"In Europa werden Schwarze Menschen nicht als Menschen wahrgenommen"
Foto: Grey Hutton

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The Dystopia and Utopia Issue

"In Europa werden Schwarze Menschen nicht als Menschen wahrgenommen"

Die Aktivistin und Historikerin Katharina Oguntoye war eine Schlüsselfigur der frühen afrodeutschen Bewegung – und hat seitdem nicht aufgehört, gegen Rassismus zu kämpfen.

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"So lange wir unsere Unterdrückung nicht artikulieren, können wir sie nicht bekämpfen. Deshalb: Erhebt euch und schweigt nicht mehr." Mit diesen Worten ermutigte die feministische US-Dichterin Audre Lorde in den Achtzigern Schwarze Frauen in Deutschland, darunter Katharina Oguntoye. Oguntoye wurde 1959 als Tochter einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters in der DDR geboren, lebte als Kind vorübergehend in Nigeria und wuchs in Heidelberg auf.

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Lorde kam als Literaturdozentin Mitte der 1980er nach Berlin, für Schwarze Studierende war sie so etwas wie ein Zündfunke. Die amerikanische Frauenrechtlerin forderte sie auf, ihre Geschichten in dem Buch Farbe bekennen zu teilen. Als Mitherausgeberin und Autorin des Buchs war Oguntoye eine Schlüsselfigur für die Bewegung der Afrodeutschen, wie sie sich nun nannten. Dieses politische Erwachen verband Schwarze Deutsche und bot ihnen Schutz gegen die Ausgrenzung. Noch heute kämpft ihre Bewegung gegen Vorurteile, Ungerechtigkeit und Entmenschlichung.

Auch Oguntoye setzt sich weiterhin für Schwarze Menschen in Deutschland ein. Sie ist Mitgründerin der Organisation für Schwarze deutsche Frauen ADEFRA und des interkulturellen Netzwerks Joliba, das in Berlin Sozialarbeit und Kulturangebote macht. Wir blicken mit der Historikerin zurück auf stolze drei Jahrzehnte bahnbrechenden Aktivismus und sprechen mit ihr über die Gegenwart und Zukunft ihrer Heimat Deutschland.

Die Dichterin Audre Lorde signiert auf der International Feminist Book Fair 1988 in Montreal ein Buch, neben ihr lächelt Katharina Oguntoye

Die lesbische, feministische Dichterin Audre Lorde (links) mit Katharina Oguntoye (rechts) auf der International Feminist Book Fair 1988 in Montreal. Die Frauen hinter Farbe bekennen waren mit dem Buch dort eingeladen | Foto mit freundlicher Genehmigung von Katharina Oguntoye

VICE: Sie sagten 2017, Sie hätten sich langsam vorstellen können, sich zur Ruhe zu setzen, aber dann habe sich die Lage verschlimmert. Meinten Sie Deutschland?
Katharina Oguntoye: Das war auf die Weltsituation bezogen. Es war dieser Schock, dass Hillary Clinton nicht Präsidentin geworden ist, und dann haben auch noch Rechtspopulisten plötzlich wieder das Sagen, mit dem Unaussprechlichen … [lacht] Aber es ist ja nicht Trump allein. Wir haben Polen, Ungarn, selbst in Skandinavien gibt es diese Entwicklung. Am Wochenende des Brexit war ich in Großbritannien. Wie Menschen manipuliert wurden, auch viele Migranten, hat mich schockiert. Wir haben immer gefragt, wie Hitler an die Macht kommen konnte. Zu erleben, dass Menschen sich dazu bewegen lassen, gegen ihre ureigensten Interessen zu handeln, das war erschütternd.

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In Deutschland geht es ja auch deutlich in diese Richtung.
Ja, wir haben hier ja auch die Alternative für Dumme [lacht]. Und die sitzen jetzt auch noch im Parlament, als größte Oppositionspartei. Es ist absurd! Man denkt, man ist in einem Paralleluniversum.

Wie müsste Deutschland denn aussehen, damit Sie sagen: "Meine Arbeit ist getan"?
Meine Arbeit ist nach 30 Jahren sowieso getan [lacht]. Wir waren die Ersten, aber mittlerweile gibt es viele Einrichtungen, Medien und Angebote für Afrodeutsche. Was sich noch nicht durchgesetzt hat, ist, dass zum Beispiel Leute in der sozialen Arbeit wirklich wissen, wie sie Afrikanern helfen können. Ich arbeite noch dran, Wissen zu verbreiten, wie Leute vernünftig auf Kulturdifferenz eingehen können. Die führt sonst zu einer Sprachbarriere, wodurch sich Probleme hochschaukeln. Aber die nächste Generation steht in den Startlöchern. Was uns noch fehlt, sind Politiker, aber die werden irgendwann auch heranwachsen.

