Nordische Gelassenheit: Wie die Isländer ihre EM-Qualifikation erlebten
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Nordische Gelassenheit: Wie die Isländer ihre EM-Qualifikation erlebten

Island hat sich zum ersten Mal für ein großes Fußball-Turnier qualifiziert. Der Mini-Staat müsste vor Stolz platzen, denkt man. Unser Autor ist in Reykjavik und hat sich in diesem historischen Moment gefragt: Weiß hier jemand, dass Fußball gespielt...

Der Abpfiff war ein historischer Moment. Doch im kalten Regen von Reykjavik schienen sich die Isländer noch nicht so recht über ein 0:0 gegen Kasachstan freuen zu können. Zögerlich fielen sie sich in die Arme. „Sollen wir jetzt jubeln?", schienen sie sich zu fragen. Ja, das Spiel gegen die Kasachen war unterirdisch. Aber es brachte eben den einen fehlenden Punkt. Der eine Punkt, der die Qualifikation für die erste Endrunde eines großen Turnieres perfekt machte. Island, mit seinen 300.000 Einwohnern, wird bei der EM 2016 in Frankreich dabei sein.

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Es ist der größte Erfolg im Fußball für die Isländern, die sonst vor allem im Handball stark sind. Dazu haben sie die größte Dichte an aktiven Schachgroßmeistern pro Einwohner weltweit. Aber Fußball? In Erinnerung geblieben ist da höchstes die Wutrede von Rudi Völler, nachdem sich die Deutsche Mannschaft in Reykjavik während der Qualifikation zur EM 2004 zu einem müden 0:0 gequält hatte. Vielleicht noch Eidur Gudjohnsen, der einst zusammen mit seinem Vater für Island auflief und für Vereine wie den FC Barcelona und Chelsea spielte. Die meiste Zeit aber dümpelte Island irgendwo auf den dreistelligen Plätzen der FIFA-Weltrangliste herum, ohne das jemand groß Notiz davon nahmen.

Und jetzt auf einmal: das große Rampenlicht, die ganz große Fußballbühne, ein historischer Erfolg.

Die Isländer nahmen ihn mit nordischer Gelassenheit hin. Nach dem Abpfiff standen die Spieler mit stoischer Mine in den Katakomben des Nationalstadions Laugardalsvöllur und erzählten von den unbeschreiblichen Gefühlen, die sie derzeit erleben. Ihr Gesichtsausdruck passte dabei nicht zu ihrer Wortwahl.

Das passte perfekt in einen Abend, der isländischer nicht hätte sein können. Da im Stadion kein Bier ausgeschenkt werden darf, trafen sich die Fans vorher in der Kneipe „Ölvir" unweit des Stadions. Sonntags haben in Island viele Geschäfte geöffnet, weshalb einige „Eismänner" noch bis nachmittags arbeiten mussten—was nur eine kleine Zeitspanne zum Betrinken vor dem Spiel ließ. Denn auf Grund der zwei Stunden Zeitverschiebung zum europäischen Festland wurde das Spiel bereits um 18:45 Uhr angestoßen. Entsprechend gestresst war der isländische Fan und hatte nicht so recht Zeit mit der Presse zu sprechen. Nur ein paar Anekdoten wurden mit stolz geschwellter Brust kurz und knapp erzählt, etwa, dass die beiden Nationaltrainer Lars Lagerbäck und Heimir Hallgrimsson meist 90 Minuten vor dem Spiel im „Ölvir" auftauchen und die Aufstellung verraten. „Dann wissen die Fans vor den Medien, wer spielt", grinst ein Fan. Dann muss er schnell weiter—die Zeit drängt, bald ist Anpfiff.

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Eben jener Hallgrimsson ist auch der heimliche Star des isländischen Fußballs. Er hat quasi sein komplettes Leben dem Fußball auf den Westmännerinseln gewidmet. Die Inselgruppe liegt knappe 30 Flugminuten von Reykjavik entfernt und zählt etwas mehr als 4000 Einwohner. Hallgrimsson war Trainer quasi aller Mannschaften dort, egal ob Frauen oder Männer. Er engagiert sich im Nachwuchsbereich, wo er heute noch ab und an Jugendturniere als Schiedsrichter pfeift. Typisch isländisch ist er nebenbei noch der beste Zahnarzt der Insel. „Unser vorheriger Nationalcoach war Zimmerer, jetzt haben wir einen Zahnarzt. Da musste das ja mit der Qualifikation klappen", erzählt ein isländischer Journalist lachend.

