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Noisey Blog

Britney ohne Autotune ist wie Models ohne Photoshop

Britney Spears ist das passiert, wovor jeder Singstar-Spieler schon einmal Angst hatte: dass irgendein Arschloch deine schlimmste unpolierte Gesangs-Performance einfach ins Netz stellt.

Britney Spears ist das passiert, wovor jeder Singstar-Spieler schon einmal Angst hatte: dass irgendein Arschloch deine schlimmste unpolierte Karaoke-Performance einfach ins Netz stellt, anstatt sie in die Post-Production oder gleich in den Papierkorb zu geben. Das ist—wie immer, wenn der Lack bei Stars einmal bröckelt—irgendwie beruhigend für uns Singstar-Möchtegerns, ruft aber—ebenfalls wie immer, wenn es irgendwo ein bisschen Lack von Stars runter zu kratzen gibt—auch die Neider aufs Programm, die im Dünger eines solchen Mini-Shitstorm wie Gemeindebaublumen aufgehen.

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HEUTE titelt deshalb schon „Britney kann gar nicht singen"—und fragt gar nicht erst weiter nach, ob die Aufnahme nicht vielleicht von einer Aufwärmübung stammen könnte—während sich die „Fans" (die wahrscheinlich noch nie wirklich welche waren) über ihr untertalentiertes, überbezahltes Idol aufregen und dem Skandal mit aufgeregten Kommentaren auf die Sprünge helfen.

Dabei hat Britneys Image schon ganz andere Schläge überstanden. Sie hat zugenommen, sich die Haare geschoren, skandalöse Auftritte hingelegt, ungesunde Beziehungen mit mehreren Männern geführt und in einer isolierten Scheinwelt gelebt—also eigentlich genau wie Marlon Brando, nur mit mehr Musik und weniger amerikanischen Ureinwohnern auf der Agenda.

Anirudh Koul via photopin cc

Dass ihre Ausrutscher trotzdem nicht ganz so wohlwollend aufgenommen wurden, hat sicher nicht zuletzt mit dem alten Machogehabe der Medien zu tun (und vielleicht auch damit, dass sie nicht in Der Pate oder Apocalypse Now mitgespielt hat). Auch die Paparazzi-Bilder der Ohne-Höschen-Britney—die fast schon sowas wie eine eigenständige Medienfigur geworden ist—wären vom Boulevard höchstwahrscheinlich anders aufgenommen worden, wenn der Kamera und dem Betrachter statt einer Vagina ein Paar schwitzige Eier entgegen gehangen wären („Ach, dieser alte Partyhengst! Kann ihn nicht jemand ins Bett legen, bevor hier noch irgendwer geteabaggt wird?").

Insofern muss man für das aktuelle Britneygate fast dankbar sein—ums Geschlecht geht's dieses Mal definitiv nicht. Allerdings geht es auch nicht wirklich darum, wie gut Britney Spears singen kann—denn dass sie selbst an einem schlechten Abend ohne Autotune immer noch eine bessere Bühnenfigur abgibt als die meisten ihrer Hater, ist wohl auch letzteren klar (und vielleicht Mitgrund für ihren Hate).

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Einer der Top-Kommentare auf YouTube weist darauf hin, dass Britney noch nie als die größte Sängerin unter den Pop-Divas, aber immer schon als die beste Performerin gegolten habe. Eine Freundin, die erst im Mai bei Britneys Las Vegas-Show war, teilt diese Meinung und hat ein Video von der Show mit dem Begleittext „She's still got it" gepostet, in dem man bezeichnenderweise genau das Gegenteil sieht—nämlich eine Performerin, die wie der zeitversetzte Schatten ihrer eigenen Background-Tänzerinnen wirkt (obwohl Las Vegas-Shows zugegeben immer ein bisschen unbarmherzig weil verdammt unmittelbar sind). Aber es geht noch nicht mal darum, ob ihre Millionen sich eher über ihre Stimme oder ihren Körper oder doch mit ihrem Marketing rechtfertigen lassen.

Mr. Carls via photopin cc

Es geht viel eher darum, dass hier wieder einmal die alte Gegenüberstellung vom authentischen Star und dem verlogenen Heuchler—gewissermaßen Prince vs. Milli Vanilli—bemüht wird. Und dass jede entsetzte Kritik an einer imperfekten Britney so tut, als müssten unsere Stars vom Himmel gefallene Naturgenies sein, deren von Gott vorprogrammierte Karriere wir ehrfurchtsvoll vom anderen Ende des Zoo-Zauns verfolgen.

Überraschung: Stars sind nicht Stars, weil sie in allem, was sie tun, die Besten sind, sondern weil wir sie zu irgendeinem Zeitpunkt dazu auserkoren haben, die perfekten Projektionsflächen für unsere Partybedürfnisse zu sein, mit denen wir gerne parasozial mitleben und denen wir aus genau diesem Grund bereitwillig dabei helfen, das Geld für ihren zweiten Privatjet zusammenzukratzen, während wir zu ihren Popprodukten weinen, ficken, streiten oder uns einfach nur nicht langweilen.

Britney ohne Autotune ist das akustische Äquivalent zu Models ohne Photoshop. Solche Anti-Hochglanz-Guerilla-Momente sind wichtig, um sich hin und wieder in Erinnerung zu rufen, dass hinter der Fassade auch nur normale Menschen stecken—so wie in dem alten Spruch „Am Scheißhaus wirkt selbst der König wie ein Narr". Sie sind aber auch wichtig, weil sie uns zeigen, was abseits vom Besuch am Scheißhaus die Könige von den Narren unterscheidet—und dass die Einteilung ziemlich willkürlich ist.

Im Gegenzug fühlen sich unsere Stars wie Aliens, worum es passenderweise auch im betreffenden Britney-Song geht. Mit Echtheit hat das Ganze, in beiden Fällen, ziemlich wenig zu tun. Und selbst wenn, müsste man wahrscheinlich eine grundsätzliche Diskussion darüber führen, was Authentizität überhaupt ausmacht und ob man dann, wenn sie tatsächlich der Maßstab von allem ist, eigentlich noch solche Dinge wie vorteilhafte Kleidung, Schminke, oder beschönigende Instagram-Postings für seine Selbstdarstellung verwenden dürfte.

Irgendwie ist es aber auch beruhigend, dass selbst die Startkritik in erster Linie von Bullshit betrieben wird. Marlon Brando hätte zu dem ganzen Dilemma wahrscheinlich nur gesagt: „The horror, the horror …"

Markus ist auf Twitter und obwohl er ziemlich paranoid ist, lässt er sich hier gerne folgen: @wurstzombie