Warum der marokkanische Fußball nicht ohne seine Ultras kann–und sie trotzdem bekämpft

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Warum der marokkanische Fußball nicht ohne seine Ultras kann–und sie trotzdem bekämpft

Die Ultras von IR Tanger zählen zu den besten der Welt. Doch aktuell müssen wir auf ihre Pyroshows verzichten. Warum? Weil die marokkanische Regierung nicht den Unterschied zwischen Ultras und Hools verstanden hat.

Das Stadion verschwindet in einer Rauchwolke. Die Fans sind begeistert. So sehr, dass die erste Fackel gezündet wird. Wir sind erst in der 64. Minute. Zu spät. Das Signal wurde gegeben. In Sekundenschnelle brennt es in jeder Ecke des Stadions feuerrot. Keiner sieht mehr was vom Spiel. Wurde es unterbrochen? Den Leuten scheint es egal zu sein, denn jetzt dröhnt aus Tausenden Kehlen die berühmteste Hymne des Vereins: Tanjawi Rassi 3ali.

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Und somit ist der eigentliche Höhepunkt der Begegnung erreicht. Was sich jetzt abspielt, ist typisch für die Mitglieder der Ultras Hercules, der Ultra-Gruppierung des marokkanischen Erstligisten Ittihad Riadi Tanger (oder einfach IR Tanger). Doch so typisch ist das eigentlich gar nicht mehr: Die Ultras Hercules boykottieren nämlich längst die Spiele der eigenen Mannschaft.

Denn für die laufende Saison haben sich die Ultras vorgenommen, nur zwei Liga-Spiele von IR Tanger zu besuchen: eines zu Hause und eines auswärts. Gleichzeitig behalten sie sich das Recht vor, ihren Boykott bei wichtigen Anlässen auszusetzen. Heute ist so ein Anlass: IR Tanger empfängt MAS Fez für das Rückspiel im Halbfinale des Coupe du Trône, des marokkanischen Pokalwettbewerbs.

Das pyrotechnische Spektakel ist beeindruckend, aber ebenso verboten. Weder Rauchbomben noch Feuerwerkskörper sind im Stadion erlaubt, weswegen den Verein eine Geldstrafe erwartet. Auch die Ultras werden nicht mehr toleriert. Gekommen sind sie trotzdem, wenn auch ohne Banner und ohne andere Erkennungszeichen.

Sie müssen mitausbaden, was sich im März letzten Jahres zwischen rivalisierenden Ultras von Raja Casablanca ereignet hat, als drei Menschen starben und 50 verletzt wurden. Doch der Kampf der marokkanischen Behörden gegen die Ultra-Bewegung ist schon älter und fußt auf dem Kampf gegen Hooligans.

Einen Monat vor dem Drama von Casablanca kamen Vertreter aus dem Justiz-, Innen- und Sportministerium in Rabat zusammen, um Lösungen gegen Hooligan-Gewalt zu finden. Das Problem für die Ultras: Auch sie werden mit ins Visier genommen.

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„Sie wollen uns am liebsten aus der Gesellschaft entfernen", erzürnt sich einer von fünf Hercules-Anhängern, mit denen ich gemeinsam am Tisch sitze. Sie sind jung, Anfang 20, teils Geschäftsmänner, teils Studenten und allesamt wie Casuals gekleidet. Auf Vereinsembleme verzichten sie heute.

Mehr dazu: Die Väter der Ultrà-Hipster—die Geschichte der „Casuals"

Das hat auch damit zu tun, dass sie betonen, Ultras im Stadion, aber eben nur im Stadion zu sein. Und dass sie sich dagegen wehren, dass jeder Gewaltakt automatisch mit ihrer Gruppe in Verbindung gebracht wird.

Die Ultras von Ittihad Tanger beim Pokalhalbfinale. Foto vom Autor

Stichwort Gewaltakt: Am 2. November 2016, nachdem IR Tanger gegen MAS aus dem Pokal ausgeschieden war, wurden rund 20 Autos angezündet. Zudem gab es Zusammenstöße zwischen Fans und Sicherheitskräften, bei denen 50 Menschen verletzt wurden. Insgesamt kam es zu 23 Festnahmen.

