion" (deutscher Titel: „Erschütternde Wahrheit", seit dem 18. Februar auch hier im Kino), der sich mit den möglichen Spätfolgen einer NFL-Karriere befasst, eine David-und-Goliath-Geschichte, die kein gutes Licht auf die NFL wirft—und wahrscheinlich genau deshalb während der Super-Bowl-Woche in keinem einzigen Kino der Stadt gezeigt wird. Jeffrey wundert das überhaupt nicht: „Die NFL verhält sich immer mehr wie eine Dampfwalze. In dem Film sagt ein NFL-Funktionär den Satz: ‚Früher gehörte der Sonntag der Kirche, nun gehört er uns.' Und genauso verhält sich die NFL auch."

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Polizeipräsenz

Alle Kunsthändler stimmen überein, dass die Geschäfte den Bach runtergegangen sind, seit die NFL in der Stadt ist. Einige hätten täglich nur eine Handvoll Dollar eingenommen, andere sogar gar nichts. „Unsere Stammkunden wissen gar nicht, wo sie uns finden können", klagt John Ammann, der Holz- und Perlenschmuck sowie Glitzergummibänder verkauft. „Eigentlich müsste ich jeden Morgen mit meinem ganzen Krempel im Streetcar zum Fisherman's Wharf fahren, dort an der Lotterie teilnehmen und dann irgendwo anders meinen Stand aufbauen, aber das ist mir zu umständlich." Stattdessen hat der Kriegsveteran, dessen Kopf eine graue Kappe der zweiten US-Infanteriedivision ziert, seinen Stand auf der Straßenseite gegenüber von Jeffrey Porter aufgestellt. Sein Tischnachbar, der sich als Namensvetter vorstellt, kommt hinzu. Der andere John wird auch „The Gnome" genannt. Sein Äußeres macht kein Geheimnis daraus, woher dieser Spitzname stammt. Sein längst ergrauter Vollbart zottelt sich in alle Richtungen, das Gesicht ist zerfurcht von einnehmenden Lachfalten, seine blauen Augen so treuherzig, als befänden wir uns noch immer im „Summer of Love", und die Kleider wie aus der Altkleidersammlung. Wie ein alter Schrat eben aussieht. Die beiden sind sich einig, dass Bürgermeister Lee die kleinen Leute aus den Augen verloren habe. „Daran gibt's keinen Zweifel: Unserem Bürgermeister geht's nur ums Geschäft, das große Geschäft", meint der Gnom. Auch bei ihm liefen die Geschäfte schlecht. Und das obwohl am Vorabend mehrere Zehntausend in der Gegend rund um die Market Street unterwegs waren, um den Auftritt von Alicia Keys zu sehen. „Diese Krankheit nennt sich ‚No pockets among us', niemand hat ein Portemonnaie dabei", feixt der Gnom. „Die Leute kommen zu einem kostenlosen Konzert, da geben die kein Geld aus, vor allem nicht auf dem Weg dorthin, und schon gar nicht für Kunst."

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John „The Gnome"

Die Super Bowl City wird am Samstag bereits gegen halb vier geschlossen, die Kapazität von 17.000 Besuchern ist komplett ausgelastet, für den Rest des Abends werden keine Leute mehr eingelassen. In den Straßen rund um die Super Bowl City drängen sich die Menschen in alle Richtungen, um irgendwie einen Blick auf eine der Leinwände zu erhaschen, auf den Straßen Downtowns stauen sich die Autos, die Ordnungshüter stoßen zum ersten Mal in dieser Woche an ihre Grenzen. Der Veranstaltungskalender für den Samstagabend füllt gleich mehrere Seiten: Metallica rocken gerade den nahegelegenen AT&T Park, Heimat des MLB-Dauerchampions Giants. Parallel finden überall im Stadtgebiet exklusive Super-Bowl-Partys statt. Mit Ticketpreisen, die nicht selten im vier- bis fünfstelligen Bereich liegen. Bei der Super-Bowl-Party eines großen Musikmagazins präsentieren sich auf dem roten Teppich neben zahlreichen VIP-Gästen auch Sportstars wie Steph Curry oder Shaquille O'Neal. Auch der deutsche NFL-Spieler Markus Kuhn, von SAT.1 eigens als Super-Bowl-Experte engagiert, ist mit von der Partie. Die Tickets für den Galaabend kosten zwischen 1.500 und 55.000 Dollar.