1991 organisierten Schwarze Menschen erstmals eine Demo gegen Rassismus in Berlin | Foto mit freundlicher Genehmigung von Katharina Oguntoye

Sie sind in der DDR, Nigeria und Westdeutschland aufgewachsen – wie unterschiedlich haben Sie die Länder erlebt?
Ich kam mit sieben nach Nigeria, das habe ich als Abenteuer erlebt. Meine Familie dort ist nicht reich, aber es war ein schöner Standard. Als ich von Nigeria nach Westdeutschland kam, verblasste die Erinnerung meiner eigenen Afrika-Erfahrung. Das Afrika-Bild, das mir gespiegelt wurde, wurde immer dominanter – und das ist natürlich eine Karikatur. Mit 30 Jahren war ich wieder in Nigeria, dort fielen mir vor allem die vielen Menschen auf. In Deutschland hörte ich immer nur Zahlen – wie viele im Krieg sterben, wie viele verhungern. Da ist mir auch klargeworden, dass in Europa Schwarze Menschen nicht als Menschen wahrgenommen werden, sondern als irgendeine Verschiebemasse. Das war mein einschneidendstes Erlebnis.

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Wie sind Sie zur Aktivistin geworden?
In Westdeutschland sollte man als Schwarzes Kind oft Sprecherrollen übernehmen. Ich hatte nicht so richtig Lust dazu. Ich fühlte mich sehr integriert. Mit diesen Sprüchen – "Warum sprichst du so gut Deutsch?", "Wann gehst du wieder nach Hause?" – muss man lernen umzugehen. Mir half, dass ich eigene Afrika-Bilder hatte und meine Verwandten kannte. So konnte ich zwischen Fremdzuschreibung und meiner eigenen Welt unterscheiden. Beide Seiten meiner Familie sind eher Intellektuelle und diskutierten immer viel. Mein eigenes Engagement kam in der Teenagerzeit, mit der Umweltbewegung. Ich bin Mitte der 70er in der Zeit der Anti- Atomkraft-Bewegung politisch erwachsen geworden. Dann kam Mitte, Ende der 70er die Frauenbewegung dazu, da habe ich mich engagiert. Das war der Punkt, an dem ich meinem Umfeld auffiel: "Was willst du mit Frauenbewegung?" Das war schon außerhalb des Mainstreams.

Sie besuchten eines der Seminare, die Audre Lorde 1984 an der Freien Universität Berlin gab. Wie war das für Sie?
Wir waren drei Schwarze im Seminar – eine Afroamerikanerin, ein Afrikaner und ich. Sie versuchte immer, uns zu fördern und uns Raum zu geben. Ich war geschockt, so auf meine Meinung angesprochen zu werden. Diese Aufmerksamkeit war ein Signal an uns, aber auch an die Gesamtgruppe. So wollte sie Rassismus bewusst machen, weil Weiße sich bedroht gefühlt haben, wenn Schwarze überhaupt miteinander kommunizieren.

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Dann gaben Sie mit dem Buch Farbe bekennen den Startschuss für die afrodeutsche Bewegung. Wie kam es dazu?
Audre Lorde hatte das Angebot, ein Buch zu veröffentlichen, aber sie sagte: "Am liebsten nur mit den Afrodeutschen." Sie fragte May Ayim und mich, ob wir mitarbeiten wollten. Das war ein ziemlicher Schock für uns. Ich war etwa 24, May um die 22, und wir sollten für eine ganze Gruppe sprechen. Aber ich dachte dann, dass ich so auch politische Verantwortung übernehme – wenn ich diese Möglichkeit ausschlage, kann ich mich nicht beschweren, dass die anderen es nicht richtig machen. Audres Ansage war: "Stellt euch einander und der Welt vor." Das war ein Gänsehautmoment, weil das so eine große Aufgabe ist. Aber letztendlich ist es das, was Farbe bekennen gemacht hat – es hat als Werkzeug gedient, um Afrodeutsche in Kontakt zu bringen und Themen zu diskutieren.

Hatte Deutschland auf dieses Buch gewartet?
Deutschland nicht! [lacht] Aber die Afrodeutschen hatten eine kritische Masse erreicht, wir kamen langsam in das Alter, wo man seine Identität erforscht. Das Buch kostete fast 30 DM, die Leute haben es nicht gekauft. Deswegen haben May und ich Interviews gegeben und Lesungen gemacht, wir blieben erstaunlich lange die einzigen. Es ist nämlich schwierig, sich dabei nicht zu entblößen. Die Leute fragten immer: "Was haben Sie Schlimmes erlebt?" Das zu beantworten, ist eine Re-Traumatisierung. Ich hatte für mich dann klar definiert, was ich sagen wollte, und gelernt, Dinge zugespitzt zu sagen, um eine Wirkung zu erzeugen.

