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Die Hennes-Weisweiler-Akademie weiß, was sie tut

Dass sich der deutsche Fußball in der Weltspitze befindet, liegt auch an seinen Trainern. Wie hierzulande üblich wird bei der Ausbildung nichts dem Zufall überlassen. Willkommen in der „Akademie”.
Foto: Imago/Revierfoto

In der Welt des europäischen Fußballs gibt es nur wenige Trainer, die so interessant sind wie Roger Schmidt. Du weißt schon, von wem die Rede ist. Der Mann—groß, schlank, mit nach hinten gegeltem Haar und einem Profil, das irgendwie etwas Vogelartiges hat—auf der Trainerbank von Bayer Leverkusen. Er gilt als einer der taktisch fortschrittlichsten Trainer der Welt, der das Konzept des druckvollen Defensivspiels weiterentwickelt hat, indem er das von Jürgen Klopp populär gemachte Gegenpressing ins Extreme getrieben hat.

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Alte Hüte, denkst du? Aber wusstest du auch schon, dass Schmidt noch 2007 als Maschinenbauingenieur gearbeitet hat? Jeden Tag nach Arbeitsschluss hat er seine Blaupausen gegen Pfeife und Taktiktafel ausgetauscht und ist zu seinem zweiten Job gefahren: Trainer vom Delbrücker SC, ein Amateurverein aus der Nähe von Paderborn.

Es vom Ingenieur zum Champions-League-Trainer in nicht einmal zehn Jahren zu schaffen erinnert fast schon an ein Drehbuch aus Hollywood. Angesichts seines kometenhaften Aufstiegs und seines taktischen Einflusses ist man geneigt, ihn für einen Wundertrainer zu halten, und vielleicht ist er das auch (auch wenn er seiner Mannschaft vielleicht nochmal erklären sollte, wie man Elfmeter schießt…). Doch dahinter steckt noch mehr. Denn Roger Schmidt—und mit ihm noch unzählige andere deutsche Trainer—ist weniger ein Zufallsprodukt als das Ergebnis aus echtem Made in Germany.

Du glaubst mir nicht? Schmidt, Jogi Löw, Jupp Heynckes, Jürgen Klinsmann und auch Silvia Neid sind allesamt stolze Besitzer einer Fußballlehrerlizenz der Hennes-Weisweiler-Akademie, in der für besonders talentierte Jungtrainer eine zehnmonatige Trainerausbildung angeboten wird.

Aus seiner Abschlussklasse 2011 ist Schmidt bei Weitem nicht der einzige illustre Absolvent. Denn zu seinen Klassenkameraden zählten auch Tayfun Korkut, Markus Weinzierl und Markus Gisdol. Und auch Thomas Schneider, der aktuelle Co-Trainer der Nationalmannschaft, drückte zusammen mit Schmidt die Trainerschulbank.

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Foto: Imago/Uwe Kraft

Man könnte vielleicht stutzig werden, dass Schmidt mit einer semiprofessionellen Trainerkarriere im Rücken überhaupt auf der Hennes-Weisweiler-Akademie zugelassen wurde, doch die Einrichtung richtet sich vor allem an Typen wie ihn. Im Kurs wird viel Wert auf Zusammenarbeit und praktischen Bezug gelegt. So ist man stets auf der Suche nach Kursteilnehmern mit unterschiedlichem Hintergrund. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich jeder selbsternannte Taktikfuchs und passionierte Sportschaugucker bewerben kann. Bewerber müssen bereits eine UEFA-A-Lizenz besitzen sowie auf eine jahrelange Trainererfahrung auf höherem Niveau zurückblicken können (es reicht also nicht aus, als Freizeitcoach die D-Jugend von Schwarz Weiß Neukölln anzufeuern). Ein idealer Klassenverband sieht so aus, dass Amateurtrainer aus der 6. Liga und aufwärts neben Trainern von Jugendakademien (die in vielen Fällen auch Sportwissenschaft studiert haben) und ehemaligen Bundesligaspielern sitzen (in der Abschlussklasse 2015 sitzt kein Geringerer als Torsten Frings).