Andrang vor der Super Bowl City

„Früher gab es diese Super-Bowl-Partys, damit die Leute, die beim Super Bowl arbeiten, sich irgendwie beschäftigen können. Doch mittlerweile haben die längst ein Eigenleben angenommen." Bruce Lyall sitzt am Schreibtisch bei Recycled Records, einem Second-Hand-Plattenladen in Haight-Ashbury, weit abseits des Super-Bowl-Epizentrums in Downtown. Von den vielen Touristen, die zum Super Bowl nach San Francisco kommen, bekommt Bruce wenig mit. Und er gesteht, dass der ganze Super-Bowl-Hype ihn ein wenig befremdet: „Als hier in der Gegend vor 30 Jahren zuletzt der Super Bowl ausgetragen wurde [im Stanford Stadium], bekam man davon in San Francisco gar nichts mit. Alles ist so kommerziell geworden. Und die kleinen Firmen profitieren kaum davon. Alles dreht sich nur um die Sponsoren der NFL." Auch Bruce verspricht sich keinen großen Kundenzulauf während der Super-Bowl-Woche. Zwar möchte jeder Ladenbesitzer gerne ein Stück vom großen Super-Bowl-Kuchen ab, bloß machen sich dort, wo sich die Touristen scharen, die Sponsoren der NFL breit. Trotzdem hat Bruce einige alte Football-Schallplatten ausgegraben und in der Rubrik Super Bowl direkt neben den Neuzugängen positioniert. Ein Werbekniff mit Augenzwinkern.

Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass im Zuge von Sportgroßveranstaltungen öffentliche Gelder in die Taschen von Funktionären und Großunternehmen fließen. „Die Verantwortlichen [der NFL] tun gar nicht erst so, als würden sie im Sinne des Sports oder der Fans entscheiden", stellte die Süddeutsche Zeitung vor wenigen Wochen fest. „Sie folgen einfach nur ihren eigenen Interessen." Doch selten werden soziale Missverhältnisse so offen zur Schau gestellt und liegen die Extreme so nah beieinander wie beim großen Super-Bowl-Jubiläum in San Francisco. Vom Nob Hill, dem noblen Hügel der Reichen, der so exklusiv ist, dass er auch „Snob Hill" genannt wird, muss man nur wenige Schritte gehen und ist mitten im Tenderloin District. Es ist der ärmste Stadtteil San Franciscos mit der höchsten Dichte an Hilfsbedürftigen; Drogenabhängigkeit und psychische Erkrankungen sind hier zu jeder Tageszeit allgegenwärtig, hier befinden sich zugleich die meisten Wohlfahrtseinrichtungen. Während oben vom Nob Hill das Kapital auf die grassierende Armut Tenderloins herabblickt, liegt am östlichen Ausläufer Tenderloins das edle Hilton Hotel, in dem neben NFL-Prominenz und auswärtigen Medienvertretern einige weitere Stars und Sternchen residieren.

Eine VIP-Party

Trotz solcher Auswüchse spricht Daniel Lurie, Vorsitzender des Super-Bowl-Ausrichtungskomittees, am Montag nach dem großen Finale vom „philanthropischsten Super Bowl aller Zeiten"; insgesamt 13 Millionen Dollar seien für lokale Hilfsorganisationen gespendet worden. Bruce Lyall glaubt jedoch nicht, dass mit dieser Summe viel erreicht worden sei. Der Mittsechziger hat seine eigene Erklärung, wieso sich die Obdachlosenproblematik in den letzten Jahren überhaupt nicht gebessert habe. „Die Hilfsorganisationen sind wie Pilze aus dem Boden geschossen, stehen sich letztlich aber gegenseitig im Weg und sind zu Super-Organisationen mutiert. So nenne ich das gerne, weil die Administration mehr Geld schluckt, als dass den Menschen tatsächlich geholfen wird." Bruce ist eine einnehmende Erscheinung, ausgelassen wie ein Honigkuchenpferd, selbst wenn er gerade nicht lacht. In seiner Jugend führte Bruce selbst ein Vagabundenleben, bereiste viel die Welt, schlief teilweise auch draußen. Dadurch hat er einen anderen Blickwinkel auf die Obdachlosensituation: „Was den wenigsten klar ist: Die Obdachlosen sind keine homogene Gruppe, die haben alle andere Beweggründe, deshalb gibt's auch keine Universallösung."

