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Handspiel

Warum nicht mal alle Schiedsrichter wissen können, was Hand ist

41 Prozent der Bundesligaprofis gaben an, dass sie die Handspielregel nicht verstehen. Unser Schiedsrichter-Experte glaubt, dass die Unparteiischen sich auch nicht sicher sind. Gute Initiativen zum Verständnis stellte der DFB wieder ein.
Foto: Imago/Philippe Ruiz

Was ist eigentlich eine unnatürliche Handbewegung? Und wann ist der Arm noch angelehnt? Aktiv oder nicht? – Das sind Fragen, die sich nicht nur verzweifelten Fußballfans Woche für Woche stellen. Der kicker befragte zum Ende der vergangenen Saison 248 Bundesliga-Profis zu diesem Thema: Nur 44,8 Prozent von ihnen gaben an, dass sie noch wissen, was ein Handspiel ist. 41,1 Prozent (!) erklärten, dass sie nicht mehr wissen, was Handspiel sei. Es geht aber nicht nur Spielern und Fans so: Auch die Schiedsrichter kommen bei der Handspiel-Debatte ins Schwitzen.

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"Es gibt relativ klare Anweisungen von DFB und UEFA, die auf dem Platz aber relativ schwer umzusetzen sind", erzählt Amateur-Schiedsrichter Niclas Erdmann. Der Student im Master Wirtschaftspsychologie forscht zur Persönlichkeitsstruktur von Fußballschiedsrichtern und gründete den Schiedsrichter-Blog "Schirilogie". Der 23-Jährige versuchte auch schon das Dilemma der Handspielregel vereinfacht darzulegen – doch es bleibt kompliziert. Im Gespräch mit VICE Sports erzählt er, warum auch unter Schiedsrichtern über die Handspielregel wenig Klarheit herrscht, wieso in nur einer Sekunde unmöglich der Regelkatalog befolgt werden kann und warum der DFB eine richtige Initiative leider wieder einstellte.

VICE Sports: Nur 44,9 Prozent der vom "kicker" befragten Spieler gaben an zu wissen, wann genau ein Handspiel vorliegt. Kannst du das verstehen?
Niclas Erdmann: Das ist absolut nachvollziehbar. Ich würde sogar weiter gehen: Eine Umfrage mit Schiedsrichtern würde sehr wahrscheinlich aufdecken, dass auch unter ihnen teils wenig Klarheit in puncto Handspiel herrscht. Das Problem lässt sich schnell erklären: Wir dürfen gemäß Regelwerk nur "absichtliche" Handspiele pfeifen. Ob es sich um Absicht oder keine Absicht handelt, müssen wir anhand von verdammt vielen Kriterien herausfinden – denn wir können ja nicht in die Köpfe der Spieler schauen. Wie könnt ihr Kriterien wie die Verbreiterung der Körperfläche, aktive Bewegung, Spannung im Arm, natürliche oder unnatürlich Handhaltung oder die Distanz zwischen den Spielern innerhalb kürzester Zeit vergleichen und euch sofort entscheiden?
Laut Berechnungen des DFB-Lehrwarts Lutz Wagner haben wir durchschnittlich 0,7 Sekunden Zeit, um eine Aktion wahrzunehmen und eine Entscheidung zu treffen. Wir können in dieser kurzen Zeit aber nicht alle Kriterien vollkommen bewusst und durchdacht vergleichen, sondern entscheiden meist eher intuitiv und handeln nach kognitiven Schemata. Wenn ich also schon 10.000 Handspiele in meinem Leben gesehen habe, dann vergleicht mein Gehirn das wahrgenommene Handspiel mit meinen erlernten Vorerfahrungen und ich entscheide relativ schnell auf „Absicht" oder „Keine Absicht".

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Handspiele sind also nie eindeutig klar?

Weil von zum Beispiel sechs wichtigen Kriterien oft drei für und drei gegen Absicht sprechen, bewegen wir uns dabei meistens in Graubereichen. Wir müssen auf dieser Basis jedoch Schwarz-Weiß-Entscheidungen – also z.B. „Elfmeter" oder „Kein Elfmeter" – treffen. Diese sich oft widersprechende Fülle an Kriterien macht die Handregel so komplex und teils auch einzigartig. Hinzu kommt natürlich, dass solche Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln auf dem Platz häufig ganz unterschiedlich aussehen. Was zusätzlich alles komplizierter macht: Die Auslegung des Handspiels hat sich entwickelt.

Inwiefern?