Jedes Jahr müssen rund 80 Bewerber ein knallhartes, dreitägiges Assessment-Center durchlaufen, wovon am Ende nur die besten 24 zugelassen werden. Das Auswahlverfahren setzt sich aus drei Teilen zusammen. Im ersten Teil werden die Bewerber interviewt und müssen eine schriftliche Logik-Prüfung ablegen. Dazu wird ihnen eine Taktiktafel, ein Flipchart oder ein kurzer Spielausschnitt gezeigt und sie müssen darlegen, wie sie bestimmte Problemstellungen taktisch lösen würden. Danach folgt eine zweistündige praktische Prüfung, bei der sie eine Trainingseinheit simulieren müssen. Die Bewerber werden in diesem Rahmen beispielsweise aufgefordert, ein Training abzuhalten, das auf den kommenden Gegner und dessen typisches Spielsystem ausgerichtet ist. Zum Abschluss gibt es dann noch eine weitere schriftliche Prüfung.

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Während des gesamten Auswahlverfahrens achten die Ausbilder auf die Persönlichkeit der einzelnen Bewerber und beobachten, wie sie sich in der Gruppe verhalten. Zudem werden die Kandidaten auch von Psychologen befragt und hinsichtlich ihrer mentalen Belastbarkeit beurteilt.

„„Am Ende geht es uns natürlich um Qualität", erklärt Brendan Birch, einer der Verantwortlichen. Zusammen mit Björn Müller und Chefausbilder Frank Wormuth bildet Birch die „„Stammbesetzung" der Akademie. „„Wir brauchen die drei Prüfungsteile, doch genauso müssen wir auch mit den Bewerbern sprechen. Denn was wir brauchen, sind nicht die 24 besten Einzelkämpfer, sondern ein funktionierendes Team."

Wie man sich leicht vorstellen kann, ist die Enttäuschung bei denjenigen, die es nach drei Tagen voller Prüfungen und Interviews nicht geschafft haben, ziemlich groß und schlägt auch schon mal in Wut um. Darum sind auch erboste Voicemails und E-Mails keine Seltenheit. Doch Birch hält das für einen ganz normalen, wenn auch etwas unschönen Teil des Auswahlverfahrens. „„Wir haben bestimmte Kandidaten, die es mehrfach versuchen. Denn denen, die es nicht schaffen, sagen wir oft: ‚Ihr ward nicht schlecht, aber es reicht nicht aus für die besten 24. Ihr könnt es aber gern im nächsten Jahr erneut probieren'".

Die Emotionen kochen auch schon mal deswegen hoch, weil die Akademie nicht nur auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, sondern innerhalb der deutschen Fußballszene auch einen ausgezeichneten Ruf genießt. Es gibt sie schon seit 1947—also schon 16 Jahre länger als die Bundesliga, woran die Kursteilnehmer auch regelmäßig erinnert werden.

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Die Akademie sitzt in einem Flügel der Sportschule Hennef—eine Fußballschule und Bundesleistungszentrum für Boxen und Ringen—außerhalb von Bonn. Das zweistöckige Gebäude steht auf einer kleinen Anhöhe am Waldesrand. Über einen benachbarten Hügel geht es zu einer Reihe von Fußballfeldern. In der Haupthalle prangt ein Zeitstrahl, auf dem die gewonnenen Weltmeisterschaften der deutschen Fußballnationalmannschaft der Männer und Frauen markiert sind, während an den Wänden fenstergroße Porträts der vier früheren Präsidenten der Akademie hängen.

Jogi Löw und sein ehemaliger Co-Trainer Hansi Flick. Foto: Witters Sport—USA TODAY Sports.

Doch die Trainer in Spe kommen nicht nur hierher, um sich im Ruhm der ehemaligen Absolventen zu sonnen. Seit 2008 entspricht die Fußballlehrerlizenz, die von der Akademie vergeben wird, der UEFA-Pro-Lizenz, der höchsten Trainerausbildungsstufe der UEFA, auch wenn die Anforderungen an den deutschen Fußballlehrerschein weit über die an die UEFA-Pro-Lizenz hinausgehen. Die Pro-Lizenz ist mittlerweile für all diejenigen, die in den ersten europäischen Ligen als Cheftrainer arbeiten wollen, obligatorisch.

