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Betrunken auf der Pferderennbahn Zürich

Während neureiche Sprösslinge sich mit Champagner und Selfies vergnügten, leerte ich meine Brieftasche und ein Bier nach dem anderen.
Foto: Tobias Schicker

Foto: Tobias Schicker

Ich wache mit einem Kater auf. Eigentlich hatte ich früh nach Hause gehen, mich schonen wollen, doch dann blieb ich doch hängen, in der Bar. Ich stehe auf, ziehe mich an, küsse meine schlafende Freundin zum Abschied. Ich gehe ins Wohnzimmer und wecke meinen Kumpel Schicker, der auf dem Sofa pennt und sich spontan entschlossen hat, mitzukommen. Er kratzt sich die Glatze, ich nehme zwei Bier aus dem Kühlschrank und packe sie zusammen mit meinem Flachmann in die Ledertasche.

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After that I drank and played the horses. 27 years later I am still doing both. Time is made to be wasted.

Das einzige, was ich über Pferderennen weiss, weiss ich aus den Stories und Gedichten von Charles Bukowski. Das heisst: Es geht um Geld, um Nervenkitzel, um Hoffnung und—wie immer bei Bukowski, dessen Magenwand irgendwann so zerfressen war vom Alkohol, dass er seinen Wein mit Milch mischen musste, um es runter zu bekommen—ums Trinken. Ich erzähle die Story Schicker, als wir im Zug nach Zürich sitzen. Es ist halb elf und ich öffne das erste Bier. Einen Tag lang Bukowski sein, das ist mein Ziel (die Milch mal ausgenommen).

Nach dem Umsteigen am HB und einem weiteren Bier kommen wir in Dielsdorf an. Am Bahnhof kaufe ich Zigaretten und wieder Bier. Schicker kauft sich eine Packung kleiner Villiger-Stumpen. Während ich versuche, mich in den nihilistischen Sumpf eines meiner literarischen Vorbilder zu begeben, reizt ihn an unserem Ausflug eher die Volkstümelei à la Schwinger- oder Jodlerfest. Dass er aber trotzdem der richtige Partner für das Unterfangen Pferderennen ist, beweist er, als er sich nach fünf Minuten umdreht und auf die Rasenfläche irgendeines Industriegebäudes pinkelt.

Alle Fotos von Tobias Schicker

Als ich am Kassenhäuschen stehe, schäme ich mich etwas für meine Unwissenheit. Ich frage, ob der Besuch etwas kostet, die junge Frau in grüner Vlies-Weste erklärt, dass die Stehplätze gratis sind. Nur die Plätze auf der Tribüne kosten. Ich kaufe das Programm-Heft für fünf Franken. Dort stehe alles drin, was wir wissen müssten, sagt die Vlies-Frau. Ich plädiere ich für ein neues Bier, die galoppierenden Pferde —das zweite Rennen läuft bereits —interessieren mich nicht. Sport, zumindest in meiner Wahrnehmung, macht nur Sinn, wenn man a) irrational fest einer Mannschaft, einem Sportler oder einer Nation verpflichtet ist, oder b) wenn man sein Hab und Gut drauf verwettet.

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Meine Unwissenheit kann ich auch am Wettschalter nicht verbergen. Ich sag den Namen statt die Startnummer und verheddere mich auch sonst. Am Ende setze ich 10 Franken auf Sieg der Nummer 1 namens Mai Thai, auch, aber nicht nur wegen dem hochprozentigen Namen. Laut Programmheft ist der Gaul Favorit. Daneben setze ich auf zwei weitere Pferde je 10 Franken auf „Platz", also dass sie unter die ersten drei kommen.

Wir stellen uns in den Rasen. Als der Speaker mit typischer SRF-Sport-Kommentatoren-Stimme den Start des Rennens verkündet, fuchtelt Schicker mit den Stumpen herum, schreit: „E wott gwönne!" Auch ich spüre die Aufregung, das Bier. Die Pferde galoppieren an uns vorbei, die Leute klatschen, ich weiss nicht, welches Ross welches ist, verlasse mich auf die Erklärungen des Speakers. Mai Thai scheint nach der Hälfte der Strecke vorne zu sein und ich rieche das grosse Geld bereits.

„Und jetzt greift Gitan de Berberis an. Gitan de Berberis ist gleichauf mit Mai Thai!", schreit der Speaker und ich: „Komm schon, verdammt! Komm schon!" Doch es bringt nichts. Beim Zieleinlauf hat Gitan die Nase wortwörtlich vorne, Mai Thai landet auf Platz 2 und die beiden anderen Pferde, auf die ich gesetzt habe, irgendwo weit hinten. Und mein erster Wetteinsatz von 30 Franken löst sich in Luft auf.

I lost a dollar at the track today and I know that's stupid: it's better to win a hundred or lose a hundred.

