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Wir haben mit einem Anwalt darüber gesprochen, warum er Vergewaltiger verteidigt

"Ich erinnere mich an einen Mandanten, dem eine Vergewaltigungsserie in Seniorenheimen vorgeworfen wurde."
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Jeder ist so lange unschuldig, bis ein Gericht ihn verurteilt: Dieses Prinzip gilt in den meisten Ländern der Welt. Damit das funktioniert, muss es Menschen geben, die sich für die Rechte von Leuten einsetzen, die furchtbare Dinge getan haben. Menschen, die Mördern und Vergewaltigern vor Gericht beistehen. Menschen wie Anthony Isaacs. Der Strafverteidiger lebt und arbeitet in Melbourne, in seiner über 39-jährigen Berufskarriere hat er knapp 200 Menschen verteidigt, die wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe angeklagt waren.

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Warum hilft man solchen Menschen? Und wie kann man damit leben, wenn man von der Schuld des eigenen Mandanten überzeugt ist und dieser am Ende freigesprochen wird? Über das und mehr haben wir mit Isaacs gesprochen.


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VICE: Glauben Sie, dass Sie das Richtige tun?
Anthony Isaacs: Absolut. In der Gesellschaft herrscht die Wahrnehmung, dass eine Anzeige wegen Vergewaltigung einem Schuldspruch gleichkommt. Es ist allerdings wichtig und notwendig, dass alle Beweise überprüft werden, um die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei zu beweisen. Das ist ein fundamentaler Aspekt unseres Rechtssystems.

In den Fällen, in denen die Personen auf schuldig plädieren, ist es unser Job, dem Gericht Hintergründe und Kontext zu liefern, um ein angemessenes Urteil zu erzielen. Oft handeln wir sogar ein Urteil aus, ohne dass es zur Verhandlung kommt. Die meisten Menschen wissen nicht, dass ein Großteil der Strafverfahren mit Geständnissen endet. Ich würde allerdings nicht in einem anderen Bereich als dem Strafrecht als Jurist arbeiten wollen – das ist meine Leidenschaft.

Wie ist es, jemanden zu verteidigen, von dessen Schuld Sie überzeugt sind?
Ich habe kein Problem damit, die Beweise auf den Prüfstand zu stellen. Wenn die Staatsanwaltschaft die Schuld meines Mandanten nicht zweifellos beweisen kann, dann ist das OK. Das bedeutet nämlich, dass die Beweislage nicht dem erforderlichem Standard gerecht wird. Das Strafrecht basiert auf der Beweisführung. Die Tatsache, dass die Person angeklagt wurde und noch so viele Indizien gegen sie sprechen, ändert nichts für mich an meiner Arbeit. Der Mandant will, dass ich ihn verteidige. Das ist mein Job.

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Sie verteidigen also öfter Menschen, die Sie für schuldig halten?
Wir handeln im Auftrag unserer Mandanten. Vor Kurzem erst hatten wir einen Fall, bei dem wir die Beweise gegen unseren Mandanten für sehr fundiert hielten. Wir informierten ihn darüber, dass er durch ein Schuldgeständnis mit einem milderen Urteil davonkommen würde. Er hat es aber gegen unseren Rat auf eine Verhandlung ankommen lassen und wurde verurteilt. Er ist daraufhin in Berufung gegangen und wurde wieder schuldig gesprochen.

Habe ich ein Problem damit, solche Menschen zu vertreten? Nein. Dass er angeklagt wurde und die Indizien gegen ihn sprechen, ändert nichts daran.

Haben Sie jemals erfolgreich einen Mandanten verteidigt, von dessen Schuld Sie überzeugt waren?
Ich erinnere mich an einen Fall vor mehreren Jahren. Ich habe einen Typen verteidigt, der wegen Vergewaltigung angeklagt war. Die Jury sprach ihn am Ende frei. Als wir danach das Gericht verließen, machte er eine Bemerkung, die keinen Zweifel an seiner Schuld ließ. Er wusste, dass ich alles andere als zufrieden mit ihm war. Aber im Grunde denke ich nicht an so etwas. Wenn etwas nicht zweifelsfrei bewiesen ist, gibt es eben noch Zweifel. Nur weil eine Person nicht verurteilt wurde, heißt das nicht, dass man sie für unschuldig hält.

Ich muss meine Mandanten nicht mögen oder das, was sie getan haben. Man sollte nicht vergessen, dass auch wir Strafverteidiger Teil der Gesellschaft sind. Wir sind Väter, Ehemänner, Söhne, Mütter, Ehefrauen und Töchter. Uns geht es im Angesicht solcher Verbrechen wie allen anderen.

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Haben Sie oft Schuldgefühle gegenüber den Menschen, die ihre Mandanten beschuldigen?
Manche Dinge, die meinen Mandanten vorgeworfen werden, sind verstörend. Es ist wirklich schwer mitanzuhören, wie diese Taten die Opfer traumatisieren. Die allerschlimmsten Fälle sind die, bei denen man mitbekommt, wie eine Tat jemanden körperlich oder mental ruiniert, zum Beispiel in die Alkohol- oder Drogensucht getrieben hat. Es ist für absolut jeden emotional zu hören, wie das Leben eines Menschen ruiniert wurde.

Gab es einen Moment, in dem Sie den Job hinschmeißen wollten?
Es gibt Kollegen, die damit aufgehört haben, weil es sie zu sehr mitgenommen oder emotional ausgezehrt hat. Bei mir ist das aber nicht so, obwohl ich schon Menschen verteidigt habe, die schreckliche Dinge getan haben. Ich erinnere mich noch an einen Mandanten, dem eine Vergewaltigungsserie in Seniorenheimen vorgeworfen wurde. Die Opfer waren allesamt betagte Frauen. Zwar gestand er die Tat, aber es war trotzdem hart. In meinen Augen tun viele Menschen diese Dinge, weil sie selbst Probleme haben. Unsere Aufgabe als Strafverteidiger ist es, dem Gericht diese Probleme zu erklären und eine angemessene Strafe vorzuschlagen.

Haben Sie jemals Probleme einzuschlafen?
Früher habe ich getrunken, wenn ich unter Stress stand. Ich habe jetzt aber seit über dreieinhalb Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Man kontert auch mit schwarzem Humor. Es ist außerdem schon öfter vorgekommen, dass ich mit Freunden beim Abendessen war und sie mich nach meiner Arbeitswoche gefragt haben. Dann erzähle ich von einem Mandanten und meinen Freunden fällt die Kinnlade runter. Ich denke mir aber nur: "Was war denn jetzt so schlimm daran? Du hättest mal von diesem anderen Mandanten hören sollen!" Man verliert das Gefühl dafür, wie ungewöhnlich derartiges Verhalten ist.

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Kritisieren Menschen Sie für ihre Berufswahl?
Ich wurde öfter schon gefragt: "Wie können Sie für Verbrecher arbeiten?" Andere Menschen haben mich einen räudigen Hund genannt oder mich gefragt, wie ich nur mit mir leben könne. Manche haben mir vorgeworfen, die Frauen im Zeugenstand attackiert zu haben. Für Freisprüche wurde ich auch schon kritisiert. Ich erinnere mich an eine besonders heftige Diskussion, die ich mit dem Freund eines Freundes hatte. Bei einem gemeinsamen Abendessen erzählte dieser Mann davon, wie er als Geschworener einen Großteil der Jury von der Schuld des Angeklagten überzeugt hatte. Ich fragte ihn daraufhin: "Fühlen Sie sich damit wohl, obwohl die anderen anfangs einen anderen Eindruck hatten?" Als ich ihm auch noch sagte, was ich mache, ging er auf mich los. Bei uns Strafverteidigern würde es ja nur darum gehen, Menschen hinters Licht zu führen, Fragen zu stellen, die nicht beantwortet werden können, und Menschen einzuschüchtern.

Wie häufig ist der Angeklagte wirklich unschuldig?
Gelegentlich haben wir es mit Fällen zu tun, in denen beide Parteien stark alkoholisiert waren oder unter dem Einfluss von Drogen standen. Später setzt dann die Reue oder vielleicht auch Scham ein, es gibt Erinnerungslücken oder sogar Vermutungen anderer, was passiert sein könnte. Daraus kann dann eine Anzeige wegen Vergewaltigung entstehen – oftmals eine, in der die anzeigende Person angibt, nicht fähig zu einvernehmlichem Handeln gewesen zu sein.

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Problematische Fälle im Bereich sexualisierter Gewalt entstehen auch, wenn Frauen beim Fremdgehen erwischt werden und dann eine Vergewaltigung vorgeben. Viele sagen natürlich, dass das totaler Unsinn sei. "Warum würde jemand so etwas tun und das alles auf sich nehmen?" Gerade haben wir einen Fall, in dem unser Mandant sagt, dass alles OK gewesen sei, bis sie am nächsten Tag Abdrücke und blaue Flecken an ihrem Hals und ihrer Brust entdeckt habe – ihm zufolge das Resultat von heftigem Sex. Sie allerdings habe sich gefragt, wie sie das ihrem Freund erklären könne. Also ist sie zur Polizei und hat ihn wegen Vergewaltigung angezeigt. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, aber das ist, was mein Mandant sagt. Es ist nicht meine Aufgabe, das Urteil zu fällen.

Aber was, wenn sie vergewaltigt wurde?
Dann sagen wir zu ihr: "Beweisen Sie ohne Zweifel vor einer Jury, dass sie nicht zugestimmt haben."

Angenommen sie wurde tatsächlich vergewaltigt, dann ist das eine sehr kalte Reaktion.
Aber was soll denn die Lösung sein, wenn nicht eine Gerichtsverhandlung? Wie soll man das sonst handhaben? Unser Rechtssystem stellt sicher, dass keine Unschuldigen im Gefängnis landen – und das ist wichtig. Bestimmt landen auch Unschuldige im Gefängnis, aber den besten Schutz davor bietet immer noch eine Verhandlung, in der die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei bewiesen werden muss.

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