In Deutschland brauchen nicht nur Trainer der 1. Bundesliga die Pro-Lizenz, sondern auch die aus der 2. Bundesliga und der 3. Liga. Und was ist mit all den deutschen Jugendakademien, über die Fußballreporter nur allzu gerne berichten und die Klassespieler wie Götze und Schürrle hervorgebracht haben? Auch die müssen mindestens zwei Trainer angestellt haben, die eine Pro-Lizenz besitzen (auch wenn die meisten deutschen Talentschmieden sogar mehr als zwei Profitrainer haben).

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Mit anderen Worten ist das Trainerwesen in Deutschland auf höchstem Niveau—und dabei gleichzeitig auch bis in die 3. Liga und die Jugendförderung—standardisiert. Damit ist Deutschland vielen anderen Ländern einigen voraus. In England, zum Beispiel, müssen Trainer in der 3. Liga nur die UEFA-A-Lizenz besitzen. Und selbst in der zweiten englischen Liga müssen sich die Trainer erst ab kommendem August um eine Pro-Lizenz bemühen.

Doch was die Hennes-Weisweiler-Akademie so einzigartig macht, ist nicht die Tatsache, dass zum Ende der Ausbildung eine Pro-Lizenz winkt. Die UEFA arbeitet nämlich mit europaweit 45 Fußballschulen und -akademien zusammen, die diese Lizenz (bzw. Lizenzen, die dem UEFA-Fußballlehrerschein entsprechen) vergeben dürfen. Was die Akademie wirklich einzigartig macht, ist die Tiefe und Breite ihres Ausbildungsangebots. Die UEFA verlangt, dass Pro-Lizenz-Kurse mindestens 240 Unterrichtsstunden umfassen müssen. Laut The Guardian müssen in England für eine Pro-Lizenz 256 Kursstunden absolviert werden. In der Hennes-Weisweiler-Akademie sind dafür 815 (!) Stunden erforderlich.

Das Erste, was die frischgebackenen Kursteilnehmer machen, ist gemeinsam zu einem wichtigen Fußballturnier im Sommer zu fahren (in der Regel entweder eine U-20-Fußball-Weltmeisterschaft oder eine Fußballeuropameisterschaft), wo sie lernen, wie die Arbeit von Profi-Scouts aussieht. Zu zweit oder in kleinen Gruppen filmen sie die Spiele, analysieren das Filmmaterial und präsentieren ihre Erkenntnisse dann ihren Kursteilnehmern.

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Dabei ist die Präsentation genauso wichtig wie ihr Inhalt. Denn laut Müller laute die Kursphilosophie „„Lernen durch Lehren". Zuerst wird die theoretische Seite verschiedener Module—darunter Taktiktheorie, Physiotherapie, Psychologie/Pädagogik—durchgenommen, wobei auch häufiger bekannte Gastredner zu Wort kommen. Im Anschluss an die Theorie folgt die Praxis, und dafür geht es raus aus dem Klassenzimmer. Die Praxisstunden werden häufig von den Kursteilnehmern selbst organisiert—unter dem wachsamen Auge der Ausbilder, versteht sich. Dazu tragen sich die Teilnehmer, meist in Zweiergruppen, gegenseitig ihre Ergebnisse vor, bevor es dann im Plenum an die kritische Auswertung geht. Aus diesem Grund werde beim Auswahlverfahren auch so sehr auf die Persönlichkeit der einzelnen Teilnehmer geachtet, so Müller weiter. Denn für diesen Kurs sei es unerlässlich, dass seine Teilnehmer ihre Egos zu Hause lassen und mit konstruktiver Kritik umgehen können.

