Warum bloß... Bayer Leverkusen?
Alle Fotos: Benedikt Niessen

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wer ist eigentlich fan von?

Warum bloß... Bayer Leverkusen?

„Pillendreher" schimpfen sie ihre Neider, die „Werkself" nennen sie sich selbst. Bayer Leverkusen ist erfolgreich und ungefährlich. So wie seine Fans?

So manch ein Schandmaul sagt, dass das Schönste an Leverkusen seine direkte Grenze zu Köln sei. Das stimmt aber nicht ganz: Der international bekannte Lichtblick der Stadt ist Bayer 04 Leverkusen, die hundertprozentige Tochter-GmbH der Bayer AG und Fußballbundesligist seit 1979. Während von Fußballromantikern verhassten Klubs wie dem VfL Wolfsburg oder der TSG Hoffenheim sowohl der Ruf des Plastikvereins als auch der einer grauen Maus vorauseilen, sind die Leverkusener eher als alteingesessene und familiäre Werkself mit ein wenig undefinierbarem Charme wegen ihres attraktiven Fußballs bekannt.

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Nach dem Uefa-Cup- und DFB-Pokal-Sieg entwickelte sich Bayer 04 zur deutschen Spitzenmannschaft und einem der besten Ausbildungsvereine der ganzen Liga. In ihrer zweiten goldenen Ära mit den wohl scharfsinnigsten Südamerika-Scouts in ganz Deutschland etablierten sie sich im Jahr 2002 mit drei Vize-Titeln und dem fulminanten Erreichen des Champions-League-Finales zu Vizekusen und einem anerkannten internationalen deutschen Spitzenteam. Aber wer sind diese Fans, die nicht zum stimmungsvollen 1.FC Köln gehen wollen, sich jedes Jahr in der Champions League deprimierende Torfestivals von irgendwelchen Topklubs gegen ihre Werkself anschauen müssen und nach dem so spektakulären wie naiven Offensiv-Fußballfest der Bayer-Kicker lechzen? Wir haben sie vor dem Bundesliga-Spiel gegen Hertha BSC Berlin gefragt:

Justin und Michael

VICE Sports: Ihr kommt aus Schleswig-Holstein, warum bloß Bayer Leverkusen?
Michael: Das Konzept, das sich Leverkusen vorstellt, spricht mich einfach an. Junge Leute werden in die Mannschaft geholt und kriegen die Chance, attraktiven und schnellen Offensiv-Fußball zu spielen und nicht nur auf der Bank zu versauern. Dazu bekenne ich mich gerne.

Ist es das, was die graue Maus Bayer Leverkusen überhaupt ausmacht, dieses Junge und offensiv Attraktive?
Ich bin selber seit 19 Jahren Fußballtrainer und finde es immer toll, junge Leute heranzuführen, selbst wenn sie es nicht schaffen. Aber bei Bayer gibt es die Chance.

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Mal von einem Trainer über den anderen, Butter bei die Fische: Passt Roger Schmidt überhaupt zu dieser Identität?
Ich bin kein großer Fan von ihm. Er hat komische Taktiken. Er rotiert zu viel mit den Systemen. Das kommt Spielern auf der Bank entgegen, aber die Routine fehlt.

Welcher Spieler überzeugt euch am meisten?
Michael: Damals Sidney Sam. Den hab ich selber mal trainiert und er hat die Verbindung zu Leverkusen überhaupt erst so intensiv gemacht. Heute Jonathan Tah. Der ist eine Bombe. Mit 19 Jahren schon so konstant und schnell zu sein, unglaublich.
Justin: Ich mag Bellarabi sehr. Aber ich finde, Hakan Calhanoglu überzeugt nicht. Er ist nur ein Standardspieler und ist für unser Spiel zu lauffaul.

Erwin und Manfred

*VICE Sports: Manfred, du kölscht hier aber gut rum. Wieso bist du kein Fan des 1. FC Köln?*
Manfred: Ich war früher FC-Fan. Ich hab nach Leverkusen geheiratet.

