FYI.

This story is over 5 years old.

Blinden-Fußball

Deutschlands EM-Routinier erzählt, wie es ist, auf einmal blind zu kicken

Mulgheta Russom verlor bei einem Unfall sein Augenlicht und kickt nun bei der Blindenfußball-EM in Berlin. Uns erzählte er, wie sich der Heimvorteil trotz Ruhe-Regel anfühlt und warum er über den DFB traurig ist.

Vier Männer rennen über den Rasen, sie jagen einem Ball nach, andere rufen ihnen vom Spielfeldrand zu. Klingt nach einem ganz normalen Fußballspiel, aber: Die Männer sind blind, der Ball rasselt und von der Seitenlinie jubeln keine Fans, sondern Guides brüllen Tipps übers Feld. Das Rasseln des Balls, die Rufe der Guides, sie lenken die Schritte der Spieler. Auf dem Feld können nur die Torwarte sehen. Die Zuschauer dürfen das Spiel gespannt verfolgen, die Spieler aber nicht anfeuern, sie müssen alles hören können. Die Emotionen entladen sich erst, wenn ein Tor fällt – dann dürfen auch die Zuschauer jubeln.

Anzeige

So sehen zur Zeit die Fußballspiele am Anhalter Bahnhof in Berlin aus. Dort findet die elfte Europameisterschaft im Blindenfußball statt, zehn Teams treten gegeneinander an. Den Sport kennt in Deutschland kaum einer, das Turnier könnte dafür sorgen, dass er an Popularität gewinnt.

Organisiert gespielt wird Blindenfußball hier erst seit gut zehn Jahren, andere Länder sind da deutlich schneller. Einer, der von Anfang an dabei war, ist Mulgheta Russom. Der 39-Jährige ist mit 60 Spielen in der Nationalmannschaft einer der erfahrensten Blindenfußballer in Deutschland. Als er 20 Jahre alt war, hatte er einen schweren Autounfall. Er verlor sein Augenlicht, hörte jedoch nicht auf Sport zu treiben. Seit 2006 spielt er beim MTV Stuttgart und ist mit der Mannschaft Rekordmeister der Blindenfußball-Bundesliga. Dort spielen mittlerweile auch Vereine, die unter dem Dach großer Bundesligaclubs stehen, beispielsweise Borussia Dortmund, Schalke 04 und St.Pauli.

Wir haben mit Mulgheta Russom darüber gesprochen, wie es ihm gelang, sich auf Blindenfußball umzustellen und was man in dem Sport noch verbessern könnte.

VICE Sports: Zur Zeit findet die Europameisterschaft in Deutschland statt, es gibt also einen Heimvorteil für dein Team. Trotzdem müssen die Zuschauer während des Spiels leise sein, damit ihr als Spieler alles hören könnt. Wie nimmst du die Atmosphäre wahr?
Mulgheta Russom: Super, natürlich! Es ist auf jeden Fall ein Heimvorteil, mit einer ganz anderen Energie. Die Leute können kommen, sich die Leistungen anschauen und auch erahnen, was für Kraft und Arbeit dahinter steckt. Klar, die Zuschauer müssen zwar leise sein, aber es wird schon mal geschrien "Auf geht's!" oder "Schieß ein Tor!". Das gibt schon ordentlich Schwung mit und pusht auf jeden Fall.

Anzeige

Nimmst du die Fans überhaupt wahr, wenn du auf dem Platz stehst?
Äußere Faktoren nehme ich eigentlich nicht wahr. Klar merke ich, dass da Zuschauer sind, aber man muss das Drumherum ausblenden. Manche kommen mit dem Druck nicht klar, in dem Fall muss man sich nur auf sein Spiel konzentrieren und auf das, was man machen soll. Es zählt nur die eine Sache.

Du hast vor deinem Unfall auch Fußball gespielt. Macht es einen Unterschied, ob man als Blinder geboren wird oder ob man visuelle Eindrücke vom Spiel kennt?
Es macht einen großen Unterschied. Ich kann das Spiel ganz anders aufnehmen und verarbeiten, weil ich das Ganze vom Sehenden zum Blinden übertrage. Da kann man einiges Mitnehmen. Es fällt mir leichter, ein Spiel zu lesen oder Zweikampfverhalten und Laufwege auszuführen.

