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deflategate

Darum hat die NFL Tom Brady wirklich bestraft

Um von den echten Problemen in der NFL abzulenken, hat Commissioner Goodell ein bisschen Luftablassen zu einem echten Skandal aufgeblasen. Und in Tom Brady einen medienwirksamen Sündenbock gefunden.
Joe Camporeale-USA TODAY Sports

NFL-Commissioner Roger Goodell hat sein Urteil im Deflagate-Fall (zur Erinnerung: „Deflategate" bezeichnet einen Skandal in der NFL, bei dem die New England Patriots im Finale der AFC gegen die Indianapolis Colts mit Absicht die Luft aus den Bällen gelassen haben sollen, um der eigenen Mannschaft—allen voran ihrem Star-Quarterback Tom Brady—einen Vorteil zu verschaffen) gefällt und bestimmt, dass es doppelt so schlimm ist, ihm nicht sein Handy auszuhändigen, als eine Frau im Fahrstuhl eines Casinos bewusstlos zu schlagen. Klar, es ist vielleicht noch etwas schlimmer, als Football-Profi seine Alkoholsucht nicht behandeln zu lassen, Gras zu rauchen oder, Gott behüte!, das Ansehen der NFL dadurch zu beschädigen, dass man versucht, das Draft-Regelwerk auszutricksen. Solche Missetaten können dir eine deutlich längere Strafe einbringen, die im schlimmsten Fall sogar eine ganz Saison dauern kann, wenn dir vorher nicht die umtriebige Players Union aus der Patsche hilft. Dennoch: Frevler, denen vorgeworfen wird, bei Bällen die Luft herausgelassen zu haben, müssen unbedingt mit einer Sperre von vier Spielen belegt werden—übrigens genauso lang, wie Roethlisberger aussetzen musste, weil er eine junge Studentin vergewaltigt haben soll. (Ursprünglich sollten es sechs Spiele Sperre sein, aber wegen „guten Verhaltens" wurde diese dann auf vier reduziert. Sorry, wie geht nochmal das Kotz-Emoticon??) Gleichzeitig setzt dieser Vergleich voraus, dass das nebulöse Bestrafungssystem der NFL irgendeiner inhärenten Logik folgt—was sie natürlich nicht tut.

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Zurück zur Entscheidung, Brady für vier Spiele auf die Bank zu setzen. Nach einem Wochenende voll innerer Einkehr begab sich Goodell nach Boston, um Patriots-Besitzer Robert Kraft die Hiobsbotschaft zu überbringen, dass sein bester Mann den Saisonstart verpassen würde—bestimmt mit seinem besten Das-Ganze-tut-mir-mehr-leid-als-dir-Blick. Die Antwort der Patriots ließ nicht lange auf sich warten und war fast schon erwartungsgemäß überzogen. Das Wort „Verschwörung" machte rasch die Runde.

Trotzdem komisch, dass Goodell so hart gegen die Patriots vorgeht. Denn eigentlich müssten die—dank ihres telegenen (und weißen!) Quarterbacks, ihres bedeutungsarmen, dafür aber lautstark gebrüllten „Patriot Way!" und der Tatsache, dass Aaron Hernandez mal für eine Woche keinen Ärger mit der Justiz hatte—sein absolutes Lieblingsteam sein. Eigentlich müssten sie doch das Team sein, dem—wenn es nach Roger geht—die Kids in London und Toronto die Däumchen drücken.

Warum also der Schlag gegen die Patriots und ihren Star-Quarterback, den mal nicht mal wirklich des „Luftablassens" überführen konnte? Auch wenn Brady wirklich etwas mit der Sache zu tun hätte, ging es laut US-Kolumnist Drew Magary eh mehr darum, dass es Brady gewagt hat, Goodells Autorität in Frage zu stellen, indem er von vornherein alles abstritt und keine Reue zeigte (und, ja, eben auch nicht sein Handy bei Onkel Roger abgab).

Als sich Tom Brady und Roger Goodell noch lieb hatten. Joe Camporeale—USA TODAY Sports

Das KANN aber noch nicht alles sein. Es erklärt nämlich nicht die freudige Inbrunst, mit der Goodell der Causa Brady nachgegangen ist (und die mit mindestens derselben Leidenschaft von den dauersensationsgeilen US-Medien aufgegriffen wurde—ganz zur Freude vom NFL-Commissioner, versteht sich). Einem weiteren Erklärungsansatz zufolge ist Deflategate der „perfekte kleine Skandal", über den sich Goodell und die anderen NFL-Funktionäre noch lange auslassen können, ohne dass man wirklich anfangen muss, den Sport und seine Protagonisten infrage zu stellen. Denn die einzige Folge, die der Deflategate-Skandal für den amerikanischen Football haben wird, besteht darin, dass die Patriots, die eh schon einen gewissen Ruf weghaben, in den USA noch unbeliebter werden.

Der Skandal ist also darum so angenehm für die NFL, weil es im Grunde keiner ist, oder zumindest keiner, den man nicht leicht handeln könnte. Er kommt der NFL deswegen so zupass, weil er von so unglaublich harmloser Natur ist. Darum geht es in diesem Zusammenhang auch schon mal um die Frage, ob der unter Hauptverdacht stehende Balljunge wirklich das Pissoir oder nicht doch eher die Kabine benutzt hat. Er dient der NFL als Schutzschild, als Ablenkungsmanöver von all den anderen wirklich besorgniserregenden Schlagzeilen rund um seine gefeierten Stars.

Dem bereits angesprochenen Aaron Hernandez—ehemaliger Tight End bei den New England Patriots—wird dieses Mal zur Last gelegt, auf den Zeugen eines Mordprozesses geschossen zu haben. Doch in den US-Nachrichten war davon fast nichts zu lesen—die wohl beste (und einzige gute) Neuigkeit für die Patriots. Nur allzu gerne würde man von NFL-Seite versuchen, Hernandez als Einzelfall, als schwarzes Schaf darzustellen. Wäre da nicht die Tatsache, dass seit Anfang 2014 70 NFL-Spieler verhaftet worden sind.

Und jeder, der das widerliche Fahrstuhlvideo von Ray Rice gesehen hat, muss zugeben, dass der ganze Deflategate-Hype einfach nur lächerlich ist. Wenn man sich die erschreckend hohe Zahl an Fällen von häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen bei Footballprofis anschaut, fällt es einem schwer, nicht daran zu glauben, dass der Sport seine Protagonisten körperlich wie geistig verroht.

Geht es also nach den Interessen der NFL-Marketingmaschinerie, kann Deflategate gar nicht lange genug die US-Medienlandschaft dominieren. Denn lieber sorgt ein kleiner Skandal für große Schlagzeilen, als dass die echten Probleme—der große, weil strukturelle Skandal—zur Tagesordnung gemacht werden müssen.