Alles andere als philanthropisch gestalten sich bekanntlich auch die Eintrittspreise für den Super Bowl. Ein Ticket wechselt für die Rekordsumme von 25.400 Dollar den Besitzer, der Durchschnittspreis liegt mit 5.660 Dollar ebenfalls auf Rekordniveau, unter 3.000 Dollar geht überhaupt nichts. „Als die Eintrittspreise Ende der 80er erstmals die 100-Dollar-Marke knackten, schrieb ich eine Kolumne darüber, wer denn bitte solche Preise bezahlen soll", schmunzelt Dave Newhouse. Er steht auf der Laufbahn im Kezar Stadium, die Sonne strahlt, zwischendurch laufen links und rechts junge Sportler vorbei. Das Kezar Stadium war von 1946 bis 1970 die Heimat der 49ers, es liegt am südöstlichen Rand des Golden Gate Parks. Damals konnten Fans der 49ers in ein Streetcar hüpfen und schon waren sie im Kezar Stadium. Heute sieht das anders aus, nun müssen mehrere Stunden dafür eingeplant werden. Seit 2014 tragen die 49ers ihre Heimspiele im 70 Kilometer entfernten Santa Clara aus, bekanntlich auch der Austragungsort von Super Bowl 50. Das Levi's Stadium ist aktuell das teuerste Stadion der NFL. „Die einfachen Leute können es sich gar nicht mehr leisten, ein 49ers-Spiel zu besuchen", beklagt der 77-jährige Buchautor und Ex-Redakteur. „Eine vierköpfige Familie ist mal locker 500 Dollar los. Außerdem ist der Sport viel unpersönlicher geworden, man bezahlt viel mehr Geld, hat aber gar keinen Zugang mehr zu dem Spiel, die Spieler werden vom Sicherheitspersonal komplett abgeschirmt."

Nicht nur wegen der krassen Entfernung zu San Francisco erfreut sich die neue Spielstätte, deren Baukosten von 1,3 Milliarden Dollar zu knapp einem Viertel von den Fans selbst finanziert wurden, keiner großen Beliebtheit. „Alles ist so teuer, die Sonneneinstrahlung ist schrecklich und es sitzen immer andere Leute neben dir", berichtet Chris im Canyon Inn, ein Imbiss mit Kultstatus bei 49ers-Fans. „Im Candlestick Park war alles noch so familiär, du kanntest alle Leute um dich herum. Im Levi's Stadium sind nun viele Firmen im Besitz der Dauerkarten, und die werden offensichtlich rumgereicht, dadurch ist alles viel anonymer. Dazu kommt die sterile Atmosphäre, alles im Stadion ist von Werbung und Sponsoring geprägt." Diese Hyperkommerzialisierung erreicht beim Super Bowl immer neue Höhen. Das Wirtschaftsmagazin Forbes ermittelte 2013, dass 60 Prozent der Super-Bowl-Tickets an Sponsoren, Geschäftsleute und ihre Kunden gehen. Unter den glücklichen Ticketbesitzern, die am Sonntagmittag mit eigens gecharterten Bussen aus dem Stadtzentrum San Franciscos zum Super Bowl 50 kutschiert werden, sind viele Stadiongänger auszumachen, denen es weniger um den Sport selbst als vielmehr um den Eventcharakter zu gehen scheint. Entsprechend unverschämt die Preise im Levi's Stadium: Ein Sandwich kostet 20 Dollar, eine Flasche Bier 13 Dollar, ein Glas Wein 12 Dollar, eine Portion Erdnüsse 7 Dollar, selbst ein Mineralwasser 7 Dollar.

'Shoeshine Wayne', der selbsternannte betgekleidete Schuhputzer der Stadt

Noch bevor um 15.30 Uhr pazifischer Ortszeit, bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen, der Super Bowl angepiffen wird, ist in der Super Bowl City die Demontage bereits in vollem Gang. Es wird noch einige Tage dauern, bis die Künstler an ihre angestammten Plätze zurückkehren können. Die Künstler nutzen den Leerlauf, um nachträglich eine Kompensation für ihre Umsatzeinbußen zu erstreiten. Auch am Dienstag sind die Abbauarbeiten längst nicht abgeschlossen, Gabelstaplerfahrer sammeln eifrig Paletten ein und verladen sie in Lastwagen, der Justin Herman Plaza ist weiterhin mit Bauzäunen abgeriegelt. Der Verkehr am Ferry Building und in der Market Street rollt wieder. Nur die schwer bewaffneten Polizeieinheiten, die zehn Tage lang das Stadtbild geprägt haben, sind verschwunden. Der eine oder andere Obdachlose wagt sich zaghaft in die Gegend zurück. Auch 'Shoeshine Wayne', seit 30 Jahren der selbsternannte bestgekleidete Schuhputzer in der Stadt, steht bestens gelaunt an seinem gewohnten Platz vor dem Hyatt Hotel. Langsam kehrt der Alltag nach San Francisco zurück.