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Wie André-Pierre Gignac zur Legende in Mexiko wurde

Als Gignac mit 29 zu den Tigres wechselte, wurde ihm Geldgier und Faulheit unterstellt. Dabei hat er sich schon in das Land verliebt, bevor er in Mexiko unterschrieb. Und „El Bombon" denkt nicht daran, zurückzukehren.
Russell Isabella-USA TODAY Sports

Seit der ersten EM im Jahr 1960 wurde noch nie ein Endspiel durch das Tor eines Spielers entschieden, der sein Geld bei einem Verein außerhalb Europas verdient hat. Denn europäische Spieler, die noch bei großen Turnieren um Titel mitspielen können, sind in der Regel noch zu jung dafür, ihre besten Jahre außerhalb der Bundesliga, Premier League und Co. zu vergeuden. Mit Ausnahme von André-Pierre Gignac.

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Nachdem er schon mit Tigres UANL die Meisterschaft gewonnen hatte, war der Stürmer aus Frankreich im letzten Sommer drauf und dran, Geschichte zu schreiben. Doch sein Schuss im Finale gegen Portugal ging nur gegen den Pfosten. Gignac stand da gerade mal 12 Minuten auf dem Feld. Wäre der Ball im Tor gelandet, er wäre zu Frankreichs unerwartetem Helden mutiert.

„Er hätte die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf uns gezogen", glaubt Samuel Reyes, Anführer der Tigres-Ultras Libres y Lokos. Doch auch so waren sie auf ihren André stolz. Gignacs Euro-Präsenz hat aus Sicht der Ultras den Verein international bekannt gemacht.

Unbeirrt von seinem Fehlschuss kehrte er nach dem Turnier in die Wüstenstadt Monterrey zurück, wo er durch den erneuten Gewinn der Meisterschaft über Weihnachten fleißig an seinem Legendenstatus weitermeißelte. Gignac ist der wohl unwahrscheinlichste Superstar in der langen Geschichte des mexikanischen Fußballs.

Dabei war die drittgrößte Stadt Mexikos bei Weitem nicht Gignacs einzige Option, als im Sommer 2015 sein Vertrag bei Olympique Marseille auslief. Viele Vereine waren an dem bulligen Stürmer interessiert, der in der französischen Liga 21 Tore – und damit zwei mehr als Zlatan Ibrahimovic – geschossen hatte.

Doch entgegen aller Erwartungen ging Gignac zu Tigres, die sich endlich einen langgehegten Wunsch erfüllen wollten: als erster mexikanischer Klub den wichtigsten Klubwettbewerb Lateinamerikas, die Copa Libertadores, zu gewinnen.

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„Ich bin hergekommen, um die Liga und die Libertadores zu gewinnen", meinte Gignac bei seiner Ankunft vor anderthalb Jahren. Gleich bei seinem Debüt beim Halbfinal-Sieg über den brasilianischen Vertreter Internacional gelang dem Franzosen ein Treffer. Am Ende verlor Tigres zwar das Endspiel gegen River Plate aus Argentinien, doch sein Versprechen von nationalen Titeln sollte er dennoch halten. In den Clausura-Endspielen 2015 und 2016 schoss Gignac gegen Pumas bzw. América wichtige Treffer für seine Mannschaft.

Wer denkt, dass Gignac nur des Geldes wegen nach Mexiko gewechselt ist, liegt übrigens falsch. Laut einem Bericht von Football Leaks soll Gignac nach Steuer rund eine Million Dollar verdienen – auch wenn sein Verein gegenüber VICE Sports betont hat, dass die Endsumme nach Boni und Co. eine andere sein soll. Lokale Medien berichteten darüber, dass er bis zu vier Millionen Dollar pro Jahr verdienen soll. Kein Fußballer in Mexiko würde mehr verdienen. Doch fest steht: In Europa hätte er locker noch mehr Geld rausschlagen können.

Gignacs Wechsel wurde anfänglich in seiner Heimat belächelt. „Die Leute konnten es zuerst nicht verstehen", erzählt mir Thomas Goubin, ein französischer Journalist, der über den mexikanischen Fußball berichtet. „Hierzulande wusste man nichts über Tigres oder die mexikanische Liga. Viele dachten, dass er da drüben möglichst viel Geld für möglichst wenig Aufwand verdienen wollte."