„Zwei Kilometer vom Stadion entfernt ist es passiert und sofort heißt es, das waren die von Hercules. Aber die Leute, die für diese Aktionen verantwortlich sind, waren nicht mal im Stadion", beteuern die fünf Ultras.

Und wer war dann für die hässlichen Szenen im Stadioninneren verantwortlich? An jenem Abend hätten nach Aussage der Hercules-Ultras die Fans von MAS massiv „provoziert", indem sie nach dem Finaleinzug das Spielfeld stürmten. Die Folge waren fliegende Sitzschalen. „Es gibt nur sehr wenig Leute in Marokko, oder der ganzen Welt, die eine Niederlage ohne Weiteres wegstecken können", rechtfertigen sich die fünf Ultras.

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Überraschenderweise sind sich die Behörden und Ultras mal einig, wenn es darum geht, wer der größte Unruhestifter, das „freie Elektron", im Stadion ist: sogenannte ‚unbegleitete Minderjährige'.

Zur besseren Erklärung: Es gibt zwei Wege, um ins Stade Ibn Batouta von IR Tanger zu gelangen. Auf regulärem Wege, soll heißen, mit einem Ticket (Kostenpunkt: rund sechs Euro) im Schlepptau und nach Sicherheitskontrollen durch ein Drehkreuz. Oder auf nicht so regulärem Wege, soll heißen, dass man die Polizei ablenkt und dann einfach über die Absperrungen klettert und so schnell einen die Beine tragen Richtung Stadion sprintet.

Und die unbegleiteten Minderjährigen haben sich zu Meistern des nicht so regulären Stadionzutritts gemausert. Mit schwerwiegenden Folgen für den marokkanischen Fußball.

In den Reihen der Ultras sind viele Jugendliche zu sehen. Foto vom Autor

Die Ultras betonen, dass sie Minderjährigen keinen Zutritt mehr in ihre Kurve gewähren. Andererseits räumen sie ein, dass sie immer noch Jugendliche in den eigenen Reihen sehen. Doch sie wollen vor allem, dass sich die Kritik nicht nur auf ihre Tribüne begrenzt. Sie fordern, dass keine Tickets mehr an Jugendliche verkauft werden bzw. dass die Kontrollen vor den Stadien verschärft werden.

„Die Schwachstellen beginnen lange vor Betreten unserer Kurve", beschwert sich einer der Ultras. „Das, was an den Eingängen passiert, ist ein Desaster." Gemeint sind damit lange Schlangen, die sich nicht gut mit der eh schon aufgeregten Stimmung unter den Fans verträgt. Dazu kämen dann noch Beleidigungen vonseiten der Sicherheitskräfte, allgemeines Gedränge und viele defekte Drehkreuze, was nicht unbedingt zur Beruhigung der Gemüter beiträgt.

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Der marokkanische Fußballverband weiß um die Probleme in seiner Liga und strebt ein modernisiertes System des Ticketverkaufs an, genauso wie die Installation von neuen Drehkreuzen, die Nummerierung der Sitze und einiges mehr.

Kurioserweise gilt aber das Stade Ibn Batouta schon heute als eines der Vorzeigestadien in Marokko. Es wurde erst im April 2011 eröffnet und erfüllt auch internationale Kriterien.

Das Stade Ibn Batouta. Foto vom Autor

Doch die Ultras plädieren nicht nur für moderne Stadien, sondern auch für eine modernere und gerechtere Gesellschaft.

„Man muss wissen, dass Ultra-Gewalt immer das Produkt woanders erlebter Gewalt ist. Gewalt auf der Straße, Gewalt in der Familie. Ihr müsst wissen, dass nur wenig Leute in Marokko gebildet sind. Wenn du aus dem Ghetto kommst, aus einem der Armenbezirke deiner Stadt, und dann zum Stadion fährst, zusammen mit vielen nur wenig gebildeten Menschen, kommt es leicht zu Gewaltausbrüchen und Kämpfen. Anstatt nur die Ultraszenen auflösen zu wollen und in einer Tour von Ultragewalt zu sprechen, sollte man lieber andere Probleme lösen. Das Schulenproblem, das Familienproblem. Sorgt man dort für Ordnung und mehr Sicherheit, wird es auch in den Stadien weniger Gewalt geben."

