Warum deutschsprachige Belgier die patriotischsten Belgien-Fans sind
Alle Fotos: Benedikt Nießen

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ostbelgische fans

Warum deutschsprachige Belgier die patriotischsten Belgien-Fans sind

​In Ostbelgien spricht man Deutsch, man schaut deutsches Fernsehen und die Fanherzen schlagen eher für BVB und Schalke statt für Standard Lüttich oder Anderlecht. Trotzdem ist jeder ein roter Teufel.

„I glaub nur Hulapalu is net ganz jugendfrei, du sogst nur wos is schon dabei? Hodiodioooodiooodie, Hodiodioooodiooodie", johlen einige betrunkene Typen mit schwarz-gelb-roten Mützen und Trikots vor einer Leinwand einen Schlager-Hit von Andreas Gabalier. In der einen Hand ein Bier, in der anderen noch eins. Was nach deutscher Reinkultur vom Megapark auf Mallorca klingt, ist der multipolare Kulturwahnsinn auf einem Public Viewing im deutschsprachigen Teil Belgiens. Die belgische Fußballnationalmannschaft spielt gegen Irland—und ein ganzes Städtchen sieht Rot.

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Die große Leinwand steht im Herzen von Eupen zwischen Kirche und einer bronzenen Clown-Statur—dem karnevalistischen Wahrzeichen der Stadt. In dem nur 20 Kilometer von Aachen entfernten Städtchen mit nicht mal 20.000 Einwohnern hängen derzeit an fast jedem Haus Belgien-Fahnen aus den Fenstern. Alte Männer mit hässlichen Bierwerbe-Kopfbedeckungen, kleine geschminkte De-Bruyne-Kids und rote Teufelinnen mit Blumenkettchen strömen überall durch die Straßen. EM-Wahnsinn eben. Es sind noch zwanzig Minuten bis zum Anpfiff. Ich stehe mit Johnny und Damien an einem Getränkestand. Wir spielten früher lange zusammen in einer Fußballmannschaft und tun das, was wir irgendwann irgendwie immer taten: Wir trinken Bier.

Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens—kurz DG—mit ihrer Hauptstadt Eupen ist neben der Französischen und der Flämischen die dritte Gemeinschaft des Landes. Bis 1920 waren die Kreise Eupen und Malmedy etwa hundert Jahre Teil des Regierungsbezirks Aachen. Nach dem Versailler Vertrag und endgültig seit dem zweiten Weltkrieg gehören die Ostkantone zu Belgien. Deutsch wurde zur dritten offiziellen Amtssprache des Landes und aus der DG wurde die kleinste Region mit Regierung und Gesetzgebungshoheit in der EU. Knapp 75.000 deutschsprachige Belgier wohnen hier auf einer kulturellen Insel. Im Ausland denkt man, sie wären Deutsche, die meisten Deutschen fragen sie unwissend, ob sie denn auch Belgisch sprechen können, und die eigenen Landsleute vergessen sie oftmals einfach.

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„Waar is da feestje" krakeelt ein herangeeilter Schausteller von der angrenzenden Kirmes vor der Leinwand ins Mikro. „Hier is da feestje", murmeln einige Fans in der ersten Reihe noch etwas schüchtern. Der flämische Wechselgesang gehört eigentlich fest zum Repertoire der Rode Duivels, aber nach der Auftaktniederlage des Geheimfavoriten gegen Italien ist die Stimmung noch etwas betreten. Der Moderator spricht abwechselnd auf Deutsch und Französisch und stimmt die paar Hundert Fans auf die Nationalhymne ein. Ich trinke mittlerweile mein viertes Eupener Bier.

Johnny, Autor Benedikt und Damien beim Anstoßen (Foto: privat)

Die Identität der Ostbelgier ist ein komplexes Gebilde und seit Jahrzehnten kaum zu definieren. Man weiß hier zwar nicht, wer man ist, dafür allerdings umso besser, wer man nicht ist. „Wir sind keine Wallonen und auch keine Flamen und sicher auch keine Deutschen", erklärt Johnny. Damien springt ihm zur Seite: „Die Sprache ist deutsch, aber die Kultur nicht." Deutsch will hier niemand sein, obwohl die deutsche Sprache die Muttersprache der überwiegenden Mehrheit der Ostbelgier ist. Sagt man das, verweist man hier stolz auf die einzigartige Mehrsprachigkeit. Fast jeder spricht hier auch Französisch und einige sogar noch Flämisch. Trotzdem schaut man überwiegend deutsches Fernsehen, geht in Aachen ins Kino und Angela Merkel ist weitaus mehr Leuten ein Begriff als der belgische Premierminister Charles Michel.

Nachdem die ersten Melodien der Brabançonne erklingen, bricht beim Public Viewing die Wolkendecke auf. Es hagelt. Ton und Bild der Leinwand fallen aus. Von Unzufriedenheit oder wütenden Reklamierern keine Spur. Ziemlich undeutsch. Wir quetschen uns an den Bierstand und bestellen noch eins. Johnny erzählt mir von seinen Busfahrten mit dem Fanclub „BVB Tigers Belgium" zum Westfalenstadion. Organisiert in Fanclubs reisen hunderte Ostbelgier Woche für Woche in die Bundesligastadien nach Dortmund, Schalke, Köln, Gladbach oder Hamburg. Fans vom belgischen Rekordmeister RSC Anderlecht oder Standard Lüttich—dem größten Verein der Region—sind eher Exoten. Die Frage, ob man für Deutschland oder Belgien bei der EM ist, stellt sich hingegen nicht.

