FYI.

This story is over 5 years old.

ISLAND

Das Gedächtnis des isländischen Fußballs

Die isländische Nationalmannschaft hat sich sensationell zum ersten Mal für die EM qualifiziert. Wie hat das der 300.000-Einwohner-Staat geschafft? VICE Sports sprach mit Vidir Sigurdsson, dem Gedächtnis des isländischen Fußballs.
Foto: Fabian Held

Die isländische Nationalmannschaft hat am Sonntag die Sensation geschafft und sich souverän zum ersten Mal für die Fußball-Europameisterschaft qualifiziert. Wie hat das der 300.000-Einwohner-Staat geschafft? Um das zu erfahren, hat VICE Sports Vidir Sigurdsson getroffen.

Sigurdsson gilt als das Gedächtnis des isländischen Fußballs. Auch wenn er sich selbst nicht gerne so bezeichnet. Er ist ein zurückhaltender Mann, der mit ruhiger Stimmen und Bedacht spricht. Im Interview spricht der Sport-Redakteur der Tageszeitung Morgunbaldid über die Geschichte des isländischen Fußballs und dessen Entwicklung.

Anzeige

VICE Sports: Als du das erste Jahrbuch des isländischen Fußballs geschrieben hast, wie war damals die Situation?
Vidir: Es war eine schlichtere Angelegenheit, in allen Aspekten. Die Liga war damals eine Amateur-Liga, wie sie im Buche steht. Heute ist sie zumindest Semi-Professionell. Auch ist das Umfeld professionell geworden, die Stadien und so weiter. Du magst sagen, dass unser Nationalstadion in Deutschland ein 3. Liga-Stadion wäre—ich will nicht wissen, was du 1981 gesagt hättest.

Außerdem haben 1982 noch wenige Spieler außerhalb Islands gespielt. Vor dem Bosman-Urteil konntest du nur ein oder zwei Ausländer in deinem Team haben. Daher waren nur die Top-Spieler aus Island professionelle Fußballer. Jetzt kann jeder überall hin gehen und es ist eine komplett andere Situation. Damals war Island froh einen Sieg in eine Qualifikations-Gruppe zu holen. Ein Sieg—das war großartig.

War damals das Interesse am Fußball das gleiche?
Das Interesse war immer schon groß. Bei den Nationalmannschafts-Spielen war das Stadion fast immer ausverkauft. Wir hatten ja auch großartige Mannschaften, die hierher reisten.

Wie sah es mit der Infrastruktur aus?
Man kann sagen, das war alles Amateur-Niveau.

Gab es einen bestimmten Punkt, an dem sich die Dinge verändert haben?
Es war eine stetige Veränderung, über einen langen Zeitraum. Die Leute sehen nur den jetzigen Erfolg und vergessen sehr schnell, dass wir schon in der Vergangenheit einige ordentliche Teams hatten, die kurz vor der Qualifikation standen. In den Jahren 1998 und 1999 hat Island um einen Platz in der EM gekämpft. Wir waren in einer verrückten Gruppe mit Frankreich, Russland und der Ukraine. Bis zum letzten Spieltag hatten wir die Chance uns zu qualifizieren. In einem der erinnerungswürdigsten Spiele hier in Island, hat die Mannschaft unentschieden gegen Frankreich gespielt. In der ersten Partie nachdem sie zum Weltmeister gekrönt wurden! Im Jahr 2003 spielte Island gegen Deutschland in der letzten Partie in Hamburg um den Einzug in die Europameisterschaft. (Anm. d. Verf.: Und verlor dann 0:3).

Anzeige

War die Quali 98-99 das erste Mal, dass ihr das Gefühl bekommen habt, im Fußball etwas erreichen zu können?
Nein, nicht wirklich. Es gab immer wieder vielversprechende Resultate.