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Auch wenn er manchmal etwas träge wirkt – wie jemand, der sich ein paar Tacos zu viel gegönnt hat (gegnerische Fans in Frankreich veralberten ihn für seinen Bauchansatz gern mit dem Song „Un Big Mac pour Gignac") –, war Gignac gerade mal 29, als er in Mexiko aufschlug. Und damit viel jünger als die meisten Stars, die ihre Karriere nördlich der US-mexikanischen Grenze ausklingen lassen. Und Gignac hatte von seinem Ballgefühl, seiner Stärke in der Luft und seinem Torriecher noch lange nichts verloren. Ganz im Gegenteil: Mit seinen 44 Toren in den ersten 18 Monaten, darunter zahlreiche akrobatische Volleys und gewagte Fernschüsse, brachte er seine Zweifler ganz schnell zum Verstummen.

Wahrscheinlich wechselte er auch deswegen, weil er selber schon Fan des Landes war, bevor er gelandet ist. „Ich kenne Mexiko bereits. Die Strände von Cancun sind wunderschön." Deswegen verlief der sportliche Übergang wohl auch so nahtlos.

Gignac, den viele in Monterrey wegen seines guten Aussehens „El Bombón" nennen, sorgt mittlerweile für den lautesten Jubel, wenn die Tigres-Spieler vom Stadionsprecher vorgestellt werden. Und die Trikotverkäufer vor dem Estadio Universitario sind sich einig, dass kein Trikot so oft verkauft wird wie das von Gignac.

„Sowohl für Tigres als auch den mexikanischen Fußball ist es sehr wichtig, dass ein Spieler von Andrés Klasse nach Lateinamerika gewechselt ist, obwohl er noch immer in Europa spielen könnte", sagt Gignacs Mannschaftskamerad Guido Pizarro gegenüber VICE Sports. „Was mich am meisten beeindruckt hat, als er hier ankam, war seine Bescheidenheit. Er kam aus einer großen Liga, aber hat sich von Anfang an bereit gezeigt, alles für das Team zu geben und sich bestmöglich anzupassen."

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Der Umzug von Europa nach Mexiko hätte für so manchen einen ziemlichen Kulturschock bedeutet, nicht aber für Gignac, wie uns Pizzarro erzählt: „Er hat sich an das Leben in Mexiko gut angepasst. Wir kommen oft mit unseren Familien zusammen. Wir verstehen uns nicht nur auf, sondern auch neben dem Platz. Er wirkt immer sehr glücklich und genießt es hier zu sein. Wir nennen ihn medio loco, weil er ständig Witze erzählt oder die anderen Jungs im Scherz schlägt!"

In den sozialen Medien kann man auch Gignacs so richtig wilde Seite bewundern. Kurz vor dem letzten Meisterschaftsfinale hat er auf seinem Instagram-Account mit Pistolen und Gewehren auf einer Schießanlage um die Wette geballert. Ein paar Tage später wurde er in einem Club in Cancun beim Feiern mit einem Monterrey-Fan gefilmt, der so sehr von Gignac beeindruckt war, dass er im Suff verkündete, zu Tigres überlaufen zu wollen. In einem anderen Video sieht man Gignac und einen seiner Brüder nachts vom Dach seines Hauses in den Swimmingpool springen.

Darum sollte auch nicht wirklich überraschen, dass Gignac zu den 3.000 Mann starken Libres y Lokos einen guten Draht aufgebaut hat.

„Noch nie zuvor war ich vor der Ankunft eines Spielers so begeistert und aufgeregt. Ich erinnere mich noch an den Tag, als er in Mexiko landete, Tausende Menschen waren gekommen", erzählt mir Reyes. „Er war von Anfang an freundlich und offen zu uns, als sei er selbst Fan der Mannschaft. Einmal hat er sogar bei einem Fußballspiel von uns mitgewirkt. So etwas erlebt man nicht oft, vor allem nicht bei einem internationalen Star."

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Und anstatt das Spiel auf die leichte Schulter zu nehmen und aus Angst vor Verletzungen Zweikämpfen aus dem Weg zu gehen, hat sich Gignac richtig reingekniet. „Das Spiel wurde hitzig", erinnert sich Reyes. „Ich war in seiner Mannschaft und wir waren drauf und dran zu verlieren, was ihm überhaupt nicht geschmeckt hat. Er schrie und schimpfte wie ein Rohrspatz. Mit Erfolg: Am Ende haben wir das Spiel noch gewonnen."

Genauso entschlossen tritt Gignac auch im Tigres-Dress auf: „Er gibt immer alles und schießt wichtige Tore. Für mich ist er schon jetzt der wichtigste Spieler in der Geschichte des Vereins, weil er immer da ist, wenn wir ihn brauchen", so Reyes weiter. „Die Leute haben noch gar nicht wirklich gerafft, was wir da für einen Spieler in unseren Reihen haben. Doch spätestens, wenn er nicht mehr da ist, werden sie ihn richtig schätzen."

