Unterwegs bei der Mondlandung des Laufens

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Unterwegs bei der Mondlandung des Laufens

Nike wollte in dem Mega-Content-Marketing-Event Breaking2 die Marathon-Schallmauer von 2 Stunden knacken. Unser Autor, ein ausgewiesener Kneipensportler, hat vor Ort geprüft, wie weit der Mensch die Natur herausfordern kann - und sollte.

Als sich meine Augen an das gediegene Dämmerlicht des Hotelzimmers gewöhnt haben, fällt mein Blick auf den weißen Briefumschlag, der ungewollt gewollt auf meinem Bett drapiert ist. Kein Name – kein Absender. „Benvenuti a Milano! We are thrilled that you are here to be part of Nike's moonshot attempt: Breaking2." Ich streiche mit den Fingern über das besonders weiße und edle Papier. Der Willkommensgruß endet mit den Worten „History awaits". Mondlandung? Geschichte schreiben? In diesem Moment wird mir bewusst, wie ernst es Nike mit seinem Marathon-Rekordversuch wirklich meint.

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"The sub-two-hour marathon barrier is one of those rare ones that, if broken, can transform a sport."
- Sandy Bodecker, Vice President of Special Projects bei Nike, der „1:59:59" auf sein linkes Handgelenk tätowiert hat.

Niemals zuvor ist es einem Menschen gelungen, die 42,195 Kilometer in weniger als zwei Stunden zu rennen. Der aktuelle Weltrekord liegt bei 02:02:57, aufgestellt von Dennis Kimetto – einem Adidas-Athleten ­– 2014 in Berlin. Knappe drei Minuten über der imaginären Zwei-Stunden-Schallmauer also. Drei Minuten? Was sind schon drei Minuten, magst du dich jetzt fragen. Im Sport sind das Lichtjahre. Mindestens. 19 Jahre und acht Weltrekord-Zeiten waren für die letztmalige Verbesserung von 180 Sekunden nötig. Vieles, wenn nicht alles, spricht gegen Breaking2.

Ich lege den Brief andächtig auf den gläsernen Nachttisch und lasse mich auf das Bett fallen. Meine Beine sind schwer – und das, obwohl ich heute gerade einmal kein bisschen Sport gemacht habe. Was müssen das für Maschinen sein, frage ich mich. Maschinen, die 100 Meter in 17 Sekunden laufen. Und das ganze 420 mal am Stück.

Soeben wurde bekanntgegeben, dass bereits morgen früh der Rekordversuch stattfinden soll. In dem geplanten Drei-Tages-Zeitfenster verspricht der Samstagmorgen die besten Bedingungen. Nichts soll dem Zufall überlassen werden. Ein Zeitfenster wie bei einem Raketenstart. Verdammt, schon wieder dieser Mondlandungsvergleich.

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Der Wecker lässt mich um drei Uhr nachts aufschrecken. Ein kurzer Blick in meine hyperaktive Berliner Whatsapp-Gruppe erinnert mich daran, was ich üblicherweise freitagnachts treibe: Kneipenmarathon. Im Shuttlebus, der uns aus der Mailänder Innenstadt zur Formel-1-Strecke nach Monza bringen soll, werden meine Gedanken langsam klarer. Krass, Halbschlaf und Betrunkensein sind gar nicht mal so weit voneinander entfernt.

Aber verdammt, was mache ich hier eigentlich? Ich, der Ab-und-zu-mal-joggen-gehen-Typ. Ich, der Vollblut-Fußballfan. Ich, der absolute Anti-Laufsport-Fachjournalist. Zwei Reihen hinter mir diskutieren derweil die Vertreter von diversen Running-Magazinen gedämpft über die Chancen und Auswirkungen des Rekordversuchs. Jeder einzelne von ihnen ist selbst schon einen Marathon gelaufen. „Wird es wirklich passieren"? Klar, denke ich mir. Ich, der immerhin schon einmal 12 Kilometer gelaufen ist, bin überzeugt. Aber warum eigentlich?