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„Natürlich sind wir für Belgien—das ist unser Land", erklärt Johnny. „Und nach den ganzen harten Jahren mit keiner erfolgreichen Mannschaft ist es schon schön, dass wir so viele starke Spieler haben und Geheimfavorit sind." Mittlerweile ist der Hagel vom Regen abgelöst worden und die abgesperrte Straße vor der wieder laufenden Leinwand füllt sich langsam wieder. Das Spiel plätschert aber wie das Wetter vor sich hin. Nur die zwei Kommentatoren von „La deux" ermuntern mich. Zwar wird schon ab der dritten Minute mit Superlativen wie „magistral" nur so um sich geworfen, doch irgendwie find ich den ständigen Doppelpass der beiden geil. Liegt vielleicht an der so wohlklingenden französischen Sprache. Oder auch am mittlerweile sechsten Bier. Die ostbelgische Währung ist die Doppelrunde.

„Lukaku, du Neger, du kannst gar nichts", schreit gegen Ende der ersten Halbzeit ein halbstarker Möchtgern-Ultra mit Fischermütze hinter mir nach einer unglücklichen Ballannahme des belgischen Stürmers. „Wir wollen keine Salafistenschweine", wollen zwei Jungens wenig erfolgreich anstimmen. Vielleicht deswegen, weil Romelu Lukaku im mittlerweile weltweit bekannten „Salafistennest" Molenbeek aufwuchs. Der Terror in Brüssel und die ständigen Razzien haben die Belgier zusammengeschweißt, aber auch verunsichert. Auch im kleinen Eupen stehen um das eingezäunte Public Viewing überall grimmig dreinschauende Polizisten und sind in Alarmbereitschaft. Rassismus, Vorurteile und eine generelle Verunsicherung haben sich vor allem deswegen auch hier in der Provinz in einigen Köpfen eingenistet. Ob die Hetze der Front National oder der AfD, den Rechtsruck Europas kriegen Ostbelgier von allen Seiten mit. Man spricht schließlich sowohl die Sprache von Petry als auch die von Le Pen.

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Die zweite Halbzeit beginnt fulminant. Lukaku netzt zum 1:0 ein. Freudenschreie. Eine Bierdusche prasselt auf uns nieder. Pyro und Rauchtöpfe werden gezündet. Zwei Polizisten ziehen einen aus der Halbstarken-Truppe sofort aus der Menge. Während er abgeführt wird, ertönen einige „Lukaku"-Rufe. Ironie des Schicksals. Die Sonne hat sich mittlerweile durch die dichten Wolken gekämpft und lässt das Bier auf meiner Jacke trocknen. Damien holt uns eine neue Runde.

„Ich persönlich finde, dass der fussballerische Erfolg das Land schon zusammenschweißt", erklärt mir Johnny, nachdem ich ihn über die zweifelhafte Einheit im dreigeteilten Sprachenwirrwarrland ausfrage. „Die Wallonen singen flämische Lieder mit und die Flamen singen französischsprachige Lieder." Auf Deutsch singt keiner, aber irgendwie erwartet das auch niemand. Man vermittelt lieber und hat sich angepasst, wie mir Damien erklärt: „Wir sind, denke ich, ein bisschen patriotischer als die Wallonen oder Flamen, weil wir ja mindestens zwei der Landessprachen sprechen können." Sie beide sind auch oft bei Spielen der Diables Rouges im Stadion. „Hier in der DG gibt es drei oder vier Fanclubs, die zu jedem Spiel der Belgier fahren", erzählt Johnny. „Dadurch sind natürlich sehr viele Freundschaften mit Flamen und Wallonen entstanden", führt er aus und trinkt einen tiefen Schluck aus seinem kleinen Plastikbecher Bier.

Auf das 2:0 von Witsel folgt der zweite Treffer von Lukaku. Geschrei. Leute liegen sich in den Armen. Ich werfe auch meinen Becher—und bekomme verdient doppelt so viel Bier auf mein Haupt zurück. Die „Lukaku"-Rufe werden lauter. Ein Gefühl von Stolz liegt in den Gesichtern der Menge. „Ich glaube, die Deutschsprachigen sind so fanatisch und gehen ab, weil man hier im Dreiländereck halt sehr erfolgreiche Nachbarländer hat", erklärt mir Damien. „Der Neid war immer groß und jetzt, wo man auch eine gute Mannschaft hat, fiebert man natürlich umso mehr mit." Die deutschen Nachbarn sind seitdem nicht mehr so unbeliebt wie vorher. „Das hat sich verändert. Die Belgier sind ja mittlerweile genauso größenwahnsinnig wie die Deutschen. Und das ganze Fan-Ding ziehen wir ja genauso durch", erklärt Damien weiter. Wir trinken noch ein Bier. Ich frage mich, ob ich der Einzige bin, der schon voll ist.

3:0 gewinnen die roten Teufel gegen am Ende überforderte lren. Die goldene belgische Generation hat gezeigt, warum sie auch um den Titel mitspielen kann. Auf dem Platz vor der Leinwand wehen überall Belgien-Fahnen. „Merci und bis Mittwoch zum letzten Spiel", sagt der Moderator in sein Mikro. Aus den Boxen der Leinwand kracht nun der Brings-Hit „Kölsche Jung". Neben mir hüpfen einige Menschen im Kreis und singen lautstark mit. „Dieses Team lässt ganz Belgien zusammenhalten. Kulturell und politisch ist das, denke ich, aber nicht immer der Fall", erzählt mir Johnny. Als Damien neben mir den Organisator des Public Viewings fragt, warum an der Frittenbude ganz deutsch „Pommes" draufsteht, sagt der nur: „Das ist ein deutscher Imbiss, der Wallone von vor zwei Jahren hat mich nie bezahlt."

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