Eine Illustration zeigt eine junge Frau, die deprimiert vor einem Laptop sitzt; jemand weiß nicht, ob man in pandemiebedingt unsicheren Zeiten den Job kündigen soll, eine Arbeitspsychologin gibt eine Einschätzung ab
Illustration: Djanlissa Pringels
Menschen

Frust versus Sicherheit: Soll ich meinen Job kündigen?

"Ich habe nur noch sehr wenig, auf das ich mich freuen kann. Und ich befürchte, dass 2022 einfach alles genauso beschissen läuft wie 2021."

"Frag VICE" ist eine Artikelreihe, bei der uns Leserinnen und Leser bitten, ihnen bei verschiedenen Problemen zu helfen – egal ob es sich um nicht erwiderte romantische Gefühle oder den Umgang mit nervigen Mitbewohnern handelt. Dieses Mal beschäftigen wir uns mit einem Fall, bei dem jemand darüber nachdenkt, den Job zu kündigen, gleichzeitig aber von der Ungewissheit überfordert ist, die ein solch einschneidender Schritt mit sich bringt.

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Hey VICE,

nach mehreren Jahren in der Kreativbranche habe ich es geschafft, eine unbefristete Stelle zu bekommen, was in diesem Bereich extrem selten ist. Ich wohne in einem wunderschönen Haus in Amsterdam und habe mir eigentlich ein tolles Leben aufgebaut. Aber dieses Jahr hat nicht so gut angefangen, wie ich es mir erhofft hatte.

Eigentlich bin ich vor zwölf Monaten positiv ins Jahr 2021 gestartet. Ich dachte mir: "Dieses Jahr kriegen wir alle unsere Corona-Impfung, die neuen 'Goldenen 20er' gehen los, der Sommer wird super. Vielleicht können wir sogar verreisen und dem Alltag entkommen."

Das waren alles Dinge, auf die ich hinarbeiten konnte. Aber dann wurde daraus quasi nichts. Dieses Gefühl von Hoffnung ist komplett verschwunden. Ich habe nur noch sehr wenig, auf das ich mich freuen kann. Und ich befürchte, dass 2022 einfach alles genauso beschissen läuft wie 2021.


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Was die Situation noch schwieriger macht: Mein Job macht mir kaum noch Spaß. Mein Chef hat mir gegenüber kein einziges Mal angedeutet, dass sich dieses Jahr etwas ändern wird. Diese Aussicht killt in mir jegliche Motivation und Inspiration. Auch einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben damit zu kämpfen, was sich nicht gerade gut auf die Arbeitsatmosphäre auswirkt. Ich schaffe es unter der Woche kaum durch den Tag und kann mich sonntags auch nicht entspannen, weil ich weiß, dass ich am nächsten Tag wieder zur Arbeit muss. Ich brauche eine Perspektive, etwas, auf das ich hinarbeiten kann. Gerade ist da leider nichts.

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Meine Freunde sagen, dass ich kündigen und mir etwas Neues suchen soll. So einfach ist das aber nicht. Ich will mein regelmäßiges Einkommen und meinen unbefristeten Arbeitsvertrag nicht einfach aufgeben, nur um in dieser ungewissen Zeit irgendwo eine temporäre Stelle anzunehmen oder gar länger arbeitslos zu sein. Das könnte ich mir überhaupt nicht leisten. Dann würde ich meine Wohnung verlieren. Ich habe außerdem keine Ahnung, wo und was ich – abgesehen von meinem derzeitigen Job – gerne arbeiten würde.

Kurz gesagt: Ich bin seit einiger Zeit total niedergeschlagen, und das wirkt sich sehr auf meinen Alltag aus. Jeder scheint irgendwelche guten, motivierenden Vorsätze für das neue Jahr zu haben. Mir kommt das total sinnlos vor, weil wir gerade eh nicht wissen, was uns das Leben bringen wird.

Ist es normal, dass ich mich so fühle? Soll ich wirklich kündigen, ohne groß über meine Zukunft nachzudenken? Oder sollte ich die Zähne zusammenbeißen und hoffen, dass sich irgendwann doch etwas ändert?

F.


Hi F.,

die Gefühle, die dich gerade beschäftigen, sind kompliziert, aber auch verständlich. Die Welt hat sich in den vergangenen beiden Jahren stark verändert. Das viel Unsicherheit und Angst mit sich gebracht. Es ist da nicht überraschend, dass du dich kaum auf 2022 freust.

Du siehst eine direkte Verbindung zwischen deinem Pessimismus und deiner derzeitigen Jobsituation. Auch andere Menschen haben genau damit zu kämpfen: 2021 haben zum Beispiel in den USA 45 Millionen Angestellte gekündigt – so viel wie nie zuvor.

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Leider gibt es auf deine Fragen keine eindeutige Antwort. Aber eine Expertin kann dir vielleicht eine neue Perspektive zeigen. Die Arbeits- und Organisationspsychologin Tosca Gort ist darauf spezialisiert zu analysieren, wie Menschen am Arbeitsplatz funktionieren. Gort arbeitet zudem als Karrierecoach und hilft, wenn man mit dem eigenen Job unzufrieden ist.

"Wenn man eine unschöne Phase durchmacht – zum Beispiel wegen eines Jobs, der keinen Spaß mehr macht, Frust im Liebesleben oder wegen des allgemeinen Pandemiezustands –, kann es zu depressiven Gefühlen kommen", sagt Gort. Das bedeute aber nicht zwangsläufig, dass man klinisch depressiv ist und Medikamente nehmen muss. Es helfe allerdings sehr, darüber nachzudenken, was genau die negativen Gefühle auslöst, damit man daran arbeiten kann.

