FYI.

This story is over 5 years old.

uncle drew

Kyrie Irving ist ein verdammter Rebell

Ja, unser Autor ist ein riesiger Fan von Irving. Und nennt triftige Gründe dafür, warum Irving ein hervorragender—oder eher (Achtung, Spoileralarm!) GAR KEIN——Point Guard ist.
Foto: USA TODAY

Basketball ist ein Sport, in dem für Orthodoxie kein Platz ist. Es gibt nicht nur den einen Weg, wie man ein Großer seiner Zunft werden kann. So wie die NBA auch von verschiedenen Epochen geprägt war, so haben ihr auch schon ganz unterschiedliche Spieler ihren Stempel aufgedrückt: Dabei war es egal, ob sie groß oder klein waren, oder auch ob sie tolle Schützen, großartige Passgeber oder überragende Verteidiger waren. Wir haben einen jeden von ihnen für seine ganz individuelle Klasse gefeiert. Larry Bird konnte nicht über eine Fußmatte springen, hatte dafür aber jeden Wurf im Arsenal. Allen Iverson war kein Herkules, ging dafür aber furchtlos in jeden Zweikampf. Für ein Basketballspiel braucht es so viele verschiedene Talente, dass ein einzelner Spieler niemals über alle verfügen könnte. Darum haben wir schon vor langer Zeit das Konzept des perfekten Spielers über Bord geworfen und erfreuen uns lieber an den persönlichen—und oft unnachahmlichen—Stärken all dieser Klassespieler.

Anzeige

Aber warum muss dann ein Kyrie Irving so viel Kritik einstecken? Es gibt vermutlich keinen anderen Spieler in der NBA, der es schafft, durch so enge Gassen mit einer so hohen Geschwindigkeit zum Korb zu ziehen, und dabei—seinen Finten und Crossovers sei Dank—Verteidiger reihenweise alt aussehen lässt. An einem guten Abend trifft er einfach von überall—von unter dem Korb genauso wie aus 10 Meter Entfernung und im Fallen. Dabei ist er manchmal so waghalsig und unverfroren, dass es dir—ob du willst oder nicht—ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Er setzt zu einem Wurf an und alles, was du denkst, ist nur: Das kann er doch nicht ernst meinen. Und noch bevor du den Gedanken fertig denken kannst, ist der Ball schon im Korb.

Irving ist ein echter Ballkünstler und dafür allein hätte er eigentlich unser aller Bewunderung verdient. Wäre da nicht das eine große Problem: seine Position. Irving ist Point Guard und als solcher bekleidet er die letzte Rolle im modernen Basketball, die mit bestimmten Erwartungen bzw. taktischen Zwängen verbunden ist. Das wird deutlich, wenn mal wieder ein Loblied auf Chris Paul gesungen wird oder Russell Westbrooks Spielweise kritisiert wird: ein Point Guard hat die Aufgabe, das Tempo seines Teams zu kontrollieren. Er ist das Metronom seiner Mannschaft, der—jetzt wird's wichtig—lieber ein Mal zu viel als zu wenig passt und nicht ständig selber den Wurf sucht. Stattdessen soll er seinen Mitspielern zu Punkten und damit letztendlich dem gesamten Team zum Erfolg verhelfen. So sieht es zumindest das ungeschriebene Gesetz über die „„richtige" Spielweise auf der PG-Position vor.

Anzeige

Was umso verrückter ist, wenn man bedenkt, dass keine andere Position im Basketball auch nur annähernd so streng und dogmatisch ausgelegt wird. Schließlich haben wir gelernt, dass auch Big Men Dreier werfen können. Wir wissen mittlerweile, dass manche Shooting Guards lieber zum Korb ziehen, als von ihrer angestammten Position aus den Wurf zu nehmen. Und was macht ein Power Forward? Er scheut definitiv keinen Körperkontakt. Er blockt die Bälle, postet auf, spielt Pick and Roll und nimmt freie Würfe. Das ist aber nur (noch) die Theorie. In der Praxis legen Mannschaften ihr Augenmerk weniger auf eine ausgefeilte—und von irgendwelchen Regelbüchern a priori festgelegte—Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Positionen als auf eine Spielweise, die am ehesten zum Erfolg führen kann. Ist euer Center der beste Passgeber der Mannschaft? Kein Problem, mit ein bisschen Fantasie kann man auch das in ein erfolgreiches Spiel ummünzen (siehe Marc Gasols Memphis Grizzlies).