Nike hat nichts dem Zufall überlassen. Die Athleten? Wurden nach zahlreichen Belastungstests, Gesprächen und medizinischen Analysen ausgewählt und monatelang auf diesen einen Tag vorbereitet. Ihre Ernährung wurde angepasst, das Training optimiert. Die Strecke? Wurde weltweit als am vielversprechendsten eingestuft. Faktoren wie Höhe, Wind, Bodenbelag, Kurssetzung, Temperatur und Infrastruktur passen. Das Material? Ein Team aus Wissenschaftlern und Designern entwickelte für den jeweiligen Athleten individuell angepasste Schuhe, Hosen, Shirts. Ja sogar besondere Waden-Tapes, um den Luftwiderstand zu reduzieren. Alles im Windkanal getestet. Natürlich. Doch was mich so besonders sicher macht: Die Ruhe und Sicherheit, die ich in den Augen des Teams gesehen habe. Ein Event der Größenordnung von Red Bull Stratos würde Nike niemals durchführen, ohne hundertprozentig von einem Erfolg überzeugt zu sein. Oder etwa doch? Wusste die NASA damals, dass das mit der Mondlandung klappt?

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Als wir den Parkplatz hinter der Haupttribüne in Monza erreichen, herrscht draußen bereits ein reges Treiben. Hunderte Menschen wuseln zwischen Akkreditierungszelten, der provisorisch aufgebauten Kaffeebar und dem Presseraum hin und her. Schweigend. In andächtiger Stille erledigt jeder seinen Job. Der Ordner genauso wie der Barista. In der Luft liegt eine positiv greifbare Anspannung. Auch ich verstehe langsam, was Nike in der Grußbotschaft meinte: Hier wird tatsächlich gleich Geschichte geschrieben. Wolken in sämtlichen Grauabstufungen überziehen den noch nächtlichen Himmel Norditaliens. Der Sonnenaufgang lässt noch auf sich warten. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Daunenjacke hoch bis unter das Kinn. Es hat 12 Grad. Genau die Temperatur, die man wollte. Noch eine Stunde bis zum Startschuss.


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Ob es einen Favoriten unter den drei Athleten gebe, wurden Dr. Brad Wilkins und Dr. Brett Kirby, die wissenschaftlichen Betreuer des Breaking2-Projekts, am Vortag gefragt. „Alle drei können es schaffen", lautete ihre einstimmige Antwort. Die beiden müssen es wissen. Schließlich haben sie die Sportler untersucht. Immer wieder und wieder. Dank Thermometer in Pillenform wussten sie bei Trainingseinheiten sogar über die Körperinnentemperatur bescheid. Kein Wunder also, dass Wilkins und Kirby in Interviews gerne von „Maschinen" und „Motoren" sprechen, wenn es um ihre Schützlinge geht.

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Einem wird „1:59:59" aber am ehesten zugetraut: Eliud Kipchoge. Der 32-jährige Kenianer gewann letztes Jahr Olympia-Gold in der Langdistanz und schrammte beim London-Marathon nur um wenige Sekunden am aktuellen Weltrekord vorbei. Dass auch Zersenay Tadese laufen kann, ist klar – dem 34-Jährigen wird bescheinigt, den effizientesten Laufstil weltweit zu haben. Der aktuelle Weltrekord im Halbmarathon kommt schließlich nicht von ungefähr. Nur über die doppelte Distanz konnte der 1,60 Meter kleine Eritreer sein Potenzial noch nicht komplett ausschöpfen. Um die angestrebte Zeit unter zwei Stunden zu schaffen, müsste er seine persönliche Marathon-Bestzeit um knappe elf Minuten unterbieten.

Komplettiert wird das Athleten-Trio von Lelisa Desisa. Der 27-jährige Äthiopier brachte das Kunststück zustande, bei seinem ersten Marathon zum Sieg zu laufen. In einer für ihn bis heute persönlichen Rekordzeit von 2:04:45. Bis heute?

"The real purpose of running isn't to win a race, it's to test the limits of the human heart."
- Bill Bowerman, Co-Gründer von Nike und legendärer Leichtathletiktrainer.

Mit dem heller werdenden Morgenhimmel steigt die Spannung ins Unermessliche. Die italienische Nationalhymne erklingt, als eine Gruppe Tempomacher die Zielgerade zum Aufwärmen hoch- und runterjoggt. Wobei: eher sprintet. Erstmals bekomme ich ein Bild davon, wie schnell die Jungs gleich rennen werden. Ich erinnere mich zurück an meine Sport-Abiprüfung: Damals ging ich an mein Leistungslimit, lief die geforderten 1.000 Meter in knapp drei Minuten und legte mich danach hyperventilierend auf die Wiese, um die Sterne vor meinem inneren Auge tanzen zu sehen. Kipchoge und Kollegen laufen gleich die 42-fache Strecke in jeweils 2:50 Minuten pro Kilometer. Die Nike-Doktoren hatten recht: Diese Typen müssen Maschinen sein. Auf diese Erkenntnis gönne ich mir erst einmal eine Kippe. Ist ja auch schon halb sechs Uhr morgens.