Nicht dein Ernst. Darf man das überhaupt?
Es war Ende der 90er einfach das nächstgelegene Bundesligastadion. Bayer hat damals einfach höher gespielt als der FC. Der war ja eine Fahrstuhlmannschaft.

Wer ist eigentlich 1. FC-Köln-Fan?

Wenn man also in Leverkusen lebt, entscheidet man sich automatisch auch für Bayer 04?
Manfred: Nein, es gibt viele Leverkusener, die Fans vom FC Köln sind. Das erkennt man an den Aufklebern auf den Autos.
Erwin: Zu Leverkusen tendiert man, wenn man einen familiären Verein mag. Das Umfeld ist viel kleiner und ganz toll.

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Ich hatte eher an Werksklub als an Familie gedacht…
Erwin: Die Bayer-Werke haben ganz viel für den deutschen Sport getan und du darfst dich da nicht nur auf den Fußball konzentrieren, der erst später wichtig wurde. Viele Leichtathleten und Olympiasieger wurden hier ausgebildet und gefördert. Und wir sind stolz auf unseren Plastikverein, der irgendwann auch mal wie alle anderen Vereine durch Fusionen oder so entstanden ist.

Mario (Dritter von links)

*VICE Sports: Du bist mit einer Gruppe Mexikaner unterwegs. Was macht ihr hier in Berlin?*
Mario: Wir sind aus Mexico City nach Berlin geflogen, um Chicharito spielen zu sehen.

Ihr seid nur, um ihn spielen zu sehen, ernsthaft um die halbe Welt geflogen?
Ja, wir wollen ihn unbedingt bei seinem neuen Verein spielen sehen. Ich bin sehr aufgeregt.

Was bedeutet Chicharito für euch Mexikaner?
Er ist der beste mexikanische Spieler, den wir haben. Er ist einfach ein großer Star in unserem Land und wir verehren ihn. Ich hoffe auf viele Tore von ihm.

Ich muss noch mal nachfragen: Ihr seid wirklich aus Mexiko nur für ein Bayer-Leverkusen-Spiel angereist?
Ja, wir sind jetzt Fans von Leverkusen, weil Chicharito für den Verein spielt. Guck hier, mein Schal. Natürlich werden wir uns auch ein paar Tage die deutsche Architektur und so anschauen, aber eigentlich sind wir nur wegen Chicharito hier.

Alexander und Max

VICE Sports: Welcher Spieler hat dich zum Leverkusen-Fan gemacht?
Alexander: Das erste Mal, als ich Bundesliga geguckt habe, hat Ulf Kirsten als Torschützenkönig alles weggebombt. Das fand ich geil und schon war ich Bayer-Fan.

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Ihr hattet immer viele Sympathieträger und tolle Fußballer in euren Reihen—bis sie irgendwann den Verein für größere Aufgaben verlassen haben. Wie ist das Verhältnis von Leverkusen-Fans zu Ex-Spielern?
Ulf Kristen wird noch immer fast vergöttert, würde ich sagen. Bei einem Zé Roberto oder so freut man sich, wenn er wie gerade den brasilianischen Pokal gewonnen hat. Andere Spieler haben es sich hingegen mit den Fans verscherzt…

Wer zum Beispiel?
Der letzte, der mir einfallen würde, wäre Gonzalo Castro. Der meinte immer, dass er ins Ausland wechseln will. Und wo geht er hin? Nach Dortmund, ein paar Kilometer weiter nördlich.

Könnt ihr den Schritt zu einem etwas größeren Traditionsverein nicht nachvollziehen?
Alexander: Ich kann das schon nachvollziehen, aber dann muss ich vorher nicht die ganze Zeit sagen, dass ich wegen meiner Wurzeln nach Spanien wechseln will.
Max: Wäre er nach Spanien gewechselt, hätte niemand was gesagt. Und einem Spieler ist es egal, ob das ein Traditionsverein ist oder nicht. Denen geht es nur ums Geld und den Erfolg oder die Aussichten. Das ist für die Fans wesentlich wichtiger, aber wir Leverkusener können diese Debatte sowieso nicht mehr hören. Die Argumente können wir schon totreden.

