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Mein Doppelleben als Hooligan hat mich meinen Job, meine Ehe und eine Menge Geld gekostet

„Ein Bürohengst schafft locker 150 Tastenschläge in der Minute. Jetzt stell dir vor, du hast zwei gebrochene Finger. Mehr als 30 sind dann nicht drin." Ein Ex-Hooligan hat sich für uns an sein turbulentes Doppelleben zurückerinnert.
Photos via @CasualMind_

Dieser Artikel erschien ursprünglich bei VICE Sports Niederlande

Zehn Jahre lang lebte Nick Hay* das Leben eines Casuals und Hooligans und reiste quer durch die Niederlanden, um sein Team anzufeuern—und die eine oder andere Schlägerei mitzunehmen. Für uns hat er sich an sein turbulentes Doppelleben zurückerinnert.

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Ein erfahrener Bürohengst schafft locker 150 Tastenschläge in der Minute. Jetzt stell dir aber vor, du hast zwei gebrochene Finger. Mehr als 30 sind dann nicht möglich.

So saß ich eines Tages im Büro, adrett gekleidet in meinem marineblauen Hugo-Boss-Anzug, und litt Höllenqualen.

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Denn das Problem bei der Sache ist ja, dass du schlecht zu deinem Chef gehen kannst, um ihm für den heutigen Tag ein bisschen Nachsicht abzuringen, so nach dem Motto: „Ich fahre jetzt doch mal mit meinen gebrochenen Fingern ins Krankenhaus, nachdem ich gestern Abend beim Spiel ordentlich ausgeteilt habe. Sie werden von den Ausschreitungen bestimmt in der Zeitung gelesen haben." Die Tatsache, dass mein Doppelleben als Hooligan nicht ohne Risiken ist, wurde mir zum ersten Mal an jenem Donnerstagmorgen so richtig klar—und das rund 30 Mal in der Minute.

Einmal, auf dem 50. Geburtstag meines damaligen Schwiegervaters, musste ich abrupt aufbrechen. Warum? Weil meine Freunde mit angelassenem Motor vor der Haustür standen. Irgendjemand hatten einen großen Mob unserer Gegner in der Innenstadt gesehen. Bevor ich die Tür hinter mir zuzog, schnappte ich mir noch den Lieblingsschirm vom Onkel meiner Ehefrau. Der könnte noch nützlich werden, dachte ich mir. In jener Nacht kam ich nicht nach Hause. Stattdessen habe ich die Nacht in einer Polizeistation verbracht, genauer gesagt auf einer verdreckten Matratze und einem Plastikkissen. Ich weiß noch heute, wie bei der kleinsten Kopfbewegung aus irgendeinem Loch im Kissen Luft entwich.

Als ich nach Hause kam, lagen überall Papierschipsel mit Telefonnummern in der Wohnung verstreut. Die waren aus einem Telefonbuch gerissen worden und enthielten die Nummern örtlicher Krankenhäuser und Polizeistationen. Denn nachdem ich festgenommen worden war, hatte ich meiner Familie keinerlei Nachricht zukommen lassen. Während ich Frust schob, weil Luft aus meinem komischen Kissen kam, schoben meine Liebsten zu Hause Panik und versuchten, die halbe Stadt zu mobilisieren. Wenig überraschend ging die Ehe mit meiner Frau zwei Wochen später endgültig in die Brüche.

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Fast ein Jahrzehnt lang gelang es mir, die zwei Extreme in meinem Leben unter einen Hut zu bringen. Kaum einer kann von meinem Doppelleben gewusst haben. Meine Fußballfreunde wussten von meinem Leben neben meiner Hooligan-Karriere, aber meine Arbeitskollegen und die meisten meiner Bekannten hatten keine Ahnung von meiner dunklen Seite. Mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass dieses Versteckspiel das Ganze noch viel aufregender gemacht hat.

