FYI.

This story is over 5 years old.

News

Zwei Nächte in den Schützengräben von Slowjansk

Mörserbeschuss, Panzerschlachten und Kettenraucher: ein Frontbesuch bei den ostukrainischen Separatisten.

Alle Fotos vom Autor

Als ich in der Ostukraine unterwegs war, um die Ereignisse nach dem Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu verfolgen, entschlossen ein befreundete Fotograf und ich uns dazu, einen Abstecher in die Hochburg der pro-russischen Separatisten zu unternehmen: die Stadt Slowjansk. Die zwei Stunden Fahrt von Donezk nach Slowjansk ist gespickt mit mindestens einem Dutzend Checkpoints.

Anzeige

Die Stadt lebt mittlerweile von der Außenwelt fast abgeschottet, die Versorgung ist sehr dürftig. Es ist quasi unmöglich, Geld abzuheben, und kein Händler akzeptiert Kreditkarte—allein in den Restaurants sind die Preise um 10 Prozent gestiegen. All das sind Folgen der internationalen Ereignisse, die mit dem Referendum auf der Krim begonnen und die mittlerweile im Donezbecken angekommen sind.

Nach der Ankunft haben wir dem ehemaligen Hauptquartier des SBU, des mittlerweile von Separatisten besetzten Sicherheitsdiensts der Ukraine, einen Besuch abgestattet. Wir wollten uns hier die sagenumwobene Akkreditierung besorgen, die es einem erlaubt, sich ohne allzu große Probleme in der Gegend zu bewegen. Nach einigen Tagen auf den Barrikaden von Slowjansk beschlossen wir, uns näher an die Kämpfe und die Zonen unter Bombardierung zu wagen. Unsere Wahl fiel auf die ein paar Kilometer entfernte Stadt Semeniwka.

Als wir endlich dort ankommen, wurde gerade ein Haus bombardiert, eine am Kopf verletzte Zivilistin wird evakuiert. Einige Fotos später machen wir uns auf den Weg zu den Barrikaden.

Eine von einem Mörser am Kopf verletzte Zivilistin bei der Evakuierung aus Semeniwka

Zufälligerweise spricht einer der Anführer der Separatisten einigermaßen ordentlich Englisch—und aus irgendeinem Grund scheint er mich zu mögen. Er zeigt mir die Stellungen der ukrainischen Armee und erklärt mir die Waffen, die seine Männer benutzen. Und er erzählt mir von ihrem Tagesablauf, den sie vor allem mit Teetrinken, Kettenrauchen und Verstärken des Checkpoints zubringen.

Anzeige

Separatisten ruhen sich in Semeniwka aus.

Während unser Unterhaltung wird es langsam dunkel. Irgendwann haben wir keine Wahl, als bei ihnen zu bleiben. Unser Fahrer ist bereits weg, und zwischen Mitternacht und 6 Uhr morgens herrscht Ausgangssperre.

Die erste Nacht ist eher ruhig, die Separatisten wirken eher so, als würden sie eine große Show abziehen. Ich hatte jedenfalls den Eindruck, dass sie einfach wie die Bekloppten ins Leere schossen und sorglos Munition verballerten. Von der ukrainischen Armee kam keine Reaktion. Die relative Ruhe erlaubte uns aber immerhin, die Umgebung auszukundschaften: die Schützengraben, die Rückzugstellungen, die Bunker etc.—was sich in der zweiten Nacht als sehr nützlich herausstellen sollte.

Nur die Mücken fressen uns sprichwörtlich auf. Wir versuchen also, in einer Art Herberge ein paar hundert Meter von den Stellungen zu schlafen, die die Separatisten als Kantine und Unterkunft nutzen. Wir gehorchen den Einweisungen sehr genau und legen uns in eine Ecke des Hauptraumes, damit uns im Fall eines Bombenangriffs nicht die Decke auf den Kopf fällt.

In der Herberge posieren Separatisten für ein Foto.

Nach einer kurzen Nacht kehren wir zu den Barrikaden zurück. Die Separatisten bestätigen uns, dass die Nacht auch weiter ruhig geblieben war. Es ist Zeit für uns, nach Slowjansk zurückzukehren.