Der Absichtsbegriff hat sich in den letzten Jahren etwas gewandelt: Es gilt heute weniger die „Absicht im Wortsinn", sondern eher die „Absicht im Regelsinn". Das heißt: Es liegt nicht nur dann ein regelwidriges Handspiel vor, wenn der Spieler den Ball "absichtlich" an den Ball geht, sondern auch dann, wenn ein Spieler quasi "grob fahrlässig" gehandelt hat. Also beispielsweise mit gespreizten Armen nach oben in der Mauer steht und so einen Torschuss abwehrt. Deshalb sprechen wir heute auch häufig von „strafbaren" Handspielen, um den Terminus der Absicht ein Stück weit zu umgehen.

Welche Optionen gibt es, um die Handregel aus dem Graubereich zu holen?

Die einzigen Schwarz-Weiß-Alternativen wären: Wir erlauben jedes Handspiel. Dann würden wir aber kein Fußball mehr spielen. Oder wir verändern den Sport und jedes Handspiel wird abgepfiffen.

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Dann hätten wir in jedem Spiel bestimmt zehn Elfmeter…

Ja, die Anzahl der Elfmeter würde steigen. Spieler versuchen immer das Maximum herauszuholen: Es könnte dann Versuche geben, dass im Strafraum bewusst Hände abgeschossen werden. Vielleicht würde so etwas sogar trainiert. Dann würden die Verteidiger – wie sie es manchmal heute schon tun – nur noch mit den Armen auf dem Rücken herumlaufen. Wir können aber nicht erwarten, dass Fußballspieler ihre Hände abschrauben. In vielen Situationen brauchen auch Elitesportler einfach die Arme, um nach einem Sprung die Balance zu halten und zu stehen.

Die optimale Lösung gibt es also nicht. Auch nicht, wenn der Video-Assistent in der neuen Saison kommt?

Nein, auch mit dem Video-Schiri wird die Handspielregel ein Graubereich bleiben und ein Handspiel nur selten 100 Prozent klar sein. Die Diskussionen wird es höchstwahrscheinlich weiterhin geben. Der Video-Assistent wird ja auch nur eingeschaltet, wenn es eine klare Fehlentscheidung gibt. Durch ihn könnte aber natürlich schon eine einheitlichere Linie entstehen – zu diesem Zweck werden sich die Video-Assistenten ja auch alle in demselben TV-Studio in Köln befinden.

Der DFB hatte in der letzten Saison einen Schiedsrichter-Video-Blog mit Lutz Michael Fröhlich und Hellmut Krug gestartet, wo größere Entscheidungen in der Bundesliga besprochen wurden. Diese Idee wurde aber wenig später wieder eingestampft… Versteht niemand die Handregel, weil die Kommunikation so schlecht ist?
Dieser Videoblog war meiner Meinung nach ein Schritt in die richtige Richtung. Beim Thema Handspiel sind schließlich eine gewisse Transparenz und Außenkommunikation entscheidend. Der DFB könnte auch eine Pressekonferenz halten oder eben solche Videoanalysen bereitstellen. Das würde die Medienvertreter schulen und den Fans einen Einblick geben. Dort kann man zudem in der Vordergrund stellen, dass wir Schiedsrichter auch nur Menschen sind. Das könnte positiv zur Akzeptanz des Schiedsrichters beitragen. Im Grunde genommen müssten die Verbände nur das tun, was Blogs wie Collinas Erben oder Schirilogie schon machen. Trotz der Einschränkungen, die wir besprochen haben: Kann die bestehende Regel noch verbessert werden?
Das ist natürlich schwer. Aber man könnte einzelne Kriterien von Verbandsseite her stärker gewichten. Das passiert zum Teil schon heute. Beispielsweise sind Handspiele, bei denen der Ball von einem anderen Körperteil des Spielers – wie etwa von seinem Fuß – an die Hand prallt, in aller Regel unabsichtlich. Ein anderes Beispiel ist die Vergrößerung der Körpertrefferfläche, die international nach meiner Wahrnehmung stärker ins Gewicht fällt als hierzulande. Eine komplizierte Klassifizierung der Kriterien würde die Handspielregel also vereinfachen?
Kriterien sind nicht alles: Man kann Handspiele auch in der medialen Nachbetrachtung sicher sehr detailorientiert unter das Mikroskop legen und sie kriterienorientiert in ihre einzelnen Strukturen sezieren, um zu einem Urteil zu kommen. So wichtig das auch ist: Die Gefahr dieses Ansatzes besteht darin, das Gesamtbild aus dem Blick zu verlieren. Es ist auch wichtig, Handspiele in ihrer Gänze, also gewissermaßen aus einem Weitwinkelformat, zu betrachten: Am Ende des Tages will die Fußballgemeinschaft beispielsweise keine mit der Hand erzielten Tore sehen: Hier liegt die Latte, Handspiele zu ahnden, deutlich niedriger als bei Verteidiger-Handspielen. Auch solche Grundsatzeinstellungen können Entscheidungen und Urteile prägen. Der Fußball muss sich da unbedingt hinterfragen, was „er" will – eine fast schon philosophische Frage.

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