FYI.

This story is over 5 years old.

Tech

Soldaten töten Palästinenser in Flüchtlingscamp, schieben Schuld auf Navi-App

Ein neuer Sündenbock für Gewalt im Nahen Osten ist gefunden.
Der Leichnam des getöteten 22-Jährigen wird im palästinensischen Flüchtlingslager Qalandiya am vergangenen Dienstag zu Grabe getragen | Bild: imago

„Ihre Route wird berechnet": Es ist später Montagabend, als sich zwei israelische Soldaten im Westjordanland trotzdem ziemlich hoffnungslos verfahren. Irgendwo zwischen Jerusalem und Ramallah lotst sie das Navi ihres Militärfahrzeugs direkt in das palästinensische Flüchtlingslager Qalandiya. Für israelische Staatsbürger ist das Betreten jedoch strengstens verboten. Und weil wir im Nahen Osten sind, eskaliert die Situation schneller und extremer, als du salaam aleikum sagen kannst.

Anzeige

Nach Darstellung der israelischen Soldaten greifen aufgebrachte Palästinenser die Eindringlinge sofort an. Diese rufen Verstärkung per Telefon aus den israelischen Gebieten. Molotowcocktails und Steine fliegen. Der Jeep wird nach Augenzeugenberichten eingekesselt und in Brand gesteckt. Die Soldaten schießen und fliehen zu Fuß. Der Eingreiftrupp kommt hinzu, es kommt zu weiteren Zusammenstößen. „Kugelregen von allen Seiten", hörte der Korrespondent der Washington Post. Die schreckliche Bilanz nach wenigen Stunden: Ein 22-jähriger Palästinenser ist tot, erschossen von Israelis, zehn weitere wurden verletzt. Fünf israelische Grenzpolizisten werden von der Menge bestürmt und ebenfalls verwundet.

Alles nur, so behauptet das israelische Verteidigungsministerium, weil die Navigations-App Waze sie direkt in die gefährliche Gegend gelotst habe; man dürfe sich eben nicht auf Satelliten-Navigation für jedermann verlassen.

Die Firma wehrt sich allerdings heftig gegen diese Darstellung und behauptet, ein wichtiges Sicherheitsfeature für blockierte Straßen müsse von den Soldaten deaktiviert worden sein:

„Bei Waze gibt es eine spezielle Voreinstellung, die Strecken durch als gefährlich markierte oder für Israelis verbotene Gebiete vermeidet", schrieb eine Waze-Sprecherin in einer E-Mail an das Wirtschaftsmagazin Forbes. „In diesem Fall war diese Option deaktiviert. Außerdem hat der Fahrer die berechnete Route verlassen und deshalb das abgesperrte Gelände befahren." Wie und ob die Firma verifizieren kann, dass das Sicherheitsfeature ausgeschaltet war, ist nicht bekannt.

Anzeige

Technologie ist ignorant dem sozialen Umfeld gegenüber, in dem sie benutzt wird.

Der israelische Verteidigungsminister Moshe Ya'alon kommentierte die App-Nutzung und die tödlichen Ausschreitungen dagegen lapidar: „Ich habe immer gesagt, selbst wer eine Navi-App benutzt, muss trotzdem auch (selbst) navigieren können", sagte er vorgestern nahe Tel Aviv in einer Rede.

Waze ist eine Entwicklung aus der lebendigen israelischen Startup-Szene. Die Reise-App kombiniert Updates von Nutzern über Straßensperren oder andere Hindernisse auf dem Weg mit Online-Karten. 2013 kaufte Google das Navigations-Programm für 1,3 Milliarden US-Dollar.

Mehrere Aspekte an der Geschichte sind noch nicht geklärt. So ist es unter anderem schwer verständlich, wieso die israelischen Soldaten sich im Dienst auf das hakelnde Kartensystem einer App verlassen, deren Routen auf Crowdsourcing-Basis zusammengestellt werden—und entsprechend fehlerhaft sein können. „Die sollen Karten benutzen und die Route kennen", ärgerte sich Lt. Peter Lerner als Sprecher der isarealischen Streitkräfte gegenüber der New York Times.

Das Lager von außen. Bild: Heinrich-Böll-Stiftung | flickr | CC BY-SA 2.0

Das sieht auch der der US-Sicherheitsforscher und frühere US-Marine Bryan Seely ähnlich: „Soldaten im Einsatz sollten militärisches GPS benutzen." Nicht zuletzt könne eine solch offene Technologie wie bei Waze verwendet, leichter kompromittiert und durch das Crowdsourcing der Daten sogar manipuliert werden, warnt Seely im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP.

Anzeige

„Technologie ist häufig ignorant gegenüber dem sozialen Umfeld, in dem sie benutzt wird", erläutert Tech-Unternehmer Anderson Mccutcheon der Times of Israel. Eine sichere Route für einen Palästinenser kann das Todesurteil für einen Israeli bedeuten—oder umgekehrt.

Das Westjordanland ist ein Mosaik aus palästinensisch kontrollierten und israelisch besetzten Kleinst-Gebieten, in dem es seit Oktober 2015 wieder verstärkt zu tödlichen Auseinandersetzungen, Messerattacken und gewalttätigen Demonstrationen gekommen ist. Dabei töteten israelische Streitkräfte und Polizisten insgesamt 170 Palästinenser; auf israelischer Seite wurden 28 Menschen in den vergangenen fünf Monaten getötet.

Dass die crowdbasierte Eintragung von Kartendaten mitten ins Kreuzfeuer höchst politisierter Situationen führen kann, konnten die israelischen und palästinensischen Nutzer schon 2014 erfahren: Damals tauchte eine Begrenzung zwischen palästinensischen und israelisch kontrollierten Gebieten unter zwei verschiedenen Namen in der App auf—je nach Lesart als „Trennungsmauer" oder „Sicherheitszaun". Die App wurde so selbst zum Schlachtfeld der politischen Nahost-Grenzziehung.

Ob die Route nun als gefährlich markiert war oder nicht: Für den Korrespondenten der Washington Post, der Augenzeuge der Kämpfe wurde, „bleibt unklar, wie die Soldaten mitten ins Camp stolpern konnten, das zwischen Jerusalem und Ramallah eingequetscht ist. Um nach Qalandiya zu kommen, hätten die Soldaten die Grenze zwischen der West Bank und Israel vorbei an einem israelischen Checkpoint passieren müssen."