Als wir das nächste Mal nach Semeniwka kommen, wirken die Kämpfer angespannter. Die Barrikaden werden verstärkt, neue Schützengraben ausgehoben. Da wir zu einer späteren Stunde als das letzte Mal gekommen sind, wollen wir einen Rundgang in der Umgebung machen und uns in der Herberge was zu essen zu holen, bevor wir eine weitere Nacht mit den Separatisten verbringen.

Anzeige

Links: der Checkpoint wird mit einem Kran verstärkt. Rechts: Die Separatisten am Checkpoint beobachten herannahende Fahrzeuge.

Die Bewohner von Slowjansk hatten unsere Anwesenheit nicht wirklich verstanden, und sie verstanden auch nicht, dass wir soviel Zeit am selben Ort verbrachten. Hier ist es das gleiche. Wir können noch so oft erklären, dass wir kein Interesse haben, irgendwo in zehn Minuten Illustrationsfotos zu schießen, sondern dass wir mit Menschen Zeit verbringen müssen, um sie zu verstehen—ihre Verwunderung wird nicht wirklich weniger.

Nach einer Suppe, einem Tee und einigen Käse-Crêpes sind wir bereit für die Nacht—dieses Mal mit Mückengift. Zurück auf der Barrikade erklärt uns der Anführer noch einmal, wie wir uns im Fall von Artilleriebeschuss verhalten sollen. Die Nacht wird immer dunkler.

Es vergehen kaum zehn Minuten, bis die ersten Mörserschüsse fallen. Alle sind überrascht, weil solche Angriffe normalerweise erst später in der Nacht anfangen. Hinter einer Barrikadenmauer kauernd warte ich eine Feuerpause ab, um in einen der Schützengräben zu kommen, die mit Betonplatten gesichert sind. Im ersten Moment der Stille sprinte ich so schnell ich kann zum Unterschlupf.

Meinen Freund sehe ich nicht mehr, ich dachte, der wäre schon drin. Dann wird mit klar, dass er sich in dem Bunker eines zwanzig oder dreißig Meter entfernten Hauses versteckt haben muss. In der nächsten Feuerpause nehme ich all meinen Mut zusammen und verlasse mein Versteck. Ich versuche, in der Dunkelheit meinen Weg zu finden und mich an alle Hindernisse auf dem Weg zum Bunker zu erinnern. Ich schaffe es gerade so, nicht hinzuknallen, als ich die Treppe runterstürze und mich in eine Ecke werfe. Mein Begleiter sitzt da mit zwei Separatisten, ich bin erleichtert.

Anzeige

Ein Separatist verlässt den Bunker, in dem er sich vor dem Mörserbeschuss gerettet hatte.

Die Separatisten scheinen genauso nervös wie wir zu sein. Sie stellen sich auf die Treppe und befehlen uns, uns nicht vom Fleck zu rühren. Ehrlich gesagt hatte ich das auch nicht vor: Ich kann hören, wie genau über mir eine Salve nach der anderen niedergeht. Für einen Augenblick ärgere ich mich: Wir hatten uns eine weitere ruhige Nacht erhofft, um bei den Kämpfen am Morgen dabei zu sein. Mitten in der Nacht ist es fast unmöglich, gute Fotos zu machen.

Mittlerweile scheint sich der Schlagabtausch draußen etwas zu beruhigen. Der Anführer kommt und versichert uns, dass alles gut läuft. Gleichzeitig bringt er die Bazookas und Panzerfäuste in Sicherheit. Ich finde die Idee nicht so genial, die Dinger direkt in unserem Unterschlupf zu lagern.

Links: Im Bunker mit den schweren Waffen der Separatisten. Rechts: Schrapnell

Die Jungs klettern wieder hoch und geben uns noch einen Tipp: „Wenn die Armee angreift, nehmt eure Pässe raus und ruft, dass ihr Journalisten seid. Und wenn sie eine Granate in den Bunker werfen, legt euch da rein.“ Dabei zeigen sie uns eine Badewanne, die in der Ecke eines kleinen Zimmers steht. Nach diesen nicht wirklich mutmachenden Ratschlägen warten wir noch eine Weile gespannt. Wir wissen nicht, ob wir bis zum Morgen warten müssen, bevor wir raus können. Plötzlich weiß ich nicht, was mit mir passiert, es müssen die Nerven sein—plötzlich fange ich völlig unkontrolliert an, wie ein Wahnsinniger zu lachen, minutenlang. Meine Reaktion überrascht mich und macht mir Angst—aber ich sage mir, dass ist immer noch besser, als gelähmt zu sein.