Eine Stunde vor Spielbeginn öffnen sich die Tore im Laugardalsvöllur. die 15.000 Tickets waren innerhalb von 54 Minute ausverkauft. Ein Zwanzigstel der Einwohner Island werden heute da sein. Die Isländer sind ein patriotisches und sportbegeistertes Völkchen. Beim 1:0-Sieg in den Niederlande war ein Prozent aller Isländer im Gästeblock—rund 3.000 Fans. Gleichzeitig unterstützten mehrere hundert Isländer ihr Basketball-Team, das aktuell erstmals an einer Europameisterschaft teilnimmt. Nur langsam trudeln die Zuschauer ins Stadion. Einige junge Frauen malen den Kindern die Nationalflagge auf die Wangen, was angesichts der komplizierten Form länger dauert. Andere essen Pizza oder das heimliche Nationalgericht des Landes: Hot-Dogs.

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Durch das luftige Rund brüllt ein viel zu lauter Pop-Song, irgendwo zwischen Kitsch und Schlager. Jedes zweite Wort scheint Island zu sein. „So sollte eine Nationalhymne klingen. Leider ist sie es nicht", sagt ein Journalist. Ich hoffe, dass er das nicht ernst meint, befürchte es aber.

Direkt neben dem Stadion befindet sich das Laugardalur Freiluft-Schwimmbad. Dort herrscht auch bei drei Grad Außentemperatur normale Betriebsamkeit. Dass nebenan ein Fußballspiel stattfindet, nehmen einige Passanten mit gelassener Gleichgültigkeit zur Kenntnis. An diesem Ort wird gerade Geschichte geschrieben—egal. Auch hier will keiner so wirklich mit der Presse sprechen. Wer nichts zum Fußball zu sagen hat, der sagt eben auch nichts.

Das Stadion selbst besteht nur aus zwei großen Tribünen, eine echte Fankurve gibt es nicht. Im Block N auf der Gegengerade sorgen rund 100 Hardcore-Fans für Stimmung. In Ermangelung isländischer Flaggen wird auch gerne mal eine französische geschwenkt—sie hat ja immerhin die gleichen Farben. Sie singen die berühmten Klassiker wie „Steht auf, wenn ihr ein Isländer seid", es gibt Wechselgesänge zwischen den beiden Tribünen, doch das alles fühlt sich eher nach 3. Liga, denn Weltfußball an. Als Alleinstellungsmerkmal sangen die Isländer einen Schlachtruf, der sich nach einer Mischung aus dem neuseeländischen Haka-Tanz und besoffenem Vikinger-Gegröle anhörte. Als im Block N kurz Ruhe herrschte, legte sich eine gespenstische Ruhe über das Laugardalsvöllur. Einzig eine Möwe kreiste rund 20 Meter über dem Spielfeld und kommentierte das triste Spiel mit einem leisen Krächzen.

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Nachdem das Spiel dann abgepfiffen wurde, brach sich der Jubel kurz Bahn, verebbte aber nach rund 15 Minuten wieder. Da die Nationalmannschaft eigentlich gar keine eigene Jubel-Choreographie hat, stimmte der Physiotherapeut einen typischen Vereinstanz an. Dabei bittet er alle leise zu sein und fragt dann: „Wer hat es geschafft. Wer, verdammt noch mal, hat es geschafft?". Danach tanzen sie, was irgendwie an das Deutsche „Humba-Humba-Täterä" erinnerte.

Irgendwie schien jedoch danach keiner so recht zu wissen, wie der Bedeutsamkeit des Abends Rechnung zu tragen sei. Also zogen die Isländer zum Ingólfstorgi, dem zentralen Platz in Reykjavik. Dort trotzen vielleicht tausend Isländer dem Regen, mehr passen nicht auf das kleine Gelände. Immerhin durfte jetzt wieder Bier getrunken werden. Und so standen die Fans vor der Bühne, jubelten und tanzten mit den Spielern, doch gegen 22:30 Uhr Ortszeit war der Spuk auch schon wieder vorbei.

Wer noch weiter feiern wollte, den trieb es auf den Laugavegur, die einzige Kneipen-Straße in Island. In kleinen Gruppen feierten sie ihren „Fußballgott" Eidur Smari Gudjohnsen, dabei hatte der gar nicht mal gespielt. Vor einem Hotel in der Innenstadt endete die Party mit etwas 150 Fans und den Spielern. „Da feiern wir in Graz nach einem Cupsieg mehr", befand ein Kollege aus Österreich.

Also müssen die Statistiken her halten, um sich der Tragweite des Abends bewusst zu werden. Island ist den letzten vier Jahren knappe 100 Plätze in der FIFA-Weltrangliste gestiegen. Es hat sich vor den Deutschen für die EM qualifiziert, in einer deutlich schwereren Gruppe. Und das, obwohl Island gerade Mal ein Dreihundertstel an aktiven Fußballern hat. Den Isländern selbst scheint das alles herzlich egal. Oder vielleicht müssen sie das Feiern von Fußball-Festen auch einfach noch lernen.