Der 31-Jährige hat noch immer 18 Monate Vertrag, die er aller Voraussicht nach auch erfüllen wird, auch wenn immer wieder mal das Gerücht eines lukrativen Wechsels nach China die Runde macht. Er ist eindeutig großer Fan von Mexiko und hat erst kürzlich mit Stolz verkündet, dass sein jüngster Sohn in Mexiko geboren wurde. „Ich hoffe, dass er im nächsten Jahr eingebürgert wird. Es wäre eine Ehre für mich, weil ich mich in Mexiko heimisch fühle. Mir und meiner Familie geht es hier sehr gut", meinte Gignac im vergangenen Mai. „Ich hoffe, noch einige Jahre in Monterrey und Mexiko bleiben zu können. Ich bin glücklich, dass ich mein Heimatland gebührend in Mexiko vertreten kann und dass ich in Frankreich gleichzeitig Mexiko gebührend vertreten kann."

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Foto: Imago

Dass ihm Tigres buchstäblich unter die Haut geht, bewies er im Januar, als er sich von einem lokalen Tattoo-Artist, Cesar Ritual, sein allererstes Tattoo stechen ließ: Abdrücke einer Tiger-Pranke und die Zahl 10, seine Trikotnummer. In der Zwischenzeit hat Ritual auch Gignacs Vater und einen seiner Brüder tätowiert und ist zu einem Freund der Familie geworden, der in Gignacs Villa ein und aus geht.

„Bei ihm zu Hause herrscht neben einer familiären Atmosphäre auch immer ein reges Treiben. Er hat einen Pool und so viele Räume, dass bei ihm jederzeit Freunde übernachten können", erzählt Ritual. Und weiter: „Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern zusammen, doch auch seine Brüder und Eltern sind regelmäßig zu Besuch. Ebenso irgendwelche Cousins und Freunde, er ist ständig von Leuten aus Frankreich umgeben."

Sein gutes Verhältnis zu seiner Familie bedeutet aber nicht, dass Gignac großes Heimweh plagen würde. „Schon in unseren ersten Gesprächen verriet er mir, dass er Mexiko lieben würde", so Ritual weiter. „Er meinte, dass die Leute in Frankreich kühler und launischer seien und dass es dort ständig bewölkt sei. Er liebt hier die Hitze und die Wärme der mexikanischen Leute."

Diese Wärme würde Gignac auch erwidern, meint Ritual. Beispielsweise als Ritual ihn um ein Foto für seinen im Rollstuhl gefesselten Vater bat und der Franzose sofort einwilligte. „Das hat meinen Vater so glücklich gemacht, weil er ein großer Tigres-Fan ist", erzählt mir der Tätowierer mit einem breiten Grinsen.

Als ich von ihm wissen will, welchen Einfluss Gignac auf Mexiko ausübt, meint Ritual: „Ich denke, er wirkt positiv auf Verein, Stadt und Land. Die Fans lieben ihn. Was er hier erreicht hat, kann ihm keiner mehr nehmen. Selbst wenn er morgen den Verein verlassen würde, würde man ihn hier als Legende in Erinnerung behalten."

Doch nicht nur in Mexiko hat Gignac die Menschen auf seine Seite gezogen, auch in seiner Heimat konnte er so einige Kritiker eines Besseren belehren.

Die meisten waren sich sicher, dass er durch den Wechsel nach Mexiko keine Zukunft mehr in der französischen Nationalmannschaft haben werde. Doch das Gegenteil war der Fall. Allein im letzten Jahr kam Gignac auf 13 Einsätze bei Les Bleus – genauso viele wie in den letzten sechs Jahren zusammen. Die französischen Medien begannen schon bald nach seinem Wechsel, über den Mexiko-Abenteurer nach jedem seiner Tore zu berichten. Und Gignacs Karriereschritt schien sogar Schule zu machen. Denn mit Andy Delort hat im letzten Sommer ein weiterer Franzose bei den Tigres unterschrieben (auch wenn dieser im Januar zurück nach Frankreich gewechselt ist).

„Die Wahrnehmung hat sich in Frankreich verändert. Manche Fans sagen mittlerweile, dass sein Wechsel eine super Sache war, weil er eine neue und intensive Erfahrung machen konnte", erklärt mir Goubin, der französische Journalist. „Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass der Wechsel gut für seinen Ruf war, weil er jetzt als Kämpfer und Person, der wirklich der Fußball am Herzen liegt, angesehen wird."

Er war zwar nicht der Spieler, der für Frankreich die EM holen konnte. Aber Gignac hat sich in seiner Heimat eine Menge Respekt verdient. Und ebenso in einer Ecke von Mexiko, wo man ihn niemals vergessen wird.