Wie lange hat die Umstellung vom sehenden Fußball zum Blindenfußball gedauert?
Eigentlich ging es schnell, weil ich erstmal keine Angst hatte, da frei ins Feld zu laufen, mal zur Bande zu spielen und auch mal in die Bande zu knallen. Meine Fitness hat das Ganze zusätzlich vereinfacht. Wenn du fit anfängst, in Verbindung mit der Balltechnik, ist das schon schon die halbe Miete. Die Konzentration ist meistens nur so stark, wie die Kondition.

Wenn du nicht auf dem Fußballfeld stehst, arbeitest du als Fitnesstrainer. Wie reagieren die Leute, wenn sie von einem Blinden betreut werden?
Eigentlich ganz positiv. Die meisten sagen erstmal: "OK gut, wieso nicht?" Wenn ich dann meinen Job mache, vergessen sie, dass ich blind bin. Das liegt daran, dass ich alles erkläre, zeige und auf sie achte. Wenn der eine oder andere meint, er könnte mich irgendwie verarschen – und sich so letztendlich selbst –, dann merke ich das gleich. Ich sage dann auch: "Hey, Übungen richtig machen!" Ich trainiere selber viel, daher kann ich das auch gut weitergeben.

Anzeige

Wie orientierst du dich?
Das mache ich mit meinen Händen und Ohren. Ich teste die Übungen erstmal bei mir selbst. Anschließend fasse ich die Leute während ihrer Übung an, beispielsweise im Rückenbereich, am Arm oder Knie. Anhand dieser Berührungen merke ich sofort, was falsch gemacht wird. So kann ich die Leute korrekt "beobachten".

Wenn du Fußball spielst, gibt es für dich auch Orientierungshilfen. Der Torwart kann sehen und es gibt Guides außerhalb des Spielfelds. Gewinnt am Ende das Team mit der besseren Kommunikation?
Nein. Das gehört dazu, aber letztendlich gibt es auch die vier Feldspieler und den Torwart und noch den Trainer von außen. Die müssen alle funktionieren, deswegen gewinnt die Einheit. Die Spieler müssen auch auf dem Feld untereinander kommunizieren können, die Laufwege gut kennen. Je besser das Zusammenspiel, desto besser funktioniert das Ganze auf dem Platz.

Foto: Patricia Leßnerkraus

Welche Unsportlichkeiten kommen im Blindenfußball am häufigsten vor?
Meiner Meinung nach: fehlende "Voys". "Voy" heißt "Ich komme" auf Spanisch, und wenn man das innerhalb von drei Metern nicht ruft, hören die anderen Spieler einen nicht kommen. Dann kann man auch gegen den Gegner knallen. Das ist das hässlichste, ruppigste Foul letztendlich. Es kommt auch oft vor, dass einen der Gegner bei den schnellen Balldribblings am Knöchel erwischt und man somit gebremst wird.

Die größten Unterschiede zum Fußball, den wir kennen, sind die Bande und individuelle Fouls. Wie kompliziert ist Blindenfußball?
Im Spiel ist es nicht kompliziert. Es gibt ab sechs Teamfouls bei jedem weiteren einen Achtmeterstrafstoß und nach dem fünften persönlichen Foul fliegst du vom Feld, wie bei einer roten Karte letztendlich. Die Bande ist natürlich sehr hilfreich, denn darüber kann man auch gut nach vorne spielen.

Mit welchen Schwierigkeiten hat der Blindenfußball in Deutschland zu kämpfen?
Man will ja auch Leistung zeigen und Erfolge sehen, aber wir brauchen natürlich Unterstützung und Gelder. Um trainieren zu können, mehr Testspiele zu absolvieren und mehr auszuprobieren. Wenn der DFB sich zum Beispiel erst jetzt wirklich bemerkbar macht, wo die EM in Deutschland ist und davor so gut wie gar nichts kommt, dann ist das schon traurig. Wir bieten diesen Fußball seit mehr als zehn Jahren schon an und die Unterstützung hält sich sehr in Grenzen. Wir haben das Potential hier noch viel mehr zu erreichen.

-
Die EM findet noch bis Samstag statt, dann spielen Spanien und Russland um den Titel. Für Deutschland geht es am Freitagabend gegen die Türkei um Platz fünf.