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EM 2016

Bei welchen EM-Spielen es durch Hooligans knallen könnte

Bei der WM ’98 in Frankreich haben deutsche Hools Daniel Nivel zum Invaliden geknüppelt. Wir haben einen Fanforscher gefragt, ob uns auch bei der EM eine Welle von Fan-Gewalt droht.
Foto: Reuters

Am Freitag findet das EM-Eröffnungsspiel zwischen Frankreich und Rumänien statt. Es ist das erste große Fußballturnier in Frankreich seit der WM 1998. Rund 2,5 Millionen Besucher werden laut eines Berichts der Kommune Limoges erwartet. Und das bringt das Risiko von Fangewalt mit sich.

1998 kam es im Laufe der WM zu zwei schweren Zwischenfällen. Am 21. Juni stießen am Rande eines Deutschland-Spiels rund 500 deutsche Hools mit der Polizei zusammen. Dabei wurde der Gendarme Daniel Nivel so schwer verletzt, dass er wochenlang im Koma lag und bis heute an den Folgen leidet. Eine Woche zuvor attackierten 200 bis 300 englische Hools in Marseille tunesische Fans sowie die örtliche Polizei. An den Zusammenstößen beteiligten sich auch Fußball-Fans von Olympique. Neben reichlich Sachschaden wurden auch mehrere Dutzend Personen verletzt.

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Spätestens seit das „Schwein von Marseille" angekündigt hat, pünktlich zum ersten Englandspiel wieder in Marseille zu sein und dort auf Muslime Jagd zu machen, ist klar: Auch dieses Fußballturnier in Frankreich könnte zum Schauplatz von Hooligan-Gewalt werden. Aus diesem Grund haben wir mit dem anerkannten Soziologen und Hooligan-Forscher Nicolas Hourcade gesprochen und ihn um eine Einschätzung der Gefahrenlage gebeten.

VICE Sports: Können Sie uns erst einmal Ihre Definition von Hooliganismus geben, vor allem hinsichtlich den Unterschieden zur Ultra-Bewegung?
Nicolas Hourcade: Sobald ein Fan gewalttätig wird, spricht man schnell von Hooliganismus. Wir Soziologen sind da differenzierter. Zum einen versuchen wir, unterschiedliche Taten nach Art und Schwere voneinander zu trennen. Und dann haben wir festgestellt, dass es unter den gewalttätig werdenden Fans solche gibt, die sich selbst als Hools bezeichnen und regelmäßig gegenüber Fans oder Polizei gewalttätig werden, aber auch solche, die sich selbst als Ultras bezeichnen. Letzteren geht es primär um die eigene Mannschaft. Sie sehen den Fußball als Schlacht an, bei der man manchmal auf Gewalt zurückgreifen muss. Für Hools geht es beim Fußball vor allem um den Gewaltaspekt. Ultras versuchen, die Gewalt einzuschränken, auch weil sie es sich nicht mit dem eigenen Verein verscherzen wollen. Andererseits schaffen sie es auch nicht komplett, der Gewalt abzuschwören, weil sie fürchten, ansonsten ihre Radikalität zu verlieren.

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Was sind die Entwicklungen, die sich in den letzten Monaten in der europäischen Hooligan-Szene abgezeichnet haben?
Allgemein folgt die Hooligan-Szene der Entwicklung der Sicherheitsvorkehrungen bei Spielen. In den 70er-Jahren ereigneten sich die Vorfälle im Stadion oder in seiner direkten Nähe. Im Laufe der Zeit haben sich die Zusammenstöße von den Stadien immer weiter wegbewegt, weil die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort verstärkt wurden. Außerdem finden die Vorfälle nicht mehr zwangsläufig am Spieltag selbst, sondern auch schon mal einen Tag früher oder später statt.

Welche Länder in Europa sind am meisten betroffen?
Das Phänomen abgesprochener Schlägereien hat sich in Europa ausgeweitet, vor allem in Richtung Polen und Russland. Die Form der Gewalt richtet sich in den betroffenen Ländern nach der jeweiligen Sicherheitssituation im Stadionbereich, der jeweiligen Leidenschaft für den Sport, dem sozio-politischen Kontext und anderen Faktoren… Entstanden ist die Hooligan-Bewegung in den 70er-Jahren in Nordeuropa: in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien. Seitdem haben sich die Brandherde Richtung Osten verlagert.

