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Sport

Fragen, die Deutschlands Hysterie um das Karriereende von Totilas aufwirft

Das schwarze 10-Millionen-Euro-Wunderpferd geht nach einer Verletzung in die wohlverdiente „Sex-Rente". Wir hätten da trotzdem noch ein paar Fragen.

Foto: imago/nph

Man hat es als erklärtes Pferdemädchen nicht immer ganz leicht. Wenn man zugibt, einmal die Woche zum Reiterhof zu fahren, wird man wahlweise ausgelacht oder die Leute glauben, dass man gerade einen Witz gemacht hat. Vor allem aber versteht absolut niemand, wenn man geplante Aktivitäten am Wochenende absagt, weil man unbedingt irgendeinen Reitsport-Entscheid gucken möchte.

Am vergangenen Wochenende fand in Aachen die Europameisterschaft in diversen Reitdisziplinen (unter anderem auch in der Dressur) statt und während ich mich schon darauf eingestellt hatte, mich durch diverse Pferde-Websites klicken zu müssen, um an die aktuellsten Ergebnisse zu kommen, wurde mein Newsfeed plötzlich mit einer Meldung nach der anderen geflutet. Totilas, der vor einigen Jahren mit seinem damaligen Reiter Edward Gal Rekorde brach und in der öffentlichen Wahrnehmung zum Wunderpferd mutierte, musste wegen einer Verletzung am Hinterbein aus dem Wettbewerb zurückgezogen werden. Dass der Hengst, der vor einigen Jahren für 10 Millionen Euro nach Deutschland verkauft wurde, nicht mehr in den Spitzensport zurückkehren wird, steht mittlerweile fest.

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Ob FAZ, Süddeutsche oder Bild: Jeder hatte plötzlich eine Meinung zu dem Rappen, dessen Paradedisziplin mittlerweile von seinem tierischen Konkurrenten Valegro dominiert wird. Wenn nun also auf allen Portalen von einem niemals so dagewesenen Wunderpferd gesprochen wird, dann stimmt das nicht. Andererseits ruft eben auch kein anderer so sehr das alte Kleinmädchen-Traumbild des großen, wunderschönen schwarzen Hengstes wach wie Totilas. Eine Art leichtfüßiger Black Beauty auf Steroiden. Bei all der hysterischen Berichterstattung gab es da allerdings noch die ein oder andere Frage, die bei den poetisch verklärten Abgesängen auf die gequälte Kreatur hintenan geblieben sind.

Wieso darf ein offensichtlich verletztes Pferd überhaupt starten?

Viel war in Zusammenhang mit Totilas' Auftritt bei der EM von „Taktunreinheiten" die Rede (vom ZDF recht einfach in diesem Video erklärt). Es gibt in jeder Gangart nämlich eine bestimmte Reihenfolge, in der die Hufe des Pferdes abfußen. Ist die gestört, kann das gesundheitliche Gründe haben, ist in vielen Fällen aber ein Reiterfehler und kann beispielsweise daran liegen, dass das Tier vorne zu sehr festgehalten wird oder aufgrund falscher Handhabung verspannt ist. Wenn ein Pferd im Stehen allerdings besagtes Bein entlastet, weil es offensichtlich Schmerzen hat—dann ist es lahm und sollte von vornherein vom Wettbewerb ausgeschlossen werden.

In der Dressur, gerade auf diesem Level, ist es erklärtes Ziel, dass das Pferd mit seinen Hinterbeinen unter den eigenen Schwerpunkt tritt und somit den Großteil der Last aufnimmt. Das ist ziemlich anstrengend, gerade wenn es an Figuren geht, die einen hohen Grad an Versammlung erfordern. Deswegen wirken Grand-Prix-Dressurpferde im Vergleich zu ihren Sportkollegen in anderen Disziplinen so bullig. Wo Springpferde vor allem eine gut gewinkelte, muskulöse Hinterhand brauchen und Vielseitigkeitspferde leicht und ausdauernd sein müssen, sind Dressurpferde eine Mischung aus Gewichtheber und Balletttänzer. Vergleichbar ist dabei eine Übung wie die Piaffe, bei der das Pferd „bergauf" auf der Stelle tritt, mit Squads.

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So wie man jemanden mit verstauchter Hand nicht zum Gewichtheben antreten lassen würde, darf ein Pferd nicht zu sportlichen Höchstleistungen gezwungen werden, wenn es eine Verletzung an dem Körperteil hat, das den Großteil der Last trägt. Mir kann wirklich niemand erzählen, dass das nicht für jeden vor Ort absolut ersichtlich war.

Foto: imago/Stefan Lafrentz

Kann man der Bild-Zeitung einen goldenen Pferdepenis für die beschissenste Überschrift verleihen?

