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Diego Simeone

Diego Simeone und seine 50.000 Freunde

Zwischen Diego Simeone und Atlético Madrid besteht weit mehr als nur ein reines Arbeitsverhältnis. Was damit gemeint ist, wird deutlich, wenn man ins Estadio Vicente Calderón kommt.
Photo by Kyle Terada-USA TODAY Sports

Die Verbindung zwischen Diego Simeone, dem Trainer von Atlético Madrid, und seinen Fans im Estadio Vicente Calderón ist bekanntlich innig. Als der argentinische Trainer nach einem Wortgefecht mit einem Schiedsrichter in der Partie zuvor ein Heimspiel seiner Rojiblancos von der Tribune aus verfolgen musste, hielten Fans am Südende des Stadions ein Banner hoch, auf dem Cholo, tú con nosotros, nosotros contigo („Cholo, du mit uns und wir mit dir") geschrieben stand.

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Es ist vielleicht nichts Neues, wenn Fans von erfolgreichen Trainern eine Bronzestatue gießen lassen. Doch das, was zwischen Atlético-Fans und Simeone vorgeht, geht noch weiter darüber hinaus. Die Verehrung, die ihm zuteil wird, lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass die Fans spüren: Der Mann versteht uns. Es ist fast so, als hätten die Fangesänge eines Tages menschliche Formen angenommen (samt nach hinten gegeltem Haar, versteht sich), die in einen pechschwarzen Anzug aus der Slim-Kollektion gepresst wurden.

Die angesehensten Coaches sind oft Persönlichkeiten, die eine gewisse Distanz ausstrahlen—idealisierte Vaterfiguren wie Alex Ferguson, zum Beispiel, oder nicht ganz unkomplizierte Genies wie Pep Guardiola. Aber nicht so Simeone. Er besitzt eine Art, die den Leuten um ihn herum, auch die auf den billigen Plätzen oder vor dem Fernseher, das Gefühl gibt, dazuzugehören. Zudem hat sein Auftreten etwas Warmherziges, was wohl für eine Person, die dafür bekannt ist, jederzeit (auch Leverkusen-Coach Roger Schmidt kann ein Lied davon singen) in die Luft gehen zu können, ein kleines Kunststück ist.

Als Simeone bei Atlético Madrid anheuerte, waren die meisten Experten der Meinung, dass das nur ein kurzes Gastspiel werden würde. Denn entweder würde er sich bei dem hitzigen Arbeiterverein die Finger verbrennen oder bei Erfolg zu einem größeren Verein weiterziehen. Mittlerweile ist Simeone schon seit drei Jahren im Amt und hat erst letzten Monat einen neuen Vertrag bis 2020 unterschrieben. Auch wenn über die genauen Vertragsdetails Stillschweigen vereinbart wurde, kann man davon ausgehen, dass er eine ordentliche Gehaltserhöhung und womöglich auch die totale Kontrolle über zukünftige Spielertransfers erhalten hat. Atlético gibt ihm schlicht und einfach alles, was sie haben. Denn obwohl der Verein nicht über die finanzielle Schlagkraft wie Manchester City oder Paris Saint-Germain—die beiden Klubs, die Berichten zufolge um Simeone gebuhlt haben sollen—verfügt, geben sie ihm ein Gefühl von Heimat. Fan-Liebe ist normalerweise nicht der Grund dafür, dass Trainer einem Verein die Treue halten, scheint aber für manche doch ein nicht unerhebliches Kriterium zu sein.

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Zudem ist zu erwähnen, dass man Simeones Rolle bei Atlético scherzhaft als „Jesus auf 'nem Schrottplatz" beschreiben kann. Denn selbst wenn der Hauptstadtklub nicht in Sünde geboren wurde, hat man doch in den letzten Jahrzehnten alles dafür getan, sein Kerbholz vollzukriegen. So wurde der Verein 1987 widerrechtlich von dem Filmproduzenten Enrique Cerezo und der skandalumwitterten Familie um Jesús Gil y Gil gekauft und sucht seitdem noch immer nach wirtschaftlicher Stabilität. Zudem haben Cerezo und die Gil-Familie im Laufe der Jahre Steuern in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro hinterzogen. Und zwischen der Vereinsübernahme bis Ende 2011 haben sie ingesamt sage und schreibe 48 Trainer verschlissen. Im Dezember 2011 haben sie dann Simeone, der mit Atlético als Spieler 1996 das Double gewinnen konnte, nach Madrid gelotst. Es war eine durchaus populistische Entscheidung. Denn der extrem beliebte „Cholo" sollte primär die Fans besänftigen, die seit der Verpflichtung seines von Anfang an wenig geschätzten Vorgängers Gregorio Manzano und aufgrund dessen bemerkenswerter Erfolglosigkeit in heller Aufruhr waren. Angesichts der unzähligen Trainerfehlgriffe in der jüngeren Vergangenheit gebührt der Geschäftsführung für die Verpflichtung von Simeone auch kein allzu großer Respekt. Sie haben eher aus der Verzweiflung heraus zum Hörer gegriffen und die Nummer einer echten Vereinslegende gewählt, die—wie sich spätestens bei Atlético zeigen sollte—ein hervorragender Trainer ist.

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Simeone bleibt auch deswegen bei Atlético, weil man mittlerweile das Umfeld des Vereins, vor allem für Atlético-Verhältnisse, als durchaus gefestigt bezeichnen kann—eine Stabilität, zu der er selbst sehr viel beigetragen hat. Denn Erfolg erzeugt im Fußball noch mehr Erfolg, was vor allem daran liegt, dass Erfolg Geld erzeugt. Als Simeone den Verein übernahm, stand man im Niemandsland der Tabelle. Trotzdem hat Simeone sein Team in der Rückrunde fast noch bis in die Champions League geführt. Im folgenden Jahr wurde man Dritter und gewann die Copa del Rey (gegen den verhassten Stadtrivalen). Und in der vorletzten Saison holte man sogar die spanische Meisterschaft und wäre um ein Haar Champions-League-Sieger geworden.

Es mag vielleicht komisch klingen, aber das Wichtigste, was Simeone seinem Verein gebracht hat, vor allem hinsichtlich seiner langfristigen finanziellen Solidität, ist Geld. Genauer gesagt Geld aus der Champions League. Denn das sorgt für die Art von Einkünften, die nötig sind, um Top-Spieler zu halten und neue zu verpflichten. Zwar verließen vor der laufenden Saison gleich drei wichtige Stammspieler den Verein, doch viele Beobachter hatten befürchtetet, dass der Exodus noch viel drastischer ausfallen würde. Simeone-Bewunderer würden womöglich argumentieren, dass die bloße Kraft seiner Persönlichkeit die Spieler an den Verein gebunden hat, doch die Wahrheit sieht wohl eher so aus, dass man schlicht und einfach die finanziellen Mittel besaß, den Spielern ein deutlich verbessertes Salär anzubieten.

Ein weiterer—und weitaus unromantischerer—Beweggrund, warum Simeone seinen Vertrag bei Atlético verlängert haben könnte, ist womöglich mit dem Namen Wang Jianlin verknüpft. Der chinesische Multimilliardär hat sich erst im Januar dieses Jahres für 45 Mio. Euro 20 Prozent Aktienanteile des spanischen Fußballclubs gesichert. Neben dieser Finanzspritze erwarten Atlético zudem große Einkünfte aus dem Verkauf von Merchandise-Artikeln, denn Jianlin will den Verein in seinem Heimatland zu einer großen und populären Marke machen. Wang behauptet, er habe aus Liebe zum Fußball in den Hauptstadtverein investiert. Fast gleichzeitig hat sein Unternehmen, die Dalian Wanda Group, aber für 265 Mio. Euro einen Wolkenkratzer in Madrid übernommen, weswegen sein Einstieg bei Atlético wohl nicht nur mit Fußball zu tun hat. Wang ist ein steinreicher Mann, der sein Vermögen in ganz unterschiedlichen Bereichen anlegt, doch seine Hauptexpertise liegt ohne Frage in der Grundstückserschließung. Spätestens 2017 wird Atlético in das noch fertigzustellende Estadio Olímpico de Madrid umsiedeln und es wäre keine allzu große Überraschung, wenn es Dalian Wanda auch darum gehen würde, sich das Vorkaufsrecht bei kommenden Bauprojekten in der Nähe der neuen Spielstätte zu sichern.

Natürlich kann man sich über dubiose Praktiken dieser Art und den starken Einfluss wirtschaftlicher Interessen aufregen, es ändert jedoch nichts daran, dass so der moderne Fußball aussieht. Kein Verein in der Primera División, vielleicht mit Ausnahme des SD Eibar ist wirklich „sauber". Machen wir uns nichts vor: Auch die Geschicke von Atlético Madrid werden von Steuerhinterziehern und einem ausländischen Superreichen mit undurchsichtigen Motiven gelenkt. Auf der Krumme-Dinger-im-spanischen-Fußball-Skala von 1 bis 10 reicht das locker für eine 7 oder 8. Zumindest zahlt man aber endlich die fälligen Steuern zurück.

An den Entwicklungen außerhalb des Platzes kann Simeone natürlich nichts ändern, zumal das auch gar nicht seine Aufgabe ist. Auf jeden Fall konnte er bisher unter Beweis stellen, dass er den Missständen und finanziellen Beschränkungen seines Vereins zu trotzen weiß. Zudem schafft er es offensichtlich, sich stets auf das Wesentliche zu konzentrieren. Ganz nach dem Motto: Mögen die Bosse meinen Verein Stück für Stück zu einer Weltmarke ausbauen wollen, das Wichtige ist nur, dass hier und jetzt genug Geld für gute Spieler da ist.

Genau dieses „Hier und Jetzt", das Planen von Partie zu Partie (oder partido a partido, wie er es nennt), ist in Spanien zu seinem Markenzeichen geworden. Natürlich verbirgt sich dahinter auch eine wohlfeile Fußballphrase. Doch wer auf der Trainerbank von Atlético Madrid sitzt, sollte sich wohl genau einer solchen Philosophie verschrieben haben. Natürlich braucht man im Trainerberuf auch Freunde. Bei jedem Heimspiel hat Simeone davon 50.000. 50.000 Fans, die seinen Namen singen und nur so darauf warten. dass er ihr frenetisches Klatschen mit Gegenapplaus honoriert. Und ihnen zeigt: ich mit euch und ihr mit mir.