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Fünf Minuten vor dem Start ist der Pressebereich an der Ziellinie des Rundkurses gut gefüllt. 17 Mal werden die Läufer hier insgesamt vorbeilaufen. Doch bis zum entscheidenden Zieleinlauf sind es – hoffentlich – noch unter zwei Stunden. Ich gehe soweit wie möglich in die entgegengesetzte Richtung. 200 Meter die Strecke hinauf haben die Tempomacher ihr Base-Camp.

Um die Zwei-Stunden-Marke zu knacken, dürfen Kipchoge, Desisa und Tadese von Anfang an keine Sekunde liegen lassen. Hinter einem Elektroauto inklusive großem Wind-, pardon, Zeitanzeigeschild werden immer jeweils sechs „Pacer" laufen. Erst hinter ihnen dann die drei Rekordversuchskaninchen. Unter den insgesamt 30 wichtigen Helferlein sind ebenfalls Topathleten. Ex-Weltmeister, Olympiateilnehmer, Rekordhalter. Doch ihre Aufgabe ist es nicht nur, das geplante Tempo zu halten. Sie sollen den Rekordläufern noch einmal zusätzlichen Windschatten bieten. Dr. Kirby dazu: „Die Formation der Tempomacher basiert auf Forschungen und Windtunnel-Tests unseres Nike Sports Research Lab in der Universität von New Hampshire."

Meine fachkundige Meinung beim Blick auf die erstmals an mir vorbeifliegende Gruppe um Kipchoge und Co.: Pfeilformation? Ach so. Ja hm. Stimmt. Macht Sinn. Ist nämlich keine „Rocket-Science"…

Es ist Tag geworden. Die grüne Laserlinie, die das Führungsfahrzeug als Orientierungshilfe auf die Strecke projiziert hat, verschwindet Runde für Runde mehr auf dem groben Asphalt. Nach weniger als der Hälfte des Rennens fällt Lelisa Desisa überraschend zurück. So früh? Nach weniger als 20 Kilometern? Nicht einmal zehn Minuten später muss auch Zersenay Tadese abreißen lassen und ich verstehe die Welt nicht mehr. Ich suche in den Gesichtern der anderen nach Antworten. Und bekomme ebenfalls nur ratlose Blicke. Das, was hier gerade passiert, hat man so sicherlich nicht geplant.

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"It will be up to the runners to have one of those rare days where everything clicks."
- Joan Benoit-Samuelson. Die erste Marathon-Olympiasiegerin überhaupt hatte die Ehre, in Monza das Zielband zu halten.

Eliud Kipchoge läuft unbeirrt weiter. Rund, weich und mit konstant hohem Tempo. Ich beginne zu verstehen, was seine Betreuer meinten, als sie ihn als „Zen-Meister" beschrieben. Weltweit gibt es wohl keinen Läufer, der mental so stark ist. So stark, dass er 2015 in Berlin gewann – und das, obwohl ihm schon nach wenigen Kilometern die Einlegesohle halb aus dem Schuh rutschte. Hier und heute liegt es also wieder einmal an ihm, ein großes Projekt nicht scheitern zu lassen.

Und während Kipchoge in stoischer Gelassenheit die 30-Kilometer-Marke bei 1:25:20 überquert und voll im Soll liegt, muss ich an das wunderbar heroische Portrait-Video von ihm denken. Jeden, aber wirklich jeden Satz, den der 32-Jährige darin sagt, könnte man sich tätowieren lassen. Oder zumindest ins Poesie-Album der besten Freundin schreiben …

Eliud Kipchoge passiert die 40 Kilometer nach 1:54:04. Alles läuft nach Plan. Gebannt blicke ich abwechselnd zwischen der großen Videoleinwand und der digitalen Riesenuhr über der Ziellinie hin und her. Gnadenlos ticken die Sekunden. Der Kenianer passiert zum letzten Mal die Ziellinie. Noch eine Runde. Desisa, seit seinem Ausscheiden mit eigenen Pacern ausgestattet, hat Kipchoge zu diesem Zeitpunkt längst überholt. Keinen hält es mehr im warmen und bequemen Presseraum. Geschweige denn an der Espresso-Bar. Selbst das Nike-Product-Team um Schuh-Designer Stefan Guest steht an der Absperrung und brüllt Kipchoge nach vorne.

