​Girley Charlene Jazama als Herero im Film Der vermessene Mensch. Die Schauspielerin fordert die Rückgabe der Gebeine ihrer Vorfahren und einen Ausgleich mit den Nachkommen des Genozids in N
Girley Charlene Jazama in Der vermessene Mensch Copyright: Studiocanal GmbH / Willem Vrey
Popkultur

"Für mich war es schwierig zu akzeptieren, dass ich aus einer Vergewaltigung stamme."

Die Schauspielerin Girley Jazama über den Völkermord in Namibia, ihre Rolle im Film 'Der vermessene Mensch' und ihre grausame Familiengeschichte.

Den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts verübten Deutsche, um ihre koloniale Gier zu stillen. Im heutigen Namibia schlachteten sie etwa 70.000 Menschen ab, trieben sie in die Wüste und ließen sie verdursten. Die Überlebenden steckten sie in Konzentrationslager

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Die Namibierin und Herero Girley Charlene Jazama spielt im Film Der vermessene Mensch (Startdatum 23. März) Kezia Kambazembi, eine Herero, die in den Kolonialkrieg und Völkermord gerät. Es geht um rassistische Wissenschaft, Kolonialismus und eine Schuld, die für einen Menschen untragbar sein muss. 

Es ist das erste Mal, dass das Thema derartige Beachtung findet. Selbst in deutschen Schulbüchern ist der Völkermord nur eine Randnotiz. 

Von 1904 bis 1908 starben etwa 60.000 Menschen vom Volk der Herero und etwa 10.000 Namas. 1915 vertrieben englische Truppen von Süden, dem heutigen Südafrika kommend, die deutschen Kolonialtruppen. Nicht viel später dann erklärte Südafrika mit seinem rassistischen Apartheidsregime Namibia zur de facto Kolonie. 

Heute noch sprechen in Namibia viele Menschen Deutsch, Afrikaans und Englisch. Weiße kontrollieren die Wirtschaft. Im Stadtbild ist die koloniale Vergangenheit noch allgegenwärtig. Zahllose Häuser und Straßennamen wirken, als wäre man im Deutschland, bevor die Alliierten es zerbombten.

Wir haben mit Girley Charlene Jazama gesprochen, als sie während der Berlinale in Berlin war.

Girley Charlene Jazama bei der NRW-Premiere des Films Der vermessene Mensch im Cinenova. Köln, 15.03.2023 NRW Deutschland

Girley Charlene Jazama bei der NRW-Premiere von 'Der vermessene Mensch' in Köln | Foto: IMAGO / Panama Pictures

VICE: Wie ist es, wenn du seit einer Woche jeden Tag die ganze Zeit über einen Völkermord sprechen musst?
Girley Charlene Jazama:
Es ist wie an einer Wunde zu kratzen. Immer weiter, bis sie blutet. 

In Namibia gibt es jede Menge Rassismus gegen Schwarze, vor allem durch die deutschsprachige Community.
Ja, davon gibt es viel, in bestimmten Gegenden und bestimmten Gruppen im Land. Trotzdem ist das Land wunderschön. Ich würde nirgendwo anders leben wollen. 

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Trotzdem. Die deutschsprachige Community in Namibia, teilweise Nachfahren derjenigen, die vor 120 Jahren deine Vorfahren ermordet haben, bildet in gewisser Weise eine wirtschaftliche Upper Class. Die Leute leben in großen Häusern mit hohen Mauern drumherum. Wie lebt man damit?
Und ihnen gehören die ganzen Farmen, das ganze Land gehört ihnen.

Hast du deutschsprachige Freunde in Namibia?
Ja.

Und redet ihr über all diese Themen?
Natürlich, und das ist kein Problem. Aber meine Freunde sind auch aufgeklärt, Künstler und Kreative. Wir respektieren einander und können uns auch darauf einigen, dass wir nicht einer Meinung sind. Aber wir können über alles sprechen.

Du sprichst selbst ein bisschen Deutsch.
Ich war auf einer deutschen Privatschule. Ich habe die Sprache bis zur siebten Klasse gelernt. Man lernt dort Englisch, Afrikaans, Deutsch und, wenn man will, Französisch. Ich habe aber mit Afrikaans weitergemacht – wer will Essays auf Deutsch schreiben?

Mir fällt niemand ein.
Durch das Deutsch konnte ich mich aber besser mit meiner Großmutter verständigen, die sonst nur Otjiherero sprach. Das habe ich dann erst später angefangen zu lernen.

Warum?
Weil es meine Sprache ist. Mit meiner Oma habe ich dann eine Mischung aus Otjiherero und Deutsch gesprochen. Mal ein deutscher Satz mit Otjiherero-Wörtern und mal andersrum. Zählen konnte ich etwa nur auf Deutsch. Sie korrigierte dann mein Deutsch, sie sprach es ja flüssig.

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Wie kommt's?
Sie hat auf einer deutschen Farm gearbeitet. Ihre Mutter hatte sie dort bereits großgezogen. Die Besitzer hießen Caspari. Und meine Urgroßmutter sah noch ziemlich deutsch aus.

Warum?
Nun ja. Meine Urgroßmutter wurde im Konzentrationslager gezeugt. Ihre Mutter war Tea Lady des Kommandanten. Sie war vergewaltigt worden und musste fliehen, weil die Deutschen ihre Tochter sonst ermordet hätten.

Das heißt, deine eigene Familiengeschichte ist eng mit dem Genozid verknüpft.
Deshalb war es mir auch so wichtig, in dem Film mitzuspielen. Ich habe dadurch selbst erst mal meine Geschichte aufarbeiten müssen. Uns Hereros ist Familie und die Geschichte ja unheimlich wichtig.

