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türkische fankultur

„Die offene Politisierung der Bevölkerung seit Gezi spaltet nun auch die Kurven"

Die Gezi-Proteste hinterließen in der türkischen Fankultur tiefe Gräben. VICE Sports sprach mit den Regisseuren des Films „Ayaktakımı" über Repressionen, die Vorherrschaft der Istanbuler Großklubs und die Unterschiede zur deutschen Ultrakultur.
Foto: Imago

Die türkische Fankultur befindet sich weiter im Umbruch. Vor allem die Gezi-Proteste, bei denen verschiedene türkische Ultragruppierungen Demonstranten vor der prügelnden Polizei schützten, haben neue Einschränkungen für die Fansnach sich gezogen. Naz Gündoğdu (25) und Friedemann Pitschak (26) wollten in ihrem Film „Ayaktakımı" (zu deutsch: Pöbel/Fußvolk) die türkische Fankultur zwischen industriellem Fußball und staatlicher Repression widerspiegeln. Dafür nahmen sie in einem Crowdfunding-Projekt über 7.000 Euro ein.

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Die aus Istanbul stammende Filmemacherin und der ehemalige Kurvenfunk-Redakteur sprechen im Interview mit VICE Sports über türkisch-kurdische Fußballrivalitäten, die gefährliche Vorherrschaft der Istanbuler Großklubs und die Unterschiede zur deutschen Ultrakultur.

VICE Sports: Wie kommt man darauf, durch die Türkei zu fahren und einen Film über die Fankultur zu machen?
Friedemann Pitschak: Wir sind beide Fußballfans und interessieren uns vor allem für Politik und die Türkei. Mit dem Film wollten wir einen Einblick in die dortigen Verhältnisse geben.
Naz Gündoğdu: In der Türkei werden Fans in den Medien immer als Brutalos und Gewalttäter dargestellt. Durch die Gezi-Proteste wurde das noch schlimmer, also wollten wir zeigen, dass die Fans auch sozial engagiert sind und wie sie ihre Leidenschaft ausleben. Wir wollten die Beziehung zwischen Fankultur und Politik visualisieren.

Euer Film beschäftigt sich sehr stark mit den Gezi-Protesten. Welche Rolle nehmen Fußballfans bei den Veränderungen in der türkischen Gesellschaft ein?
Pitschak: Eine wichtige. Fußball ist in der Türkei nicht nur Fußball, sondern auch sehr viel Politik.
Gündoğdu: Bei den Gezi-Protesten gingen auf einmal Millionen Menschen desorientiert auf die Straße. Die Demonstranten sahen sich Polizeigewalt und Tränengas ausgesetzt und wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Die Ultras kannten diese Situation, übernahmen Verantwortung und gingen voran. Seitdem ist das öffentliche Bild von Fußballfans viel positiver.

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Ihr habt für die Dreharbeiten acht türkische Vereine besucht. Warum so viele?
Pitschak: Wir wollten ein breites Bild der türkischen Fankultur zeigen. Zudem kennen die meisten Fußballfans in Deutschland nur die großen Istanbuler Vereine. Wir wollten auch zeigen, was es für Fans in Izmir, Ankara oder im Gebiet der Kurden gibt.

Ein weiterer gesellschaftskritischer Aspekt des Films ist die Vorherrschaft der Istanbuler Großvereine. Wie wirkt sich die auf den türkischen Fußball aus?
Gündoğdu: In jeder türkischen Stadt gibt es zahlreiche Fußballvereine, aber fast alle Fans strömen zu den drei großen Istanbuler Klubs Fenerbahçe, Galatasaray und Beşiktaş. Diese drei Vereine versuchen dabei immer, mehr Geld einzunehmen und ihre Marke noch größer zu machen.
Pitschak: Die Dominanz zieht sich durch die ganze Türkei: Im Osten gibt es Städte, die tausend Kilometer von Istanbul entfernt sind, aber trotzdem schwärmt jeder von Galatasaray—obwohl sie nie ein Spiel live gesehen haben. Der heimische Verein interessiert dann niemanden, weil es nicht diese Unterstützung für Lokalvereine wie etwa in Deutschland oder England gibt. Kleine Vereine wie Göztepe Izmir, die in der zweiten Liga vor 80.000 Zuschauern gespielt haben, leiden mittlerweile darunter, weil sie nicht mehr beachtet werden.

Wer ist eurer Meinung nach für dieses System verantwortlich?
Gündoğdu: Der türkische Verband und die Wirtschaft wollen die Liebe der Fans monopolisieren. Sie wollen, dass immer mehr Menschen, egal wo sie auch wohnen, immer mehr Geld in die großen Marken pumpen. Die Medien, die nur über die großen Vereine berichten, tun ihr Übriges. So entstehen tausende Fans, die nur mal kurz auf Twitter gehen, einen Hashtag machen und anschließend ein bisschen Sportfernsehen gucken. Das ist aber keine Leidenschaft.
Pitschak: Ein weiteres Problem ist Passolig, das neue elektronische Kartensystem. Das Ticket wird als Kreditkarte von der AKP-nahen Aktifbank ausgegeben. Neben der Bank profitieren aber auch die großen Clubs davon und die Kluft wird noch größer. Die Gelder, die hier auf die Vereine umgelegt werden, gehen zu 95% an die großen Clubs, die den Zuschauerschwund ohnehin besser abfangen können als die kleinen Vereine. Auch deswegen haben wir die kleineren Klubs besucht.