In einer Untersuchung für das marokkanische Informationsportal „Le Desk" hat der Hooligan-Forscher Abderrahim Rharib eine ergänzende—und nicht ganz so ambitionierte—Forderung gestellt. „Man muss Mittel und Wege finden, dass die Jugendlichen ihre überschüssige Energie außerhalb der Stadien kanalisieren können. Liegt es nicht auch am defizitären Schulsport und dem Verschwinden von Sportplätzen, ausgelöst durch eine blind vorangetriebene Urbanisierung?"

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„Darf ich noch was loswerden?", unterbricht uns ein anderer Hercules. „Hier in Marokko hat man Angst, dass sich das wiederholt, was wir in Tunesien und Ägypten gesehen haben. Weil die dortigen Revolutionen von Ultras ausgelöst wurden. Aber hier in Marokko haben wir nicht dieselbe Mentalität. Wir sind keine Revolutionäre im politischen Sinne. Wenn wir etwas revolutionieren wollen, dann nur den korrupten Fußball hierzulande."

Neben der Korruption prangern viele marokkanische Fans den offensichtlichen Interessenkonflikt bei wichtigen Funktionären an.

Um hierfür mal ein Beispiel zu nennen: Der Präsident des marokkanischen Fußballverbands ist gleichzeitig auch Präsident des Erstligisten Renaissance sportive de Berkane. Inwieweit hier Unparteilichkeit gewährleistet sein soll, wissen nicht mal die Fußballgötter. Und auch die anderen Mitglieder des Verbandspräsidiums stehen für all das, was die Ultras verachten und unbedingt reformiert wissen wollen: ein genauso unübersichtlicher wie ungesunder Wirrwarr aus sportlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen. Als Paradebeispiel kann Liga-Präsident Saïd Naciri dienen, der nebenbei auch noch Präsident des Spitzenteams Wydad Casablanca, Abgeordneter und Geschäftsmann ist.

Den aus ihrer Sicht korrupten Verbänden begegnen die Ultras mit jeder Menge Solidarität in den eigenen Reihen. Bei aller Solidarität betonen sie aber, dass sie kein richtiger Verein sind, sondern nur ein Zusammenschluss von 1.000 Fans, die ihre Capos, ihre Stadt und ihr Team respektieren. „Wir sind sehr gut strukturiert, besser als die Verbände, besser als das meiste hier in Marokko."

Strukturiert und solidarisch, also. „Wenn bei Tanger die Kurve leer ist, ist auch das Stadion leer. Zwischen Kurve und den restlichen Fans herrscht eine große Solidarität. „Ohne das Spektakel von uns Ultras würde keiner ins Stadion kommen. In Frankreich und anderswo in Europa funktioniert der Fußball auch ohne Ultras. Nicht aber in Marokko. Wir wurden im letzten Jahr zur viertbesten Ultragruppierung der Welt gewählt (auf der Facebook-Seite Ultras World, Anm. d. Red.). Viele der Zuschauer kommen nicht für den Fußball ins Stadion, sondern für unsere Choreos und Pyroshows. Das schmeckt aber nicht den Behörden. Denn die wollen ein Publikum, das keinen Piep von sich gibt."

Strukturiert, aber kaum gehört: Denn die Ultras beklagen, dass ihr Kampf einfach unter den Teppich gekehrt wird. Den Klubpräsidenten werfen sie kollektives Schweigen vor, genauso wie auch den Medien. Beim ersten Heimspiel der Saison, erzählen die fünf Ultras, habe ein Kommentator die leeren Tribünen damit gerechtfertigt, dass ja noch Sommerferien seien und die Fans aktuell am Mittelmeer relaxen würden. Das war am 27. August. Für das Auswärtsspiel am 10. September, zu dem keine Tanger-Fans mitgereist waren, hatten die Zeitungen dann ein anderes Argument parat. Das war zwei Tage vor dem bedeutenden Opferfest. Also blieben dieses Mal die Auswärtstribünen leer, weil die Tanger-Anhänger Hammel einkaufen mussten.

Man kann davon ausgehen, dass der Kampf zwischen Ultras und Verband noch lange nicht beendet ist.