Inwiefern?
Zum Beispiel geben wir uns Namen, die eine Bedeutung tragen. Auf Englisch heiße ich Girley, das heißt erst mal nichts. Aber auf Otjiherero heiße ich Kaujanda. 

Was heißt das?
"Diese Familie wird nie aussterben. Sie wird nicht verschwinden". Meine Großmutter war nämlich Einzelkind. Sie hat deswegen all ihren Enkeln Namen gegeben, die gemeinsam einen Satz bilden, der in etwa heißt "Mein Vater hatte Recht, als er sagte, dass diese Familie niemals verschwinden wird". Wir schreiben unsere Geschichte nicht unbedingt, sondern erzählen sie mündlich weiter, Generation zu Generation. Unsere Vorfahren sind immer bei uns, auch wenn ich sie nicht einfach so besuchen darf.

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Warum?
Ihre Gräber liegen auf der Farm. Wir müssen um Erlaubnis fragen, um unsere Verwandten zu besuchen. Es ist eine Schande und wahnsinnig traurig.

Im Rahmen des Völkermords hat die deutsche Besatzungsmacht auch Herero-Farmer enteignet, ihren Besitz zu ihrem Eigentum erklärt und dort selbst Deutsche angesiedelt.
Und klar, das ist traurig. Die Farmen tragen teilweise noch Herero-Namen, Nama-Namen, Damara-Namen. Wir wurden mit Gewalt vertrieben und ermordet. Sie haben uns das Vieh gestohlen und die Grundstücke. Wir sind Vertriebene im eigenen Land. Heute leben wir übereinandergestapelt wie Sardinen.

An den Rändern der Städte stehen Townships, in denen es teilweise kein fließendes Wasser gibt.
Es ist das einzige, was uns bleibt. Wir müssen unsere kleinen Wellblechhütten am Stadtrand aufziehen, weil wir kein Land besitzen. Und selbst da kommt oft noch die Stadt und vertreibt uns erneut, weil wir uns da illegal ansiedelten. Also wenn deine Frage ist, was ich fühle, wenn ich darüber nachdenke, dann hoffe ich, dass du jetzt einen Eindruck bekommen hast.

Du bist wütend.
Ich sage nicht, dass wir machen sollten, was Robert Mugabe in Namibias Nachbarland Simbabwe getan hat. 

Er hat die weißen Siedler brutal vertrieben.
Ich will keine Gewalt. Ich denke nur, dass die Stimmen der Nachfahren der Ermordeten und Enteigneten gehört werden sollten.

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Und jetzt diese Rolle.
Eine große Verantwortung. Ich glaube manchmal, dass nicht ich sie ausgewählt habe, sondern sie mich. 

Die Bundesregierung hat mit der namibischen Regierung Reparationszahlungen vereinbart. Die Vertreter der betroffenen Volksgruppen wurden nur minimal angehört und sind jetzt sauer.
Und das verstehe ich. Sie wissen, wie viel sie verloren haben. Sie haben das aufgelistet.

Was sollte man jetzt tun?
Im Film Der vermessene Mensch kommt eine Delegation von Hereros und Namas nach Deutschland, um mit dem Kaiser über die Bedingungen in der Kolonie zu verhandeln. Aber sie wollen nicht nur ausgefragt und studiert werden, sie wollen ein Gespräch. 

Was willst du damit sagen?
Das wäre doch jetzt auch die Chance, genau so ein Gespräch zu beginnen. Warum soll das nicht gehen, die deutsche Regierung, die namibische Regierung und die Betroffenen an einen Tisch zu bringen?

Was sollte dabei herauskommen?
Wir leben im Jahr 2023. Wir haben die Chance auf einen historischen Kompromiss. Wir sind doch wohl in der Lage, es diesmal besser zu machen als unsere Vorfahren. Dafür müssen wir einander ja nur zuhören und verstehen. Und das gilt für uns alle, auch für mich, damit ich meiner Familie, meinen Nichten und Neffen eine bessere Welt hinterlasse.

Wenn die deutsche Regierung nun ein faires Abkommen schließen würde. Was sollte mit dem Geld geschehen?
Namibia ist ein traumatisiertes Land. Die deutsche Besatzung, der Genozid, die südafrikanische Besatzung, die Apartheid. Wir spüren das nicht aktiv, aber wenn man sich die Gesellschaft anschaut, die Gewalt gegen Frauen, dann spürt man, dass hier Traumata seit über hundert Jahren immer weiter vererbt werden.

Was könnte man tun?
Therapie. Wir müssen das aufarbeiten. Für mich selbst war es schwierig zu akzeptieren, dass ich aus einer Vergewaltigung stamme. Das musste ich verarbeiten, betrauern. Weil ich nicht verstehe, dass ein Mensch einem anderen Menschen so etwas antun kann.

Ja.
Was wollten sie denn beweisen? Ihre Rassentheorie? Dass sie Schwarzen überlegen sind? Haben sie das geschafft? Nein.

Nein.
Jetzt behalten sie auch noch die Schädel unserer Vorfahren, ihre Artefakte. Stellen sie aus. Als wollten sie die Taten ihrer Vorfahren glorifizieren. Sie sagen jetzt, sie könnten sie uns ausleihen. Das ist Arroganz! Ich weiß nicht, wer verantwortlich ist, die Regierung, das Humboldt Forum, ich weiß es nicht. Gebt die Sachen einfach zurück!

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