Der Profitaucher Arnaud Jerald bei seinem zweiten Weltrekordversuch; uns erklärt er, was hinter dem Apnoetauchen steckt und was er unter Wasser erlebt
Der Profitaucher Arnaud Jerald unter Wasser | Foto: Takuya Terajima
Menschen

Ein Tiefseetaucher erklärt, wie er mit einem Atemzug 112 Meter tief taucht

"Du kannst nicht einfach stehen bleiben, wenn du genug hast. Du musst wieder an die Wasseroberfläche zurück, sonst war's das." - Arnaud Jerald, Profi-Apnoetaucher
Pierre Longeray
Paris, FR

Falls du mit dem Begriff Apnoetauchen nichts anfangen kannst, dann stell dir einfach die simpelste, aber auch extremste Form des Tauchens vor: nur ein Atemzug, abgesehen von Flossen quasi keine Hilfsmittel und so lange unter Wasser bleiben wie möglich. Ein Beispiel: Im vergangenen Sommer versuchte der Profi-Apnoetaucher Arnaud Jerald vor der französischen Riviera einen Weltrekord im zweiflossigen Apnoetauchen aufzustellen und 111 Meter runter in die pechschwarze Tiefe zu gleiten.

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Leider konnten Jeralds Tauchgänge nicht gewertet werden, weil er beide Male minimal vom streng vorgegebenen Ablauf abwich. Unbeirrt wollte sich der Taucher im Herbst erneut an dem Rekord versuchen und reiste dafür nach Griechenland – nur um herauszufinden, dass sein Erzrivale, der russische Apnoetaucher Alexei Moltschanow, am Tag zuvor die 111 Meter bereits geschafft hatte. Also setzte Jerald noch einen drauf und tauchte im September 2020 einfach 112 Meter gen Meeresboden.

Wir haben uns mit Jerald über seine fast schon übermenschlichen Fähigkeiten unterhalten – und darüber, was so tief unter Wasser mit einem passiert.


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VICE: Hast du als Kind schon immer versucht, länger unter Wasser zu bleiben als deine Freunde?
Arnaud Jerald:
Das ist witzig, weil Tauchen eigentlich nie mein Ding war. Ich bin erst durch meinen Vater, einen leidenschaftlichen Speerfischer, zum Apnoetauchen gekommen. Als ich zum ersten Mal 30 Meter unter Wasser war, machte es klick. Plötzlich war mir klar, dass das meine Bestimmung ist.

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Ich mag dieses Gefühl der körperlichen und auch mentalen Schwerelosigkeit. Wenn du da unten bist, denkst du nicht mehr über das nach, was an der Oberfläche passiert. Dein Körper zwingt dir diesen Geisteszustand fast schon auf, du konzentrierst dich nur auf das Hier und Jetzt.

Was ist besonders hart daran?
Apnoetauchen ist mental gesehen eine echte Herausforderung. Es ist ja nicht so wie zum Beispiel beim Fahrradfahren, da kannst du einfach stehen bleiben, wenn du genug hast. Du musst ja wieder an die Wasseroberfläche zurück, sonst war's das.

Wie schafft man es, so lange unter Wasser zu bleiben?
Um so lange die Luft anhalten zu können, musst du das Atmen quasi komplett neu lernen. Der Trick besteht darin, in den Bauch zu atmen – wie ein Baby. Das passiert grundlegend gesagt in zwei Stufen: Zuerst saugt man die Luft quasi in den Bauch und öffnet dann noch den Brustkorb so weit wie möglich.

Wie genau läuft so ein Tauchgang ab?
Da sich in meinen Lungen und in meinem Neoprenanzug Luft befindet, muss ich am Anfang noch aktiv nach unten schwimmen. Aber je tiefer ich komme, desto höher wird der Wasserdruck. Die Luft in mir wird komprimiert, das Luftvolumen nimmt also ab. Ungefähr ab 30 Metern Tiefe fange ich deswegen an zu sinken. Wie Fallschirmspringer befinde ich mich dann im freien Fall. Ich bewege mich ab diesem Zeitpunkt nur noch minimal mit meinem Kopf und folge dem nach unten führenden Kabel.

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Ich bin dann recht schnell unterwegs, ungefähr sechs oder sieben km/h. Wenn ich fünf Meter vor der anvisierten Tiefe bin, schlägt meine Armbanduhr Alarm und ich bremse ab, indem ich das Kabel packe. Wenn ich unten angekommen bin, schnappe ich mir einen Streifen Klettband, damit ich oben beweisen kann, wie tief ich war. Danach hebe ich meine Arme über den Kopf und schwimme schnell mit aller Kraft wieder nach oben. Ansonsten würde ich einfach weiter sinken.

