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fußball in der türkei

Der türkische Fußball unter Erdoğan—AKP-Vereine und Ultra-Unterdrückung

Nach der Wiederwahl von Präsident Erdoğan sieht die Zukunft des türkischen Fußballs düster aus. VICE Sports sprach mit Türkei-Experte Harald Aumeier über Anti-PKK-Sprechchöre, den elektronischen Fan-Ausweis und die Flut an deutsch-türkischen Spielern.
Foto: Imago

Bei den Neuwahlen in der Türkei hat die AKP von Staatspräsident Erdoğan etwa 50 Prozent und damit die absolute Mehrheit bekommen. Damit kann Erdoğan in seinem Land alleine regieren. Dies wird wohl erhebliche Konsequenzen für die Meinungsfreiheit in der Türkei haben. Was neben Podolski, Gomez und Sneijder aber kaum auffällt: Vor allem der türkische Fußball leidet unter der repressiven Herrschaft Erdoğans.

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VICE Sports sprach mit Türkei-Experte Harald Aumeier, der in Berlin groß geworden ist und jahrelang für Türkiyemspor Berlin gearbeitet hat. Der in Istanbul ansässige Blogger sprach mit uns über Politik in der türkischen Fanszene, die staatlichen Repressionen und das Nachwuchsproblem in der türkischen Nationalmannschaft.

VICE Sports: Wie kommt es dazu, dass in der Türkei so viele Deutsch-Türken spielen?
Harald Aumeier: Ich habe noch eine Statistik vom letzten Jahr in Erinnerung: Von den türkischstämmigen Fußballern in der SüperLig kommen 30 Prozent aus Europa. Die knapp vier Millionen Europa-Türken stellen also fast ein Drittel der Türken und die 70 Millionen Türken aus der Türkei „nur" zwei Drittel. Der türkische Fußball hat ein augenscheinlich großes Nachwuchsproblem, weil die Ausbildung wohl sehr schlecht ist.

Weil die SüperLig lieber auf Altstars wie Podolski, Gomez oder Sneijder setzt?
Die SüperLig war in den letzten Jahren schon immer ein Auffangbecken für Spieler um die 30, die in der Türkei Einsatzzeiten bekommen und dazu noch gutes Geld verdienen können. Seit diesem Jahr sind es wieder mehr, weil Nationaltrainer Fatih Terim den türkischen Fußballverband überzeugte, dass man die Ausländerbeschränkung in der SüperLig aufheben solle, damit die Jugendspieler mit den ausländischen Stars trainieren und besser werden können. Für mich immer noch eine unverständliche Entscheidung.

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Wieso kaufen sich die türkischen Klubs nicht jüngere ambitionierte Spieler statt der teuren Altstars?
Das ist kulturell bedingt. Die türkische Gesellschaft denkt nicht sehr nachhaltig, denn es geht vor allem um schnelle Erfolge, Prestige und darum, die Nummer eins zu sein. Da kannst du keinen Spieler aufbauen, der zwischendurch mal verkackt, sondern du brauchst die großen Namen wie einen Weltmeister Podolski. Sobald die Meisterschaft entschieden ist, werden die Stadien bei den Verfolgern auch leerer: Der zweite Platz ist hier nichts wert.

Die Stadien sind an sich schon wesentlich leerer als noch vor ein paar Jahren. Warum?
Abgesehen von den vier großen Vereinen hatte der türkische Fußball immer weniger Zuschauer in den Stadien als die anderen europäischen Ligen—zu Zweitligaspielen kommen oft nicht mal tausend Zuschauer. Durch den Korruptionsskandal vor ein paar Jahren gab es den ersten Zuschauerschwund. Der zweite kam mit dem Gesetz 6222 und der Einführung des Passolig.

Nur noch zu Top-Spielen der großen Vereine wie Galatasaray sind die Stadien ausverkauft (Foto: Imago)

Die personalisierte Fankarte zur Sicherheit in den Stadien…
Ja, aufgrund von Ausschreitungen in und um die Stadien herum wusste sich die Politik nicht anders zu helfen. Die Opposition, die das Gesetz damals mit durchgewunken hat, würde der Passolig heute aber am liebsten wieder abschaffen.

Warum?
Das Gesetz hat diverse Schwierigkeiten: So muss man eine Kreditkarte bei der Aktif Bank, die in der 16-Millionen-Einwohner-Stadt Istanbul nur eine Filiale hat, ordern und im Jahr zwischen zehn und zwanzig Euro zahlen. Dabei muss man einen bestimmten Verein angeben, sodass man nur Spiele mit Beteiligung dieses Klubs besuchen kann. Es dauert dann Wochen oder Monate, um überhaupt diese Karte zu erhalten und sich so überhaupt für Tickets bewerben zu können.