Eine glückliche Qualifikation für die EM 2016 haben euch nach dem denkbar knappen verpassen der WM 2014 sicher einige zugetraut. Aber in dieser Gruppe und bereits zwei Spieltage vor Schluss?
Die Leute haben hier sehnsüchtig auf die Gruppenauslosung für die Qualifikations-Gruppen gewartet und dann haben wir die Niederlande, Tschechien und die Türkei bekommen. Viele waren dann der Meinung: Dieses mal werden wir es nicht schaffen. Was passiert ist? Es hat alles damit zu tun, wie du in den Wettbewerb einsteigst. Wir hatten ein Heimspiel gegen die Türkei und das Team spielte großartig, gewinnt 3:0. Von diesem Tag an hatten die Spieler das Selbstbewusstsein und die Leute haben angefangen zu fliegen. Ein Spiel führte dann zum Nächsten. Es ist ein Märchen.

Wie hat sich die Qualifikation für dich angefühlt, nachdem du jetzt so viele Jahren den Fußball in deinem Land begleitest?
Ich war nicht so überwältigt, wie ich das erwartet hätte. Sogar vor dem Rückspiel gegen die Niederlande in Amsterdam war ich mir sicher: Unser Team fährt nach Frankreich. Der Sieg gegen Tschechien im Juni war der Schlüsselmoment. Danach war es simple Mathematik: Wir schlagen Lettland und Kasachstan zu Hause und wir sind sicher durch.

Nach dem Abpfiff des Kasachstan-Spiels hatte ich den Eindruck, dass sich alle Isländer wirklich freuen, aber irgendwie nicht so richtig den Plan hatten, wie sie das Event feiern sollten. Wie hast du es erlebt?
Genau so. Aber für mich war es vor allem Arbeit, über das Spiel schreiben und so weiter. Da war nicht so viel Feierei in meinem Kopf. Aber schau mal: Eigentlich wollte das Team zum gemeinsamen Abendessen gehen, aber auf einmal hat irgendwer eine Party Downtown organisiert und auf einmal gehen alle dort hin. In Deutschland wäre strickt eins nach dem anderen abgelaufen. Aber hier ist es irgendwie einfach passiert.

Anzeige

Müssen die Isländer das Feiern von Fußball-Festen noch lernen?
Ja, vielleicht. Aber ist es nicht am besten, wenn man alles so macht, wie man das möchte? Man kann ja nicht alles planen.

Werden wir die Isländer denn jetzt regelmäßig bei der Europameisterschaft sehen?
Ich glaube es gibt eine gute Chance uns weiter zu entwickeln. Die meisten Spieler im Team sind in einem guten Alter. Sie werden noch mindestens vier Jahre weiter spielen. Wir haben vielversprechende Spieler, die jünger sind. Die sollten integriert werden. So wie sich das hier entwickelt hat, mit den Jugendtrainern und den vielen jungen Spielern, die im Ausland Profis werden, bin ich mir ziemlich sicher, dass wir den Erfolg beibehalten können. Ich bin da sehr optimistisch.

Wie groß ist der Einfluss von Trainer Lars Lagerback auf das Team?
Er ist einer der großen Faktoren. Natürlich bekam er ein vielversprechendes Team an die Hand, nachdem er hier Trainer wurde. Der Coach vor ihm wurde oft unterschätzt. Er war vier Jahre lang Trainer, hat aber nicht viele Punkte gesammelt. Aber er hat irgendwann fast das komplette alte Team rausgeworfen und die jungen Spieler integriert, die noch in der U21 gespielt haben. Er gab ihnen die frühe Möglichkeit zu lernen. Als Lars Lagerbäck kam, hatten diese Spieler bereits die ersten Erfahrungen gesammelt. Er brachte vor allem noch mehr Disziplin und Systematik in das Team. Und er brachte Selbstvertrauen mit.

Anzeige

Welche Rolle spielt Heimir Hallgrimsson, euer zweiter Coach?
Heimir ist ein sehr organisierter Coach, mit einer Stärker in der Taktik und dem Lesen des Gegners und dem Vorbereiten des Teams auf den kommenden Gegner. Dazu ist er ein großartiger Charakter. Er kommt von den Westmännerinseln und die Leute von dort sind immer ein bisschen verrückt. Heimur passt so gut rein. Er und Lars - das ist eine gute Partnerschaft. Und Heimir ist hier sehr respektiert für das, was er im Clubfußball getan hat. Ich bin mir nicht sicher, ob Lars ohne Heimir so weit gekommen wäre.