Der vielpunktende Point Guard ist—in einem Meer von ansonsten aufgeweichten Positionsbegriffen—das letzte rote Tuch für alle Basketballtraditionalisten. In diesem Zusammenhang fällt oft der Name John Wall, der, so meinen es die Experten, die Wandlung vom Saulus zum Paulus vollzogen habe. Früher noch auf möglichst viele eigene Punkte aus, habe sich Wall in den letzten anderthalb Jahren enorm „„weiterentwickelt". So wird er mittlerweile von allen Seiten für seine Rolle als „„Floor General"—soll heißen für seine Passqualitäten—mit reichlich Lob überschüttet. Das ist zwar alles schön und gut—Wall ist in der Tat ein fantastischer Spieler—zeigt aber gleichzeitig auch, wie subjektiv der Reifebegriff in Bezug auf die PG-Position verwendet wird. Entweder werden sie wie Chris Paul und Isaiah Thomas oder sie sind noch lange nicht „„fertig" in ihrer Entwicklung. Dann sind sie nichts anderes als ein selbstverliebter Point Guard, der blind und borniert auf Korbjagd geht.

Hätte Kyrie Irving während seiner ersten drei Jahre bei den Cavs den Ball häufiger zu seinen Mitspielern gepasst, vielleicht hätte sein Team tatsächlich mehr Spiele gewonnen. Andererseits, wenn man sich noch mal den Kader vor Augen führt, ist es eher wahrscheinlicher, dass Tristan Thompson zwar ein paar mehr Punkte auf dem Konto gehabt hätte, die Cavs aber am Ende der Saison dennoch im Keller der Eastern Conference gelandet wären.

Fragen dieser Art sind mittlerweile aber eh irrelevant geworden: Denn Irving spielt jetzt neben LeBron James, dem uneingeschränkten Spielmacher und Tonangeber in Cleveland. Das hat natürlich auch Kyrie eingesehen und sich in der bisherigen Saison LeBron weitgehend untergeordnet. Außerdem hat er auch ein Gefühl dafür entwickelt, wann er selber zum Korb ziehen sollte und in welchen Situationen es besser wäre, das lieber den viermaligen MVP machen zu lassen. Im Gegensatz zu Kevin Love—dem es weitaus schwerer fällt, neben LeBron zu spielen—hat Irving seinen Platz in der Mannschaft gefunden und verstanden, wie und wann er für sein Team am nützlichsten ist. Er nimmt jetzt häufiger den Wurf und leistet sich gleichzeitig weniger Turnover. Zudem bringt er sich auch mehr in der Defense ein, weil er vorne nicht mehr den Alleinunterhalter geben muss. Sein Spiel ist vielleicht noch nicht von einem anderen Stern, aber er spielt weiterhin auf einem extrem hohen Niveau. Außerdem ist ihm die Freude anzumerken, dies endlich für ein Team mit hohen Zielen tun zu können.

Irving ist ein unglaublich begabter und kreativer Schütze. Seine Treffsicherheit ist seine größte Stärke. Ihm beim Werfen zuzuschauen, macht einfach Spaß—und zwar nicht nur dann, wenn er den Meister mit 57 Punkten aus der eigenen Halle geschossen hat, sondern einfach in jedem seiner Auftritte. Sein atemberaubender Zug zum Korb, gekrönt von verrückten Lay-ins aus allen Winkeln zum Korb, ist einfach ein einmaliges Erlebnis für jeden Basketballfan und steht auch einem John Wall und Russell Westbrook in nichts nach.

Hand aufs Herz: Vielleicht ist Irving wirklich kein Point Guard im eigentlichen Sinne. Fest steht aber, dass er verdammt erfolgreich ist.