Anzeige

Irgendwann kommen die Separatisten zurück, um nach uns zu sehen. Sie erklären uns, dass sie einen Rundgang gemacht haben und schenken uns ein paar Schrapnell-Stücke („Souvernirs, nur für euch!“), die wir höflich annehmen.

Der Anführer erklärt uns, dass seine Männer die Artilleriestellungen der ukrainischen Armee ausgekundschaftet hätten und wir außer Reichweite seien. Wir seien in ihrer „dead zone“—das bedeutet, dass sie über uns hinausschießen—und hätten somit die Chance, mit unseren Fotoapparaten rauszugehen. Na gut, sagen wir uns, wir gehen mit raus.

Vorsichtig und gedeckt von jeweils einem bewaffneten Mann versuchen wir, Fotos von den Leuchtgeschossen zu schießen, die tatsächlich über unsere Köpfe hinwegziehen.

Ein Leuchtgeschoss erhellt eine der Barrikaden von Semeniwka, auf der „Willkommen in der Hölle“ geschrieben steht.

Wir denken nicht daran, den Blitz rauszuholen, aber die Kämpfer erinnern uns trotzdem daran. Die Scharfschützen der Armee würden uns zu schnell entdecken. Damit ist klar: ab jetzt läuft alles manuell, mit 25.000 ISO und einer Viertelsekunde Belichtungszeit.

Links: Bewaffnet mit einer Kalaschnikow beobachtet der Anführer die ukrainischen Stellungen in der Ferne. Rechts: Ein Soldat beim gerade angekommenen Panzer der Separatisten.

Schließlich hören die Leuchtgeschosse auf. Dafür fangen die Mörser wieder an, und alles rennt, um sich in Sicherheit zu bringen. Nach einer halben Stunde sagen uns die Milizionäre, dass man jetzt wieder an die Oberfläche kommen und sich hinter die Barrikaden stellen kann. Dann kommt die Artillerie. Wir hören ein lautes Brummen in der Nacht, das die Ankunft einer ihrer Panzer signalisiert. Er bringt sich in Stellung und beginnt, die ein paar Kilometer entfernten Stellungen der ukrainischen Armee unter Feuer zu nehmen. Es wird noch surrealer, als der Anführer uns ankündigt, dass er zweimal schießen werde, und dass man sich dann auf Vergeltungsschläge einstellen müsse. Da wir aber immer noch in der dead zone sind, entschließen wir uns zu bleiben.

Anzeige

Nach fünf Salven der Rebellen hören wir etwas, das wie eine enorme Explosion klingt. Man bestätigt uns, dass sie gerade einen gegnerischen Panzer zerstört haben. Wir können das natürlich nicht verifizieren, aber trotz der Entfernung war der Krach beeindruckend. Danach beschäftigen die Separatisten sich für eine Viertelstunde damit, mit einem riesigen Maschinengewehr durch die Gegend zu schießen.

Kurz vorher war es der ukrainischen Armee gelungen, eine Bude weit hinter der Barrikade zu treffen. Als wieder Ruhe einkehrt, machen uns wir uns dorthin auf, um Fotos zu schießen.

Ein Separatisten-Kämpfer vor dem brennenden Laden.

Dieses Foto markierte das Ende unserer Nacht. Wir legten uns in die Herberge, um noch eine Stunde zu schlafen, bevor die Sonne aufgehen würde. Die Nacht war lang.

Michael Bunel ist Fotojournalist. Seine Bilder wurden bereits in Publikationen wie Newsweek, der New York Times und 20 minutes veröffentlicht. Mehr von seiner Arbeit könnt ihr auf seiner Website sehen.

Der Autor möchte seinen Freunden und Kollegen Rafael Yaghobzadeh, Romain Carré, Andrea Rocchelli, Andrey Mironov, Thomas Fédérici, den Fahrern, seiner Familie und allen, die an ihn geglaubt haben, danken.