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Es gibt für die Türken und auch für Touristen also keine Möglichkeit, spontan zu einem Fußballspiel zu gehen?
Nein, Groundhopping ist kaum möglich und das übliche Einladen von Geschäftspartnern im VIP-Bereich, denen man dann einen Podolski bei einem ausverkauften Galatasaray-Spiel zeigen will, ist auch nicht möglich. Durch Lichtbild und verpflichtenden Platz im Stadion, der von Kameras überwacht wird, kann das System nicht umgangen werden. Da man nur mit seinem Passolig die Tickets kaufen kann, muss man diese zeitgleich bestellen und man kann dann nur hoffen, neben seinen Freunden oder gar seinen Kindern sitzen zu können.

Der Passolig dient also nur als sammelnde Datenkrake?
Das kritisieren die Fußballfans. Die Aktif Bank und ihr Monopol kommen nicht von ungefähr: Die Bank gehört zur Calik Holding, die von dem Schwiegersohn von Präsident Erdoğan geleitet wird.

Können die Vereine und Fans das System nicht boykottieren?
Die Vereine haben sogar ein Interesse am Passolig. Sie können die fixen Auszahlungen im Voraus einplanen und machen bis jetzt kein Verlustgeschäft. Fenerbahçe Istanbul hatte sich am Anfang gewehrt, doch sie mussten pro Spieltag ohne Passolig 100.000 Euro zahlen und fügten sich dann ebenfalls. Die Fangruppierungen, wie die Çarşı Beşiktaş, haben zum Boykott aufgerufen, doch Proteste werden in der Türkei meistens im Keim erstickt. Also suchten viele Fans nach Alternativen und gründeten Freizeitligen, wo sie ihre Liebe zum Fußball frei ausleben können.

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Was ist der größte Unterschied zwischen einem deutschen und einem türkischen Stadionbesuch?
Die türkische Emotionalität. Die in Deutschland gelebte Ultrakultur ist in der Türkei die Fankultur. Alle Fans sind hier Ultra, weil sie alle singen und Party machen—bis in die Loge. Natürlich geht das aber nur ohne Passolig.

35 Ultras der Çarşı Beşiktaş stehen momentan in Zusammenhang mit den Protesten im Gezi-Park wegen eines versuchten Putschversuchs vor Gericht. Wie politisch sind die türkischen Fußballfans?
Schon seit den 80er-Jahren äußern sich die türkischen Fußballfans in den Stadien politisch. Damals eher rechts, heute eher links. Mit Gezi haben die Fußballfans gemerkt, dass sie eine gesellschaftspolitische Relevanz haben. Der Staat reagierte darauf und kann mit dem Gesetz 6222 nun die einzelnen Fans und nicht mehr nur die Vereine bestrafen. Kritische Stimmen wurden mundtot gemacht und dem Staat gelegene Äußerungen werden toleriert.

Die türkische Regierung der islamisch-konservativen Partei AKP versucht zudem, eigene Vereine zu installieren…
Die AKP ist mit 13 Regierungsjahren die erste Partei, die über einen längeren Zeitraum in der Türkei an der Macht ist, und schaffte es in allen Gesellschaftsbereichen, ihre Leute zu installieren. Nur im Fußball konnten sie die großen Istanbuler Vereine, die alle jeweils zwischen zehn und zwanzig Millionen Fans binden, nicht unterwandern. Also nehmen sie Einfluss auf Vereine oder gründen sie gar neu. Das sind Rizespor, Kasımpaşa, Medipol Başakşehir und Ankaraspor, die jetzt Osmanlıspor heißen.

Was verbindet diese Vereine?
Sie kommen und leben im Umfeld der AKP. Kasımpaşa ist aus dem Bezirk, wo Erdoğan herkommt, und sie spielen in der SüperLig im Recep-Tayyip-Erdoğan-Stadion. Die Fans kommen größtenteils aus dem Bezirk, wo man bis zu 80% die AKP wählt. Ankaraspor, die jetzt Osmanlıspor heißen, sind vom AKP-Bürgermeister Ankaras gegründet worden. Sie haben einen sehr starken Bezug zum osmanischen Reich.

Inwiefern spiegelt sich der Konflikt mit den Kurden in türkischen Stadien wider?
Ja, der spiegelt sich wider, besonders in Zeiten, wo der Konflikt politisch gärt. Momentan forderte dieser wieder über 2000 Tote. Es war in der Türkei schon immer so, dass der Frust durch Angriffe auf Vereine aus dem Osten, wie etwa Amedspor aus Diyarbakır oder Cizrespor, abgelassen wird. Durch die Aktualität rufen auch Fanszenen, die eigentlich nicht mit nationalistischen Sprechchören auffallen, auch mal spontan „Tod der PKK" und „Nieder mit den Kurden". Nur weil ein Verein aus dem Osten kommt, werden sie mit der PKK gleichgesetzt. Dabei sterben auch beim türkischen Militär türkische Soldaten mit kurdischen Hintergrund.

Das Interview führte Benedikt Nießen, folgt ihm bei Twitter: @BeneNie