Hast du beim Tauchen die Augen offen?
Ja, denn ich muss immer das Kabel im Blick haben, um nicht die Orientierung zu verlieren. Dabei trage ich nicht mal eine Taucherbrille. Die würde durch den Druck einfach implodieren.

An was denkst du, wenn du hinabgleitest?
Am Anfang konzentriere ich mich voll aufs Schwimmen. Und ich habe immer ein Lied im Kopf, das ich mir am Morgen des Tauchgangs 15 mal anhöre. Bei meinem Weltrekord war es "The Look of Love" von Dusty Springfield. Das Lied dauert rund vier Minuten, also etwas mehr als die Zeit, die ich brauche, um nach unten zu tauchen und wieder hochzukommen.

Wenn ich mich dann im freien Fall befinde, rasen verschiedene Gedanken und Erinnerungen durch meinen Kopf. Eine Minute unter Wasser fühlt sich an wie ein ganzer Tag an der Oberfläche. An was ich denke, variiert von Tauchgang zu Tauchgang. Von Kindheitserinnerungen über Bilder von meiner Familie oder Auszüge aus Der kleine Prinz – das erste Buch, das ich je gelesen habe – ist da alles dabei.

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Redest du hier vom sogenannten Martini-Effekt, auch bekannt als Tiefenrausch?
Im Grunde ist es ähnlich, wie wenn du zu schnell vom Sofa aufstehst und sich plötzlich alles dreht und verschwommen ist. Während des Sinkens arbeitet das Gehirn 40.000 mal schneller als sonst, da vermischen sich alle Gedanken. Viele Leute sagen, das Ganze sei, als würde man LSD oder Magic Mushrooms nehmen. Aber da kann ich nicht mitreden, weil ich diese Drogen noch nie ausprobiert habe. Ich versuche sowieso, dieses Gefühl zu vermeiden, weil ich lieber die volle Kontrolle über meinen Tauchgang habe.

Wie fühlt sich der Wasserdruck an?
So, als wäre dein Körper plötzlich flüssig. Deine Lungen haben dann nur noch die Größe von Tennisbällen. Du fühlst dich wie eine Miniaturversion von dir selbst in deinem eigenen Körper. Außerdem ist es richtig kalt. Und trotzdem fühlst du dich irgendwie geschützt, so als ob du zwischen zwei weiche Matratzen liegen würdest. Diese Sekunden an einem der für Menschen extremsten Orte der Welt sind einfach etwas ganz Besonderes.  

Ist dir auf dem Meeresgrund schon mal etwas Komisches passiert?
Letztes Jahr wollte ich vor Scharm El-Scheich in Ägypten auf 108 Meter tauchen. Bei ungefähr 95 Metern spürte ich auf einmal einen Stoß und kam vom Kurs ab. Zum Glück konnte ich mich fangen und den Tauchgang erfolgreich beenden. Oben erzählte ich meiner Crew, was unten passiert war, und eine Minute später tauchten Delfine beim Kabel auf und machten Saltos. Ich glaube, einer der Delfine wollte da unten mit mir spielen.

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Beim gleichen Tauchgang habe ich unten am Meeresboden auch noch mal einen Schreck bekommen, weil ich plötzlich einen großen Ring sah, der das Gewicht am Ende des Kabels umgab. Ich dachte erst, ich erlebe gerade einen Tiefenrausch, aber dann wurde mir klar, dass da rund 100 riesige Gelbflossen-Thunfische auf dem Meeresgrund schwammen. Das Ganze sah aus wie eine Szene aus Interstellar.

Stören dich manchmal auch Schiffe?
Einmal wollte ich in Frankreich auf 118 Meter runter. Bei ungefähr 90 Metern hörte ich ein Rumpeln. Weiter oben ist das wegen Bootspropellern nichts Ungewöhnliches, aber so weit unten war ich schon etwas verwundert – weil ich wusste, dass das Geräusch dann vom Meeresboden kommen muss. Je weiter runter ich tauchte, desto lauter wurde es. Ein paar Monate später fand ich heraus, dass an diesem Tag U-Boote genau unter unserer Tauchstelle durchgefahren waren.

Was passiert, wenn bei einem Tauchgang etwas schiefgeht?
Wenn die Leute, die oben an der Oberfläche meinen Tauchgang überwachen, merken, dass etwas nicht stimmt, können sie mich mithilfe eines Gegengewichts schnell nach oben ziehen. Das kommt aber nur sehr selten vor. Was das Atmen angeht, bekomme ich wegen meiner Erfahrung eigentlich nie Probleme. Die letzten Meter sind trotzdem immer die gefährlichsten, weil da das Risiko, bewusstlos zu werden, am höchsten ist. Es sind aber immer andere Taucher zur Absicherung dabei.

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