Immer her damit…
Wir spielen seit 38 Jahren ununterbrochen in der Bundesliga, sind ein ständiger Vertreter Deutschlands im Ausland und sind genauso alt wie Schalke 04.

Jana und Zeki

VICE Sports: Seit wann seid ihr Leverkusen-Fans?
Zeki: Seit 2000.
Jana: Seit ich mit ihm zusammen bin, also seit drei Jahren.

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Zeki, das heißt, du hast die düsterste Stunde der neueren Vereinsgeschichte mitbekommen?
Zeki: Ja, das Jahr 2002 war grauenvoll. Die verspielte Meisterschaft, die Niederlage im Champions-League-Finale und dann noch das DFB-Pokal-Finale verkackt. Böse. Dann war erstmal Alkohol angesagt.

Warst du hier in Berlin beim Pokal-Finale 2002?
Ja, der Frust war riesig: Andere Leverkusen-Fans haben hier vor dem Stadion ihre Sachen auf einen Haufen gelegt und alles angezündet. Ich hab da heute noch ein Trikot und zwei Schals, die ich von dem Haufen damals runtergenommen habe. So etwas macht man nicht. Leverkusen, eine Liebe, die nie vergeht—wie die zu ihr.

Oli und Kilian

VICE Sports: Leverkusen ist vielen Leuten egal. Warum euch nicht?
Oli: Sie haben das Kurzpassspiel in Deutschland etabliert und spielen eleganten, schnellen Fußball—wenn wir einen guten Tag haben. An einem schlechten Tag brechen wir dann auch mal gerne ein.

Welcher Spieler ist momentan unverzichtbar für einen guten Tag?
Kilian: Kevin Kampl, weil er gut spielt und…
Oli: …die Bälle behauptet und sie zurückerobert. Dieser Arbeitswille fehlt bei uns momentan ein bisschen.

Für den steht doch auch ein Stefan Kießling. Lasst ihr den jetzt einfach fallen?
Oli: Nein, er wird nicht gehen und weiterhin seine Tore machen. In der jungen Mannschaft wird es halt schwer für ihn, seine Chancen zu bekommen. Doch er macht noch ein paar dramatische Tore, da bin ich mir sicher.

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Paul, Carsten und Ilhan

VICE Sports: Ihr kommt aus Brandenburg. Wie wird man da Leverkusen-Fan?
Carsten: Ich mochte die alten Sitten und die ganzen alten Ost-Spieler um Kirsten und Thom, die Calli damals geholt hat. Der hat ja 1990 gut zugegriffen. Und so bin ich da geblieben.

Und ihr beiden wurdet mitgezogen von Carsten?
Paul: Er ist mein Schwiegervater und ich bin Union-Fan. Ich bin heute ihm zu Liebe hier und weil ich Hertha nicht mag. Und um gegen Hertha zu schießen, darf man als Unioner auch einen Schal einer Werkself tragen.
Ilhan: Ich bin Bulgare und wegen Dimitar Berbatov Leverkusen-Fan.

Rudi Völler ist eher nicht so der Sympathieträger in der Fußballwelt. Wünscht man sich Calli zurück?
Carsten: Calli war schon einzigartig, aber Völler macht es eigentlich ganz gut. Aber ich wünsche mir vor allem in der Defensive mal bessere Einkäufe. Das ist mir alles zu schwammig, was da abläuft. Es fehlt an Erfahrung.

Einen Spieler wie Emir Spahic hätte man also trotz seiner Prügelei mit den eigenen Stadionordnern halten sollen?
Auf jeden Fall. Da musst du die gelbe Karte zeigen vom Verein aus und dann wäre alles in Ordnung gewesen. Ich kenn die Hintergründe ja nicht, aber jeder hat mal eine schlechte Phase und da muss man einen nicht direkt rauswerfen. Wenn mein Arbeitgeber so reagieren würde, würde ich jedes Mal rausfliegen.

Die Interviews führte Benedikt Niessen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie