Ein untersetzter Mann, um die 60, läuft die Potsdamer Straße in Berlin-Schöneberg entlang. Es ist so heiß, dass die Luft flimmert und so schmeckt, als ob man gerade über den dampfenden Asphalt leckt.Der Mann keucht, er bleibt an einer weiten Glasfront stehen, in einem Viertel voller ungeputzter Fenster und ranziger Imbisse, und betrachtet das Zimmer dahinter. Es leuchtet ihm rötlich und gelb und tiefblau und orange entgegen, als hätte jemand einen Regenbogen in einen Eimer gesteckt, ihn kräftig geschüttelt und dann als Farbe an die Wände geworfen.
Anzeige
Der Raum ist etwa 20 Quadratmeter groß. Darin steht ein einziges Möbelstück: ein weißes Bett. In ihm liegen zwei junge Menschen aufeinander. Der Mann kneift seine Augen zusammen, gibt der Szenerie noch eine Sekunde – schüttelt missmutig seinen Kopf, zieht weiter. Schon klar: Das ist nicht mehr seine Welt.Wem diese Welt gehört, die ganze Gegend um die Potsdamer Straße, Kurfürstenstraße, Bülowstraße, ist eine offene Frage. Sie ist altes West-Berlin, berühmter Straßenstrich, Sozialfall, Gentrifizierungsopfer und Kunstmeile in einem. Genau dort gibt es nun in der Galerie Zwitschermaschine mit dem Projekt "ZIMMERFREIheit" den einzigen Art Space Berlins, den sich Leute mieten können – auch und vor allem, um darin Sex zu haben.
Die jungen Menschen auf dem Bett heißen Mila und Alex. Sie sind heute für das Interview mit VICE da, aber sie haben auch schon eine Nacht in der Zwitschermaschine verbracht. "Wir fanden es krass, dass so viele Leute das hier für einen Puff halten." Die Reaktionen der Passanten lassen sich auch vom Bett aus gut verfolgen, denn der federweiße Vorhang des Erdgeschoss-Zimmers bedeckt absichtlich nur einen Teil des Fensters. Passanten haben somit natürlich auch einen Einblick ins Zimmer. Damit ist die Zwitschermaschine ein offenherziges Pop-up-Liebeshotel.In dem Film Blue Valentine gibt es eine extrem abgefuckte Szene in so einem Liebeshotel, in der Ryan Gosling und Michelle Williams an ihrer erlischenden Liebe verzweifeln. Sie streiten und kämpfen und machen alles, nur keine Liebe, und sie machen alles schmerzhaft falsch, in nachtblauem Neonröhrenlicht. Dagegen wirkt der von herzigem Rot dominierte Raum an der Potsdamer Straße eher wie ein Ja. Zu welcher Frage auch immer.
Anzeige
Ein Raum zum Pilze Nehmen und Ausflippen
Anzeige
Wie Mila und Alex das so erzählen, auf dem Bett sitzend, laufen weitere Passanten wie der untersetzte Mann von vorhin vorbei, schauen hinein. Manche lächeln, andere schwenken missmutig irritiert ihre Köpfe, viele ziehen einfach vorbei. Das Interview findet ja auch bei Tageslicht statt, und dieser Raum voller Licht und Sex und Widerspruch ist ein Nachtbewohner. Und wirkt als Gallery with Benefits trotzdem wie ein Verbindungselement zwischen den beiden Energiezentren dieser Straße: Sex und Kunst.
Genau so haben das die beiden Kuratoren Michelle Houston und Denis Leo Hegic auch gewollt. "Galeristen und Prostituierte haben viel gemeinsam", erklärt Houston. "Sie verkaufen Träume, Sehnsüchte, Gelüste." Hegic ergänzt: "Sie verwenden auch die gleichen psychischen Tricks: Verkleidung, Maskerade, Täuschung. Wichtig ist natürlich auch der Wunsch, sich täuschen zu lassen."Houston und Hegic sind sehr typische Berliner, das heißt: Sie lieben die Stadt und sind nicht von hier. Hegic gibt seine Herkunft mit "Jugoslawien" an, Houston ist aus London nach Berlin gekommen. Beide wohnen seit Jahren in dem Kiez um die Potsdamer Straße, "für mich die schönste Gegend Berlins", schwärmt Hegic. Mit HipHop-iger Basecap, Hornbrille und einer Halskette mit Davidsstern wirkt Hegic wie der Gegenentwurf einer elitären Kunsttype. Dabei ist er weltweit aktiv, kuratiert ein Museum für zeitgenössische Kunst in Taiwan und ist einer der Köpfe hinter "Wandelism", der erfolgreichsten Street-Art-Ausstellung Berlins in diesem Jahr. Michelle Houston war vor der Zwitschermaschine Agentin beim britischen Auktionshaus Christie’s.
Hier rocken Leute, die Berlin wirklich lieben: Wahl-Berliner
Anzeige
"Wir arbeiten mit dem Kontext, der Umgebung", sagt Houston. "Manchmal laufe ich durch die Gegend und sehe in einer Galerie ein Bild, das mich fasziniert", erklärt Hegic. "Aber wenn jemand mit so einem elitären, abweisenden Gesicht da drin sitzt, ist das wie ein Stoppschild. Dann will ich da nicht rein." Da ist die Zwitschermaschine schon das ziemlich genaue Gegenteil. "Hier kann man sogar ein Baby zeugen", sagt Hegic. "Es ist ein Langzeitprojekt. Neun Monate." Houston ergänzt: "Wenn jemand das schafft, legen wir das Ganze nach neun Monaten wieder auf."Erschaffen hat die Farbexplosion-als-Raum die Künstlerin Carolina Amaya. Sie ist 37, stammt aus Kolumbien und trägt an diesem Tag Ohrringe in Form eines Lippenstifts, die energisch baumeln, wenn sie davon erzählt, dass sie vor allem daran interessiert sei, zu untersuchen, wie verschiedene Farben auf die Menschen wirken. "Red, blue, yellow, violet", zählt sie die kontrastreichen Möglichkeiten auf, mit deren Hilfe sie die Zwitschermaschine gestaltet hat. "Nur kein Grün. Ich hasse Grün."Als sie das Zimmer bemalt hat, kamen Nachbarskinder, sie wollten und durften mitmachen. "Und einmal kam ein Typ, sagte er wäre selbst Sprayer. Er hat mir mit der hohen Decke geholfen, ziemlich viel, und ist dann kommentarlos abgehauen", erzählt Amaya. "Seither habe ich den nicht wiedergesehen."Amaya hat neben ihrer künstlerischen Tätigkeit viele Jahre in einer Werbeagentur in Kolumbien gearbeitet, um Geld für eine Berliner Existenz zu sparen. "Ich war einmal mit einem Stipendium hier und danach wusste ich, dass ich in Berlin leben muss. Ich will hier arbeiten, hier Steuern zahlen!" Als Hegic das hört, muss er lachen. "Du immer mit deinen Steuern. Ich kenne niemanden, der gerne Steuern zahlt!" Wenn sie aber ein Synonym für eine gesicherte Existenz taugen, wird vielleicht klar, warum Amaya das sagt.Als Mila und Alex irgendwann aus dem Bett aufstehen und sich verabschieden, schaut wieder ein älterer Passant durch die Scheibe, reibt sich seine Glatze, verzieht seinen Mund. Er schaut weiter auf ein leeres Plüschbett. Ein leeres Plüschbett, in einem farbexplosiven Raum, an der Potsdamer Straße. Das soll mal einer verstehen.Folge VICE auf Facebook, Instagram und Snapchat.