Menschen

Dank Lockdown freue ich mich über jeden flüchtigen Moment mit Menschen

Vielleicht stehen wir uns alle etwas näher, weil wir jetzt mehr gemeinsam haben, als vor einem Jahr. Nämlich eine globale Pandemie.
Zwei Männer spielen Tischtennis, eine Bäckerin trägt Brot, ein Mann geht über den Platz, das sind alles Menschen, die mir in meinem Coronalltag begegnen undü
Symbolbild bestehend aus: Hintergrund und laufender Mann: IMAGO / Runway Manhattan | Bäckerin: IMAGO / imagebroker | Tischtennisspieler: IMAGO / United Archives | Zerknüllter Papier: IMAGO / Shotshop |
In dieser Serie berichten wir über das Lockdown-Leben: Über Stimmungen und Hoffnungen und über alles, was wir vermissen.

Ich wohne im Erdgeschoss und meistens ist das schrecklich, außer wenn ich telefonierend am Fenster stehe und Leute nicht anders können, als neugierig bei mir ins Zimmer zu schauen. Wenn sich unsere Blicke treffen, sind sie peinlich berührt. Und dann lachen wir. In meinem Corona-Alltag hangle ich mich an diesen Interaktionen entlang. Weil wir so viel soziale Interaktion einbüßen müssen, scheinen alle Begegnungen in dieser Zeit viel wichtiger.

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Plötzlich fühlt es sich beim Bäcker so an, als wäre die Verkäuferin eine Person, die nicht nur eine Minute meines Morgens einnimmt. Wir sagen einander, dass wir uns vermissen, wenn sie ab nächstem Monat nicht mehr hier arbeitet.


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Auf dem Platz vor meinem Haus gibt es zwei Tischtennisplatten. Fast jeden Tag sitze ich auf der runden Bank in der Mitte des Platzes und schaue den Männern beim Spielen zu. Sie spielen im Doppel. Selten spielt auch mal eine Frau mit. Sie hat dieselbe Frisur wie ich. Mein Zuschauen ist kein Mitfiebern. Ich beobachte den Platz, als wäre ich eine Königin, die von ihrem Palast auf ihr Reich blickt. Das hier ist alles, was noch übrig geblieben ist von der Normalität. 22 Jahre lang habe ich Dinge erlebt, damit ich sie dann auf einer siffigen WG-Couch einem Paul, Holzfällerhemd auf Lehramt, erzählen kann, um ihm zu erklären, warum ich die coolste Person in diesem Raum bin. Und jetzt gibt es Corona und keine WG-Partys. Ich sitze auf dem Platz vor meinem Haus frage mich, was ich anfangen soll mit so viel Leben, wenn jetzt für immer Pandemie ist. Manchmal komme ich mir dann fast etwas lächerlich vor, dass ich mich so sehr ins Zeug gelegt habe, wenn ich mich doch einfach nur 22 Jahre lang irgendwo hätte hinsetzen und Leuten beim Tischtennis spielen zusehen können.

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Wenn ich mich auf den Platz setze, nehme ich manchmal ein Buch mit. Das ist dann irgendeins, denn ich nehme mir immer nur vor zu lesen, aber tue es nie. Vor dem Späti in der Nähe des Platzes, verkauft ein Mann manchmal Bücher. Der wohnt im Haus neben mir und wenn wir uns begegnen, reden wir meistens nicht. Heute geht er an mir vorbei und fragt, was das für ein Buch sei, das ich mit mir herumtrage. Ich sage irgendetwas über das Buch, was wahrscheinlich nicht stimmt. Ich habe es ja nicht gelesen. Das mache ich, weil ich reden will oder um höflich zu sein.

Ein Typ kauft sich nachmittags zwei Sternis im Späti. Ich bin neidisch auf seine Gangart. Seine Schritte sind weder zu klein noch zu groß. Oft denke ich, dass er meiner Mitbewohnerin und mir zuhört, wenn wir uns ein Leben für den Mann mit Cordhose ausdenken, den wir hier jeden Tag sehen. Ich glaube er hörte uns, als wir über das Pärchen mit Kinderwagen sprachen, dass sich im Café etwas zu trinken holte. Beide sehen immer unglücklich aus und tragen stylisch minimalistische Outfits in Pastelltönen und wir glauben, dass sie vor Jahren in beidseitigem Einverständnis entschieden haben, die Lust an allem zu verlieren. Sie sehen langweilig aus. Ich frage mich, ob ich auch so langweilig aussehe, jetzt wo ich während der Pandemie die ganze Zeit schlecht gelaunt bin. Ich will wissen, was der Typ mit den Sternis über mich denkt.

Vielleicht überbrücke ich den Mangel an sozialen Kontakten während Corona, indem ich jede noch so kleine Interaktion in meinem Kopf ins Unermessliche aufblase. Aber vielleicht bilde ich mir das alles gar nicht ein. Vielleicht stehen wir uns alle etwas näher, weil wir jetzt mehr gemeinsam haben, als vor einem Jahr. Nämlich eine globale Pandemie, ein kollektiver Lockdown. Wir alle haben nichts besseres zu tun, als hier auf dem Platz zu sitzen, denn wir haben nirgendwo zu sein.

Vor Corona waren unsere Leben riesig und wichtig. Jetzt ist Leben zu Warten geworden. Freunde, Vorfreude, Unbesorgt sein, grundlos schlechte Laune haben bestimmten früher mal meinen Alltag. Heute halten der Typ, der sich Sternis kauft, oder die Männer, die Tischtennis spielen, oder das Pastell-Pärchen mein Leben zusammen. Vielleicht halte ich für sie auch etwas zusammen, wenn ich nachmittags mit der Sonne auf der Bank den Platz wechsle.

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