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Das Führungsfahrzeug wirft nach wie vor die magische 1:59:59-Linie auf den im Tageslicht inzwischen hellgrau strahlenden Beton. Nur befinden sich dahinter kein Paar Beine, das der Linie den Kampf ansagt. Eliud Kipchoge musste in den letzten zwei Kilometern etwas abreißen lassen. Nicht einmal 200 Meter hinter dem Fahrzeug setzt er zu einem großen Schlusssprint an. In seinem Gesicht ist abwechselnd Schmerz und Glück oder Beides auf einmal zu erkennen.

Er wird es nicht schaffen. Er wird es nicht schaffen. Die Digitaluhr zeigt für genau eine Sekunde die leuchtend roten Ziffern 1, 5, 9, 5, 9. 26 Sekunden später überquert Eliud Kipchoge zum 17. und letzten Mal an diesem Morgen die Ziellinie. Die Zuschauer jubeln. Erst etwas verhalten, dann immer lauter und lauter und lauter.

"The biggest monster of all is the Marathon."
- Bernard Lagat, fünffacher Olympiamedaillengewinner und Pacer bei Breaking2

Kaum wieder zu Atem gekommen, schnappt sich Paula Radcliffe den erschöpften Kenianer. Auf ein vorsichtiges „Ich weiß, wie du dich gerade fühlst, atme erst einmal durch" folgt die brutale Frage „Denkst du schon an die 26 Sekunden und wo du sie beim nächsten Mal sparen kannst?"
Oh du gnadenloser Leistungssport, was bist du doch für ein abscheuliches Biest.

Genau darauf stützen viele Kritiker des Breaking2-Projekts ihre Argumentation. Sie sehen in Nikes Versuch eine Perversion des sportlichen Gedanken. Mensch gegen Zeit. Mensch gegen Natur. Der Mensch gegen alles. Höher, schneller, weiter. Nur: Ging es im Sport nicht schon immer genau darum? Und: Ist es nicht die Motivation eines jeden einzelnen Menschen, sich immer weiter zu steigern, zu verbessern und nach den 100 Prozent zu streben?

Natürlich wurde dem Marathon ein wenig sein Reiz genommen, indem man bei Nike alle nur erdenklichen von Menschen zu beeinflussenden Faktoren bedacht hat. Nur warum finden wir das falsch? Schicken wir Astronauten zur ISS, ohne alles akribisch zu planen, und erklären ihnen mit einem verschmitzten Lächeln „Hey, keine Ahnung, ob genügend Sauerstoff in den Tanks ist, aber ist das nicht unglaublich aufregend?"

Das war auch schon der letzte Weltraumvergleich. Versprochen.

Vom flachen Betondach der Haupttribüne aus blicke ich auf die obligatorische Siegerehrung. Klar, kein Rennen ohne Sieger. Längst sind auch Desisa und Zersenay ins Ziel getaumelt. Letzterer immerhin mit persönlicher Bestzeit. Unter mir hält die Leichtathletik-Legende Carl Lewis eine Rede, doch ich höre ihn nicht. Sieg oder Niederlage, was war das eben? Ein Sieg, weil Eliud Kipchoge bewiesen hat, dass es nicht mehr lange dauert, bis die Zwei-Stunden-Marke fällt? Eine Niederlage, weil die Athleten es nicht geschafft haben, diese zu knacken? Ein Sieg, weil Nike sich traute, ein spektakuläres Content-Marketing-Projekt durchzuziehen? Eine Niederlage, weil die ganze Welt dabei zugesehen hat, wie die angepriesenen Produkte nicht den erhofften Erfolg brachten?

Es gibt hier wohl kein "richtig" oder "falsch". Die Realität ist, dass die sportlichen Leistungen schon immer ausgereizt wurden durch Hilfsmittel und verbesserte äußere Rahmenbedingungen. Und Breaking2 wird nicht das einzige Projekt dieser Größenordnung bleiben.

Dieser Inhalt wurde von der VICE-Redaktion ohne Einflussnahme von außen erstellt und vom Sponsor ausschließlich finanziell unterstützt.