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Gab es Rückschläge oder Störer bei den Veranstaltungen?
Die Leute sagten über rassistische Fragen oft: "Ich hab das doch nicht so gemeint", oder "Ich bin einfach nur neugierig". Irgendwann hatte ich eine Liste mit 20 Fragen, die immer wieder kamen. Ich habe die mal vorgelesen und gesagt: "Wissen Sie, das sind gar nicht ihre eigenen Fragen, die Sie hier stellen. Sie sind selber manipuliert." Die Leute haben nicht mitbekommen, dass das ein System ist, in dem ich den anderen gar nicht individuell wahrnehme. Das verhindert, dass ich mich wirklich austausche und etwas von dem anderen mitbekomme. Das ist eigentlich der Hauptmechanismus beim Rassismus: Menschen werden voneinander getrennt gehalten. Diese Dinge haben wir im Laufe der Jahre bei Workshops zur Rassismus- Bewusstmachung gelernt. In den USA waren sie schon etwa zehn Jahre weiter. Dort hieß es zum Beispiel: Man muss nicht auf die Experten warten. Früher war das hierarchische Denken viel stärker – "Ich habe nicht die Berechtigung oder Bildung, das jetzt in Zweifel zu ziehen." Wir haben gelernt, uns selbst zu Expertinnen zu machen.

Eine Teilnehmerin des Cross-Cultural Black Women's Studies Summer Institute, 1991 | Foto mit freundlicher Genehmigung von Katharina Oguntoye

Welches Ziel verfolgen Sie mit ihrem interkulturellen Netzwerk Joliba?
Mir geht es darum, zu einer Gesellschaft mit weniger rassistischen Vorurteilen beizutragen. Die Lebenssituation von Schwarzen Menschen zu verändern, sodass sie sich entwickeln können und ein produktiver Teil der Gesellschaft werden. Alltagsrassismus kann dazu führen, dass man arbeitsunfähig wird. Da sind so viele Traumatisierungen, Problematiken.

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Was hat sich in den letzten Jahren auf diesem Gebiet getan?
Es hat in den letzten acht Jahren die Debatte um Racial Profiling gegeben, das N-Wort in Kinderbüchern wurde zum Thema, und schließlich Blackfacing. Das war für mich das Zeichen, dass die Rassismus-Debatte im Mainstream angekommen ist. Über Jahrzehnte hat man hier kein Blackface gesehen, plötzlich war es in jedem zweiten Theater – und es war ihnen nicht peinlich. Dass die Leute zu diesem extrem kruden Rassismus zurückgegangen sind, war unglaublich. Aber dann ist die Bühnenwatch-Bewegung entstanden, das waren Weiße und Schwarze Leute, die ganz toll damit umgegangen sind. Zum Beispiel haben sie sich verabredet, das Theater zu verlassen. Und wenn sie eine Störaktion gemacht haben, dann haben sie den Dialog gesucht.

Was würden sie jungen Menschen raten, die heute für ihre Rechte und für Demokratie kämpfen?
In unserer Community geht es immer darum, dass du dich um deine Geschichte kümmern musst. Weil dir deine Wurzeln verweigert werden. Es ist unglaublich inspirierend, wenn du erfährst, welchen Beitrag Schwarze Menschen in der Geschichte geleistet haben. Zum anderen musst du dich um die Kinder kümmern und das alles weiter wachsen lassen. Warum ist es so wichtig, dass wir unsere Geschichte kennen? Weil das Stärke gibt. Ein Baum mit zu kurzen Wurzeln wird schneller umgeworfen. Wenn du dir diese Wurzeln aneignen kannst, hast du Halt. Für mich war es ein unheimliches Glück, dass ich Audre Lorde als Mentorin hatte. Eine wunderschöne Sache. Jetzt ist es sehr ermutigend zu sehen, wie die nächste Generation Audre Lorde wieder rezipiert.

Was können Weiße Menschen tun, um die Barrieren abzubauen?
Bei der Rassismus-Bewusstmachung ist das Ergebnis immer, dass ich am Schluss verstehe: Ich muss das mein Leben lang verlernen. Wir lernen Rassismus jeden Tag wieder neu und müssen daran arbeiten, zu begreifen, was da vor sich geht. Weiße Leute sollten sich überlegen: Wenn ich nicht in der Lage bin, den anderen zu sehen, dann werde ich vielleicht meinen besten Freund nie kennenlernen.

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