Kann es bei der EM 2016 zu ähnlichen Hooligan-Vorfällen wie bei der WM 1998 in Frankreich kommen?
Absolut. Das größte Risiko für Gewaltexzesse besteht in den Innenstädten und auf den Wegen zu den Stadien. Frankreich liegt im Herzen Europas, es wird also Ziel von Fans aus allen Teilnehmerländern werden.

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Besonders viele Engländer haben sich angekündigt. Sie werden wieder die großen Plätze der Austragungsorte samt den Bars im näheren Umkreis in Beschlag nehmen und bisweilen brüsk auftreten. Das kann wiederum die lokale Bevölkerung wütend machen, so wie wir es 1998 in Marseille erlebt haben. Nur eine kleine Minderheit der englischen Fans sind Hooligans, doch zahlreiche Fans könnten sich ebenso zu gewalttätigen Akten hinreißen lassen, sollten sie sich provoziert und angegriffen fühlen. Was Deutschland betrifft, hat sich die Hooligan-Bewegung seit 1998 eher beruhigt. Verschwunden ist sie aber nie. Und die Bewegung hat durch die Nähe zu Pegida wieder an Stärke gewonnen.

Ein Pegida-Demonstrant und Hooligan. Foto: Reuters/Kai Pfaffenbach

Gibt es sogenannte Risikospiele?
Ja, das Spiel zwischen Deutschland und Polen birgt Gewaltpotential. Die Polen werden mit einem großen Fankontingent da sein und unter ihnen wird es auch Hooligans geben. Die gute Erreichbarkeit Paris' und des Saint-Denis-Stadions begünstigt große Gruppenbewegungen, was wiederum Zusammenstöße begünstigt.

Auch beim Spiel Türkei gegen Kroatien könnte es knallen. Das liegt auch daran, dass es zwischen türkischen Fans und Pariser Hools schon lange brodelt. Auslöser dafür waren zwei Europapokal-Begegnungen zwischen PSG und Galatasaray in den Jahren 1996 und 2001(wo es zu schweren Zusammenstößen mit zahlreichen Verletzten kam, Anm. d. Red.). Die beiden Fanlager haben sich in den sozialen Medien schon gegenseitig angestachelt und provoziert.

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Und das Spiel England gegen Russland in Marseille könnte ebenso problematisch werden. Erstens weil die Engländer nach Marseille zurückkehren und zweitens, weil auch die Russen eine Menge Hooligans vor Ort haben werden.

Werden wir auch französische Hooligans zu sehen bekommen?
Das ist nicht auszuschließen. Denn auch unter den französischen Fans gibt es natürlich Hooligans. Doch nicht jeder Gewaltexzess muss zwangsläufig mit organisierten Fußballfans zu tun haben. An den Ausschreitungen in Marseille 1998 haben sich neben Fans von Olympique auch ganz normale Bürger der Stadt spontan beteiligt. Vor allem in den Städten, wo es große ausländische Fankontingente geben wird, ist die Gefahr für Zusammenstöße groß.

Englische „Fans" bei der WM 1998. Foto: Reuters.

Vieles wird aber auch von der Einstellung der französischen Polizei abhängen. Die muss einerseits die öffentliche Ordnung im Blick haben, andererseits die Fans korrekt behandeln und deeskalierend wirken. Das ist eine schwierige Herausforderung, der sie 1998 nicht vollständig gerecht wurde.

Aber vor den Stadien selber müssen wir uns vor Hooligan-Gewalt keine Sorgen machen?
Nein, die Stadien und die nähere Umgebung werden dermaßen abgesichert sein, dass das dortige Risiko für Hool-Gewalt gering sein wird. Zu Zusammenstößen wird es viel eher fernab der Stadien, in den Innenstädten und den „Fanzones", kommen. Dort wird es zwar auch Sicherheitskontrollen geben, aber diese Plätze mit sehr durchmischtem Publikum sind nicht zuletzt wegen ihres Charakters als Transitorte deutlich schwerer zu kontrollieren. Dazu kommt ja auch noch die Gefahrensituation durch den Terrorismus. Es wird also auf alle Fälle eine große Herausforderung für den französischen Sicherheitsapparat werden.