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Der türkische Fußball unter Erdoğan—AKP-Vereine und Ultra-Unterdrückung

In Deutschland sind Ultras eher verschlossen gegenüber Journalisten—ihr habt aber mit fünf Fanszenen türkischer Klubs gesprochen.** Wie habt ihr sie vor die Kamera bekommen?**
Gündoğdu: Die Ängste, irgendwie mit seinem Gesicht während einer heiklen Situation gefilmt zu werden, gibt es in der Türkei nicht. Dort lieben es die Leute, wenn sie sich vor der Kamera zeigen können. Es war den Leuten zudem wichtig, ihre Probleme vor der Kamera anzusprechen.

Es ging in eurem Film ja vor allem um staatliche Kontrolle und Bewachung. Hat wirklich niemand Angst gehabt, sich so kritisch zu äußern?Gündoğdu: Der einzige, der dabei Bedenken hatte, war der deutsche Galatasaray-Fan Alman Ali. Das zeigt noch mal den kulturellen Unterschied. (lacht)

Freddy, du warst auch lange ein Teil der Nürnberger Fanszene. Was sind für dich die größten Unterschiede zwischen der deutschen und der türkischen Fankultur?
Pitschak: Ein großer Unterschied ist, dass die türkische Szene viel erwachsener ist. In Deutschland ist es für viele eher eine Jugendkultur und irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich zwischen bürgerlichem Leben und Fußball entscheidet. In der Türkei fahren alte Männer mit 70 noch zum Fußball und leben die aktive Fankultur. Bei Gençlerbirliği Ankara saßen wir in einer Kneipe mit lauter Ultras und der 50-jährige Tribünenchef war mit seiner kleinen Tochter da. Der nimmt die immer mit und heizt trotzdem die Kurve ein.

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Ihr habt auch im kurdischen Diyarbakır gefilmt. Wie habt ihr den Konflikt von Kurden und Türken mitbekommen?
Pitschak: Wegen Gefechten konnten wir dort irgendwann gar nicht mehr drehen. Auch im Fußball spiegelt sich der Konflikt wider. Es gibt ständige Gästefans-Verbote, die willkürlich einfach so festgelegt werden wegen belangloser Gründe. Und auf dem Platz benachteiligen etwa die Schiedsrichter die kurdischen Vereine und Spieler. Diyarbakirspor—der Vorgängerverein von Amedspor—ist beispielsweise mit sehr dubiosen Mitteln aus der ersten Liga abgestiegen und bis in die vierte Liga durchgerutscht.

Im Film trefft ihr auch den kurdischen Spieler Abdullah Cetin, der nach seinem Wechsel zu Orduspor mit vielen Vorurteilen zu kämpfen hatte…
Gündoğdu: Als Kurde hast du es nicht einfach in anderen türkischen Gebieten. Als er nach Ordu, wo viele türkische Nationalisten wohnen, wechselte, wollten ihn die Fans zu Anfang nicht in der Mannschaft haben. Nachdem er in einem Derby aber gut spielte, erkämpfte er sich durch den Fußball Respekt. Jetzt erzählt er, wie Cafébesitzer in Ordu sogar kurdische Musik spielen, wenn er in ihrem Laden ist.

In Ankara und Istanbul boykottieren viele Fanszenen den Fußball von sich aus und so entstand die ÖzgürLig. Was ist das?
Gündoğdu: Das ist eine alternative bunte Liga in Ankara. Mit Gezi sind diese in den großen Städten entstanden. Denn es kam auch in Izmir und in fast allen anderen Städten ebenfalls zu Protesten wie in Istanbul. Dann kam Passolig und der Boykott vieler Fanszenen. Die Fans rückten noch näher zusammen und schauen nun die Spiele nicht mehr im Stadion, sondern gemeinsam in Bars und kicken jetzt selbst in der ÖzgürLig Fußball gegen Fans anderer Vereine.

Sind Projekte wie die ÖzgürLig die einzige Zukunft für die türkische Fankultur?
Pitschak: Das System Passolig wird weiter bestehen—in Zukunft wohl ohne die Kreditkartenkopplung, aber das E-Ticket an sich wird bleiben. Modelle wie die ÖzgürLig werden sich also weiter vergrößern. Die offene Politisierung der Bevölkerung seit Gezi ist in die türkischen Stadien gezogen und spaltet nun auch die Kurven. Es hat sich zwar einiges geändert, aber ich habe wenig Optimismus für eine lebendige Fankultur in den Stadien. Man kann auch eine Abwanderung von Fans in niedrigere Ligen oder zu anderen Sportarten feststellen.
Gündoğdu: Ich finde, Gezi hat trotzdem viel verändert für die Fankultur. Es gibt eine neue Akzeptanz für die Fußballfans in der türkischen Bevölkerung. Zudem wurden viele Fans und Bürger emanzipiert.

Das Interview führte Benedikt Nießen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie

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Der Film „Ayaktakımı" kann für Vorführungen gebucht werden und wird noch zu folgenden Terminen aufgeführt: 14.02.2016, 19:00 Uhr, Osnabrück (Osnabrücker Fanrechtetag) Wo? Planeta Sol
16.02.2016, 19:30 Uhr, Darmstadt (Lilienfans gegen Rechts) Wo? Oetinger Villa
18.02.2016, 19:00 Uhr, Fürth (Stradevia 907) Wo? Infoladen Benario
19.02.2016, 18:30 Uhr, Nürnberg (Deutsche Akademie für Fußballkultur) Wo? Z-Bau/Roter Salon
23.02.2016, Erfurt
28.02.2016, Chemnitz