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Es muss um das Jahr 2009 herum gewesen sein, dass sich meine aktive Karriere als Casual dem Ende näherte. Nichts kann eine Fußballsaison so sehr aufpeppen wie Pokalauslosungen. Jeder U-Boot-Fan kriegt es hin, sich am Saisonanfang Tickets für Spiele gegen hochklassige Gegner zu sichern. Das muss keiner vor seiner Familie und seinen Kollegen verheimlichen. Doch bei Pokalspielen wird es spannend—und wenn man so will, trennt sich da die Spreu vom Weizen. Sie kommen gefühlt aus dem Nichts und machen Vorausplanen fast unmöglich. Man hat keine Urlaubstage mehr und ist beruflich und familiär eigentlich schon verplant. Genau an dieser Stelle drohen die zwei verschiedenen Leben zu kollidieren.

Und diese Stelle war mal wieder ein Mittwochabend. Das Pokalspiel begann um sieben. Die Ansetzung war ein totales Desaster für jeden Hooligan mit Frau und Kind und einem Job. Denn du musst dir eigentlich den Nachmittag frei nehmen und am nächsten Morgen deiner Frau und deinem Chef ins Gesicht schauen können. Das birgt natürlich erhebliche Risiken.

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An jenem Mittwochvormittag habe ich meine Arbeit, E-Mails und Wasserspender-Gespräche im Eiltempo über die Bühne gebracht, um mit einer dämlichen Ausrede schon um die Mittagszeit das Büro zu verlassen. Es war mal wieder an der Zeit, meine dunkle Seite rauszulassen.

Passend dazu: Die Väter der Ultrà-Hipster—die Geschichte der „Casuals"

Nur gibt es manchmal Tage, an denen alles schiefgehen will. Und dieser furchtbare Mittwoch war einer davon. Unsere Organisation war an dem Tag richtig beschissen, so dass wir am Ende in die unterste Ecke der Tribüne gedrängt wurden, direkt neben den Spielertunnel. Plötzlich tauchte vor unseren Augen eine beträchtliche Anzahl an gegnerischen Schlägern auf, die schnurstracks in unsere Richtung kamen. Am Ende eines extrem brutal geführten Kampfes hatte ich eine riesige Wunde am Bein und zwei gebrochene Finger. Schon wieder.

Am nächsten Morgen wankte ich schmerzerfüllt über den hochflorigen Teppich in meinem Büro und tat so, als sei nie etwas geschehen. Der Kollege aus der Buchhaltung erwähnte in der Kaffeeküche die Ausschreitungen und sprach von einer „Schande" für den Fußball. Zur gleichen Zeit spürte ich, wie meine teure Anzugshose an der frischen Wunde an meinem rechten Oberschenkel festklebte. Das war mir aber egal. Ich war in der Nacht zuvor in meinem Stolz verletzt worden. Und das brauchte Zeit zu heilen.

Gleichzeitig war mein Stolz auch meine größte Motivationsquelle—und der Grund dafür, dass ich bereit war, alles zu riskieren. Den meisten Leuten reicht ein guter Job oder ein nettes Auto, ich habe mich aber mehr mit der dunklen Seite meines Doppellebens identifiziert. Hooligan sein und ein großes Ego haben. Alles aufs Spiel zu setzen, nur um den Adrenalinrausch zu spüren: Für mich war es das wert.

Am Ende hat mich mein Leben als Hooligan einen großartigen Job gekostet, nachdem ich von den Behörden als „Bedrohung für die nationale Sicherheit" eingestuft worden war. Das empfand ich damals als eine ziemliche Übertreibung, andererseits habe ich den Großteil meines Geldes und meines Urlaubs für meine Hooligan-Aktivitäten verbraten. Wäre ich kein Hooligan geworden, hätte ich mein Studium locker fünf Jahre früher beendet und würde mittlerweile bestimmt ein Haus, einen Hund und eine liebenswerte Frau mein Eigen nennen können. Trotzdem habe ich an jenem Mittwoch keinerlei Zweifel hinsichtlich meines Tuns gehabt, als ich mich mit einer schlechten Ausrede im Büro entschuldigte, um mein anderes Leben zu leben.

* Nick Hay ist ein Pseudonym. VICE Sports kennt seinen richtigen Namen.