"Menschen, die sich nicht gut fühlen, versuchen oft, die äußeren Umstände zu ändern, und hoffen, dass es ihnen dadurch bald besser geht. Manchmal klappt das, manchmal nicht", so Gort weiter. Die Arbeitspsychologin glaubt, dass es gut für dich, F., sein könnte, sich im Rahmen einer Therapie mit deinen negativen Gefühlen auseinanderzusetzen. Erst dann solltest du entscheiden, wie es für dich bei deinem Job weitergehen soll. "Dass du bei der Arbeit nicht mehr glücklich bist, könnte auch daran liegen, dass du dich in deinem Körper nicht wohl fühlst. Wir alle verbringen ja gerade mehr Zeit drinnen und haben weniger Gelegenheit für Bewegung und Sport", sagt Gort. 

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"Viele Leute, denen es nicht gut geht, erkennen gar nicht, dass sie eigentlich viel tun könnten, um ihre Situation zu verbessern."

Aber was macht man, wenn am Ende wirklich der Job das größte Problem ist? Bevor man einfach kündigt, sollte man sich laut Gort erstmal überlegen, welche Aspekte der Arbeit einem am meisten Freude bereiten und welche einen besonders unglücklich machen.

Wenn dir klarer geworden ist, was genau dir deinen Job vermiest, solltest du schauen, was man ändern könnte, damit dich deine Arbeit wieder mehr erfüllt. Gibt es bestimmte Dinge, auf die du dich mehr konzentrieren könntest? Könntest du dich vielleicht in einen Bereich bewegen, über den du schon immer mehr lernen wolltest? Wäre es möglich, jemanden anzustellen, der einige deiner Aufgaben übernimmt? Gibt es andere Wege, wie du weniger arbeiten musst?

"Viele Leute, denen es nicht gut geht, erkennen gar nicht, dass sie eigentlich viel tun könnten, um ihre Situation zu verbessern", sagt Gort. Dafür gibt es sogar einen psychologischen Ausdruck: erlernte Hilflosigkeit. "Man hat so viel um die Ohren – gerade jetzt inmitten einer Pandemie –, dass man einfach aufgibt, weil man nicht mehr die Kraft aufbringen kann, um gegen die Überforderung anzukämpfen", so die Arbeitspsychologin.

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Das führe dazu, dass man sich mit unangenehmen Situationen abfindet, nur weil man das Gefühl hat, dass man eh nichts daran ändern kann. "Mir ist oft aufgefallen, dass Leute, die zufrieden mit ihrem Job sind, Chancen besser erkennen und diese auch eher nutzen", sagt Gort.

"Leider suchen viele Menschen oft erst dann Unterstützung, wenn sie glauben, den kompletten Tiefpunkt erreicht zu haben."

Vielleicht entscheidest du trotzdem, dass es keinen anderen Weg gibt, als nach einem neuen Job zu suchen. Vielleicht ist die Arbeitsatmosphäre zu toxisch, vielleicht verstehst du dich mit deinen Vorgesetzten nicht oder vielleicht wiegen die negativen Aspekte deiner Arbeit einfach mehr als die positiven. Möglicherweise wird dir klar, dass das Leben in der Großstadt und ein Job mit viel Druck doch nichts für dich sind.

In deinem Fall, F., treffen solche Überlegungen wahrscheinlich nicht zu, weil du ja erwähnt hast, dass du dein Zuhause und deinen Lifestyle magst und nicht verlieren willst. Es wäre komplett verständlich, wenn du nach zwei Jahren voll pandemiebedingter Unsicherheit zu viel Angst davor hast, diese Sicherheit aufzugeben. Niemand weiß, wie genau die Welt in Zukunft aussehen wird und wie sich das auf deine Branche auswirkt.

Dennoch könne es laut Gort passieren, dass du dieses Risiko vielleicht eingehen musst, um Burnout oder langzeitige Depressionen zu vermeiden. "Viele Leute wollen unbedingt in der Kreativbranche arbeiten. Mit der Zeit merken sie dann aber, dass ihr Job auch in anderen Branchen existiert, in denen die Bedingungen vielleicht besser sind", sagt die Arbeitspsychologin. "Hab keine Angst davor, dich in eine ganz andere Richtung zu orientieren. Der Jobmarkt macht gerade große Veränderungen durch, Umschulungen werden bald Standard sein. In einigen Bereichen ist es auch möglich, zu arbeiten und gleichzeitig eine Fortbildung zu machen."

In Deutschland hast du übrigens in den allermeisten Bundesländern das Recht auf einen Bildungsurlaub. In Österreich gibt es die Bildungskarenz.

"So viele Menschen kommen mit diesen Gefühlen nicht klar. Das ist erstmal nicht schlimm. Leider suchen sie oft erst dann Unterstützung, wenn sie glauben, den kompletten Tiefpunkt erreicht zu haben", sagt Gort. Stattdessen solle man schon eine Therapeutin oder einen Karrierecoach kontaktieren, bevor die Dinge komplett außer Kontrolle geraten. "Natürlich muss man die Entscheidung, ob und wie man im Beruf weitermachen will, letztendlich selbst treffen. Es spricht aber nichts dagegen, auf dem Weg dahin um Hilfe zu bitten."

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