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Vor den Rennen werden die Pferde auf einer runden, verschissenen Asphaltbahn hinter der Tribüne vorgeführt. Wir stehen dort und schauen sie uns an, Georgina und Maydan Princess und Satin Love und vor allem beim letztem Namen frage ich mich, wie innig wohl die Beziehung zwischen Tier, Besitzer und Jockey sein mag. Ich glaube begriffen zu haben, wie der Hase beziehungsweise das Pferd läuft. Natürlich ist Glück mit im Spiel, aber es geht auch um Quoten, um das Berücksichtigen der Formkurve, die Einschätzungen der Experten und um den richtigen Riecher. Deutlich überzeugter platziere ich meinen Einsatz (wieder 30 Franken), stelle mich an die Bande, verfolge das Rennen und… verliere schon wieder.

Dass es auch anders geht, beweist mein Kumpel Schicker, der nach Runde 5 für seinen Einsatz von 42 Franken ganze 197.- ausgehändigt bekommt. Ich stehe zu diesem Moment 90.- in der Kreide. Neid kommt in mir hoch. Es war meine Idee, hierher zu kommen und die ersten paar Runden Bier hab ich auch noch bezahlt. „Jetzt musst du einen ausgeben!", sage ich. Ich klinge schon etwas verschliffen, vielleicht schon wie Bukowski? Würde er sich sträuben, könnte ich zu fluchen beginnen. Aber er ist zu nett, stimmt mir zu und nach zwei Minuten stossen wir selig an.

Überhaupt sind alle hier einfach zu nett, zu brav, zu bünzlig. Vielleicht weil in der Schweiz nicht jedes Wochenende ein Pferderennen ist, werden die paar wenigen, die veranstaltet werden, zu echten Happenings, zu Events für jedes Alter. Pferdefreunde machen Fotos, Senioren schlürfen fröhlich Champagner, dem Zimmermann aus dem Dorf, der für ein paar Hunderter Unterstützung sein Banner hat aufhängen dürfen, schwillt die Brust und zwei Mädchen sitzen auf der Bande, fachsimpeln, dass es ja klar gewesen wäre, welches Pferd gewinnen würde.

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Die abgehalfterten Track-Gänger, die ihre Hoffnung in Form eines weissen Zettels an gezüchtete Tiere heften, die Bukowskis eben, es scheint sie in unserer sauberen Wohlstandswelt nicht zu geben. Nur Schicker und ich kommen langsam ins Schlenkern auf unseren Rennbahn-Bierstand-Wettbüro-Runden. Und natürlich habe ich nicht auf das Pferd der Kinder gesetzt. 120.- minus.

I do all right on the horses. it's the women where I lose.

„Es läuft ganz gut mit den Pferden, es sind die Frauen, bei denen ich verliere", lässt Bukowski den Protagonisten in seinem Buch War all the Time sagen. Vielleicht liegt es daran, dass ich mich beziehungstechnisch nicht beklagen kann? Auf jeden Fall verliere ich auch den Rest der Rennen, der sexy Nightdance Paolo lässt sich von Sing With Bess abhängen und sogar Rock God (ich meine Rock God!!) lässt mich im Stich, bricht in der letzten Kurve ein und wird von Platz 1 innert weniger Sekunden bis auf Platz 5 durchgereicht.

Ich überlege mir, wie ich mich fühlen würde, wenn ich jetzt pleite wäre. Wenn ich schauen müsste, wie ich nach Hause kommen und abends meinen Magen füllen könnte. Ich bin froh, dass ich es nicht bin. Ich bin froh, dass ich kein Bukowski bin. Auch, weil so das Bier noch wirkt, weil auch der Champagner wirkt, von dem wir uns am Ende doch noch ein Gläschen gönnen, als wären wir auch so gut betucht wie die englisch sprechenden Rich Kids in Sommeranzügen und -kleidchen, die neben uns Selfies schiessen, sich im Gras wälzen und wahrscheinlich gerade einen Monatslohn an Wetteinsätzen verprasst haben.

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Mir reichen die 150 Franken weniger in der Tasche und die Sonne, die gegen Abend mit voller Wucht auf uns niederbrennt, als wir die Rennbahn verlassen. Ich fühle mich ausgebrannt und müde. „Wann ist das Pferderennen in Aarau", fragt Schicker, der sich noch immer über seinen Gewinn am Nachmittag zu freuen scheint. „Ende August", sage ich. „Gehst du dort auch hin?", fragt er. „Warum nicht?", frage ich zurück.

most of us tear up our tickets and begin ourwalk toward the parking lot and whatever is
left over for us

Daniel Kissling auf Twitter: @kissi_dk

Vice Switzerland auf Twitter: @ViceSwitzerland


Alle Zitate aus dem Buch War all the Time von Charles Bukowski.