Heimir ist der erste Trainer aus Island, der internationale Aufmerksamkeit bekommt. Ist er der erste eines Trainerschlages, der auch im Ausland arbeiten kann, wie es eure Spieler bereits tun?
Nachdem er die isländische Nationalmannschaft trainiert hat, kann er sicher ins Ausland gehen. Wir haben schon einige Trainer in den höchsten Ligen von Norwegen und Dänemark. Die Trainerkultur entwickelt sich so schnell, dass ich mir sicher bin, dass bald mehr isländische Trainer in Europa arbeiten werden.

Wie würdest du die Strategie, den Matchplan, eurer Nationalmannschaft beschreiben?
Es ist natürlich erstmal ein striktes 4-4-2, welches Lars mit dem ersten Spiel eingeführt hat. Dieses Team will den Ball besitzen - das ist ein Unterschied zu anderen Teams aus Island zuvor. Das Team fühlt sich sicher am Ball und hat die technischen Fähigkeiten das umzusetzen, was Lars und Heimir von ihnen verlangen. Das ist vielleicht die interessantes Entwicklung der letzten Jahre, dass die Mannschaft jetzt auch selbst die Initiative ergreifen kann.

Anzeige

Im Gegensatz zur starken Offensive ist eure Abwehr nicht immer sattelfest.
Ja! Unser Rechter und Linker Verteidiger sind eigentlich Mittelfeldspieler. Da sieht man dann die Größe eines Landes, denn wir haben keinen Linken Verteidiger auf internationalem Niveau.

Auch in den Jahren zuvor hatte ihr keine guten Torhüter und eine unsichere Abwehr. Vor allem die Torhüter waren oft schlecht. Warum?
Das stimmt so nicht. In unseren älteren Teams hatten wir immer solide Verteidiger und wir hatten gute Torhüter. Aber dann kam eine Periode, in der wir keinen Torwart von internationaler Klasse hatten. Das war bis vor kurzem eine Problem-Position. Hannes Hallgrimsson ist so viel besser geworden, wie es niemand von ihm erwartet hätte. Er war nur ein Erstligatorwart hier in Island. Und auf einmal hat er sich in den letzten beiden Jahren so gut entwickelt.

Und er saß vor zehn Jahren mit Übergewicht auf der Bank eines Drittligisten.
Ja, er hat in den unteren Ligen gespielt. Und keiner hat etwas von ihm erwartet, als er in die erste Liga kam. Eigentlich ist er von Beruf ja auch Regisseur. Er wurde erst im vergangenen Jahre professioneller Fußballspieler.

Ist es in Island nicht auch einfacher ins Nationalteam zu kommen? In Deutschland wäre eine Gesichte, wie die von Hannes, unmöglich.
Ja, das ist vielleicht auch ein bisschen Schlüssel zu unserem Erfolg. Wenn du hart an die Arbeitest, dann kannst du es schaffen. Die Chance ist nicht so klein, weil hier einfach nicht so viele Menschen leben.

Seit wann sind die isländischen Nationalspieler Profis?
95 Prozent sind seit den letzten 10-15 Jahren Profis. Vorher haben mehr Spieler aus isländischen Clubs in der Nationalmannschaft gespielt. Jetzt sind es nur noch eins oder zwei. Es waren vor allem die Torhüter, die keine Profis waren. Unser zweiter Torhüter ist jetzt 40 Jahre alt und der beste Keeper hier in der Liga.

Ihr habt gute Handballer, eure Basketballes sind bei der EM, die Fußballer haben sich für die EM qualifiziert, ihr habt die höchste Dichte an aktiven Schachgroßmeistern—was macht Island so verdammt stark?
Als ich ein Kind war, habe ich vier bis sechs Sportarten betrieben. Handball, Fußball, Leichtathletik, was auch immer. Es war immer da - in der Schule, in meinem Dorf. Es war immer eine Sport-Kultur da, mit Wettbewerben und Sport-Festen. Es war immer ein Teil des Lebens. Ich bin in einem Dorf mit 700 Einwohnern aufgewachsen. Da gab es nicht viel mehr als Fußball spielen - oder Basketball im Winter.