Gut. Nachdem das Blatt bereits zu Totilas-Hochzeiten fragte, ob man aus dem Dressur-Crack und der Galopprenn-Stute Danedream ein „Mega-Wunder-Pferd" züchten könnte (die Antwort lautet: Nein. Eine Kreuzung aus Formel-Eins-Wagen und Maybach gewinnt nämlich auch keinen Blumentopf), schoss sie in der allgemeinen medialen Hysterie jetzt den absoluten Vogel ab. Mit „Geht das Millionen-Pferd in Sex-Rente?" wurde die voraussichtliche Zukunft des Tieres als reiner Zuchthengst überschrieben und wer bereits von Fotokollagen des Rappen mit Sextouristenoutfit kurz vor Besteigung (haha!) des nächstem Bumsbombers nach Thailand träumt—wendet euch an die Kollegen der Bild. Die haben da sicherlich schon was vorbereitet.

„Pferde abzusamen ist nicht gefährlicher, als auf der Bundesstraße Fahrrad zu fahren."

Wer ist hier wirklich der Böse?

Es gibt verschiedene Menschen, die ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass Totilas vielleicht nie wieder ein Dressurviereck betreten wird. Die aktuellen Besitzer des Tieres, die mit aller Macht an alte Erfolge anknüpfen wollten. Die Verantwortlichen vor Ort, die ein offensichtlich lahmes Pferd an den Start gingen ließen. Bei all der berechtigten Kritik kommt eine Person allerdings überraschend gut weg: Edward Gal, der Totilas ausgebildet und zu Weltruhm geritten hat.

Edward von Gal mit Glock's Undercover, der aus dem Maul blutet. Foto: imago/Eibner

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Der Mann, der mit der niederländischen Equipe bei der EM am Wochenende die Goldmedaille gewann und seit Jahren für seine Verwendung der „Rollkur" in der Kritik steht—bei dem das Pferd extrem „eng eingestellt" wird. Das bedeutet: Statt den Kopf so zu tragen, dass das Genick den höchsten Punkt darstellt und sich die Nase an der Senkrechten (oder je nach Tempo und Lektion leicht davor befindet), wird dem Pferd der Kopf an die Brust gezogen. Das sorgt für eine Überdehnung (Hyperflexion) der Halsmuskulatur und führt dazu, dass das Pferd nicht nur Schmerzen hat, sondern den Kommandos seines Reiters mehr oder minder hilflos ausgeliefert ist. Das Ergebnis sind verspannte Pferde, deren hakeliges, spektakuläres Luft-Treten nichts mehr mit natürlichen Bewegungsabläufen zu tun hat—und bei denen die Gefahr besteht, dass sie bereits in jungen Jahren „platt", also mehr oder minder lahm geritten sind.

Ist ein Pferd auf diese Art und Weise ausgebildet, ist es nur schwer, mit anderer Reitweise ähnliche „Leistungen" abzurufen. Man könnte also sagen: Als Sportpferd war Totilas' Schicksal ziemlich früh besiegelt.

Mit seinem neuen Championatspferd Undercover wurde Gal während seines laufenden Ritts disqualifiziert, weil der Hengst aus dem Maul blutete. Ein heimlich aufgenommenes Video, was jetzt auf Facebook die Runde macht, zeigt, wie der Reiter Tage vorher den Kopf des Tieres deutlich an die Brust zieht. Niemand schreitet ein. Nicht die Stewards, die derartiges Verhalten ahnden müssten (die Hyperflexion des Halses ist auf deutschen Abreiteplätzen bis zu einer Dauer von acht Minuten erlaubt), nicht die Umstehenden Pferdeverständigen. Wer die Geschichte des gequälten Wunderpferds erzählt, muss bei Gal und seinen Methoden anfangen.

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Hat Totilas' Verletzung vielleicht sogar etwas Gutes?

Wie eingangs bereits erwähnt: Es interessieren sich in aller Regel nicht so wahnsinnig viele Leute für Reitsport. Dass Totilas als Thema so viele Leute darauf aufmerksam macht, was in der Dressurszene seit Jahren falsch läuft, ist somit eine durchaus positive Entwicklung. Wenn öffentlicher Druck dazu führt, dass vor und hinter den Kulissen ab jetzt genauer hingeguckt wird, um das Image des Sports nicht vollends an die Wand zu fahren, sehen wir zukünftig vielleicht deutlich weniger gequälte Pferde mit blauen Zungen und kaputten Beinen. Wie es anders geht, zeigte am selben Wochenende übrigens Ingrid Klimke, die Platz 1 und 2 der Vielseitigkeitsprüfung belegte. Ihre Tiere waren entspannt, losgelassen, zufrieden.

Und auch Totilas wäre es zu gönnen, dass er endlich wieder Pferd sein kann. Mit täglichem Auslauf und Kontakt zu anderen Pferden. Mit der Möglichkeit, von der Welt mehr zu sehen als die Innenwände seiner Boxen oder den Sand des Dressurvierecks.