Doch auch dieses System hat seine Schwächen, vor allem in Form seiner—alles andere als positiv konnotierten—Exklusivität. Die UEFA-Regularien hinter der Pro-Lizenz sehen nämlich vor, dass es pro Nation nur einen Weg geben soll, um Profittrainer zu werden, und der führt in Deutschland nur über die Hennes-Weisweiler-Akademie. Und weil die sich auf einen ganz bestimmten Persönlichkeitstypen festgelegt hat, werden viele potentiell begabte Trainer ausgeschlossen, nur weil sie (anscheinend) den charakterlichen Vorstellungen der Akademie nicht entsprechen. An den UEFA-Regularien kann die Akademie natürlich nichts ändern. Doch auch an den hauseigenen Aufnahmekriterien wird wohl eher nicht gerüttelt werden. Schließlich stehen sie durchaus für die Entwicklungen im modernen Fußball. Die Rolle eines Trainers ist längst nicht mehr die des unfehlbaren Anführers, der über alles bestimmen kann. Vielmehr werden heutzutage Persönlichkeiten gesucht, die zu delegieren bereit sind und die zudem über ausgeprägte zwischenmenschliche Fähigkeiten verfügen.

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Der Jürgen bei seinen US-Boys. Foto: Mark J. Rebilas—USA TODAY Sports

„Ein Ziel des Kurses ist es, den Teilnehmern auch die Werkzeuge an die Hand zu geben, die nötig sind, damit die Zusammenarbeit mit den unterschiedlichen Helfern moderner Bundesligamannschaften reibungslos verläuft. „Wir wollen nicht nur theoretisches Wissen vermitteln, sondern auch dafür sorgen, dass unsere Absolventen wissen, welche praktischen Aufgaben und Herausforderungen auf sie warten", so Birch. „„Darum unterrichten wir auch all diese Module."

Mit anderen Worten muss die Cheftrainergeneration von heute verstehen, wovon der Fitnesstrainer spricht, was die Statistikabteilung herausgefunden hat, und was die Videoanalysten zu erklären versuchen. Wenn der Teamarzt beispielweise vor den Folgen von Übertraining warnt, sollte auch der Coach wissen, was die medizinischen Warnsignale einer chronischen Überbelastung sind.

Zu diesem Zweck müssen die Teilnehmer, neben den theoretischen und praktischen Modulen, auch ein achtwöchiges Praktikum absolvieren. Das Praktikum ist ein essentieller Teil der Ausbildung und muss zusätzlich zu den 815 Kursstunden gemacht werden. In seinem Rahmen wird jeder Teilnehmer der ersten Mannschaft eines Bundesligavereins zugeordnet. Für viele bedeutet das Praktikum dann auch die allererste Kostprobe von der großen Bundesliga-Bühne.

Die Leute wundern sich oft, dass so viele junge Trainer eine Chance bei teilweise großen Bundesligaclubs bekommen: Die Erklärung hierfür liegt genau in der hervorragenden Arbeit der Hennes-Weisweiler-Akademie. Denn die Teams wissen schon vorher, welche Art von Trainer sie erwarten können—nämlich vielseitige Teamplayer mit einem großen Taktikverständnis, die geschult wurden, über den trainerüblichen Tellerrand hinauszuschauen. Und dank der Praktika kennen viele Vereine ihre künftigen Trainer schon von früher.

Die meisten Absolventen müssen übrigens nicht lange warten, bis sie bei einem Profiklub als Trainer unter Vertrag genommen werden. Das galt auch für Roger Schmidt: Nach seinem Abschluss bekam er gleich einen Job beim SC Paderborn, der damals in der 2. Bundesliga spielte. Nach einem äußerst erfolgreichen Jahr, das für die Blau-Schwarzen auf dem fünften Platz endete, entschloss sich Schmidt, nach Österreich, genauer gesagt zu Red Bull Salzburg, zu gehen, mit denen er 2014—also erst in seiner dritten Profisaison—Meisterschaft und Pokal gewann. Doch es war weder in Paderborn noch in Salzburg, wo ihm der Einfall zu seiner fortschrittlichen Spielweise kam. Denn schon während seiner Fußballlehrerausbildung hat sich Schmidt zu der heute von ihm praktizierten Taktik Gedanken gemacht und diese in Form seiner Abschlussarbeit niedergeschrieben. Doch wer weiß, vielleicht hat Ingenieur Schmidt schon lange vorher gewusst, wie die Blaupause für ein erfolgreiches Pressingspiel auszusehen hat.