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Jugend

Werder Bremen bildet nicht nur Spieler, sondern auch Menschen aus

Für seine Jugendarbeit und sein Scouting ist Werder Bremen berühmt. Maßgeblich verantwortlich dafür ist Chef-Scout Tim Steidten. Wir sprachen mit ihm über Werders „Familienpolitik" und die Kehrseiten des Traumberufs „Scout".
Alles Fotos: Christian Werner

Werder Bremen ist mittlerweile berühmt für seine Jugendarbeit und sein Scouting. Die Zweite von Werder ist neben den Mainzern die Einzige Zweitvertretung in der dritten Liga. Die Mannschaft besteht zu einem großen Teil aus Spielern aus dem Norden—dem ursprünglichen Aktionsradius von Tim Steidten. Mittlerweile sichtet der 37-Jährige Talente in ganz Europa und hat einen maßgeblichen Anteil an der Ausbildung der Talente. Als Spieler stand er neben Werders U 23 unter andere für Seattle Rapid, den VfB Oldenburg und den SV Meppen auf dem Platz, kehrte nach seiner aktiven Karriere zu Werder zurück und legte dort eine sehr steile Karriere hin. Seit einigen Jahren ist er Chef-Scout bei Werder und hat dabei so einige Spieler entdeckt. Wir hatten da so einige Fragen.

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VICE Sports: Für viele ist Ihre Arbeit ein Traumberuf. Sie sind Scout bei einem Bundesligisten, gucken ein bisschen Fußball hier, verpflichten Spieler dort. Haben Sie Einwände?
Tim Steidten: Eigentlich nicht. Es ist definitiv ein Traumberuf. Aber mit ein bisschen Fußball gucken hier und Spieler verpflichten dort ist es ganz bestimmt nicht getan. Auch dieser Beruf hat eine Kehrseite.

Eine Kehrseite?
Der Zeitaufwand ist unheimlich groß, es ist unfassbar viel Flexibilität gefragt, Spontanität. Es ist kein typischer Nine-to-five-Job mit geregeltem Feierabend, bei dem ich im Büro sitze. Mal abgesehen davon, dass es so gut wie nie eine geregelte Arbeitswoche gibt und man ständig erreichbar sein muss, verbringt man auch unheimlich viel Zeit im Flugzeug, dem Auto oder der Bahn, um zum wichtigsten Ort, dem Fußballstadion, zu gelangen. Im Büro bin ich eher selten. Aber auch das macht einen Reiz meines Jobs aus.

Nach was für einem Arbeitstag gehen Sie zufrieden zu Bett?
Immer dann, wenn ich ein gutes Fußballspiel mit guten Fußballern gesehen habe. Das ist das Schönste für mich. Und wenn dann noch ein Spieler dabei ist, bei dem ich das Gefühl habe, das könnte einer für uns sein, umso besser.

Sie treffen viele Menschen und müssen dabei Eltern begeistern, Jugendliche und gestandene Profis überzeugen. Wie viel Psychologie steckt in Ihrem Job?
Es gibt keine psychologischen Kniffe oder Tricks. Man muss überzeugt sein von der Arbeit, die man macht und genau das vermitteln. Ich bin in diesem Verein aufgewachsen, habe hier auf Plätzen gespielt, die jetzt Parkplätze sind, habe damals mit Trainern gearbeitet, die heute meine Kollegen sind. Ich glaube, wenn man „seinen" Verein lebt und die Werte des Klubs dann anderen Menschen näherbringen kann, bedarf es keiner psychologischen Arbeit. Ich versuche authentisch zu sein und zeige, was den SV Werder Bremen ausmacht.

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Und was macht Werder Bremen für Talente aus?
Hier komplett aufzuzeigen, was Werder Bremen ausmacht, würde den Rahmen sprengen. Werder ist ein Verein, der im Nachwuchsbereich einen ganzheitlichen Ansatz hat. Wir wollen nicht nur gute Fußballspieler ausbilden, sondern auch den Menschen weiterentwickeln. Deshalb zählt bei uns nicht nur die Leistung auf dem Platz, sondern auch die schulische und berufliche Ausbildung. Und natürlich können wir mit unserer Durchlässigkeit von Jugendspielern punkten, die es bei uns in den Profibereich schaffen.

Der pädagogische Ansatz zieht sich bei Ihnen durch…
Ganz genau. Wäre ich nicht bei Werder, wäre ich Lehrer geworden. Diese beiden Berufe haben viele Gemeinsamkeiten. Man begleitet in beiden Sparten junge Menschen auf ihrem Weg in die Erwachsenenwelt, gibt ihnen Hilfestellungen und Tipps und versucht, ihnen ein Umfeld zu bieten, in dem sie sich sowohl im persönlichen, als auch im fußballerischen Bereich optimal weiterentwickeln können.

Von Psychologie sprechen Sie also gar nicht?
Ich glaube, es geht vielmehr um Menschenkenntnis als um Psychologie. Uns ist besonders wichtig, dass wir Spieler erst persönlich kennenlernen, dass wir ihnen in die Augen schauen können, bevor wir sie verpflichten. Und umgekehrt wollen wir den Spielern näherbringen können, was wir in Bremen vorhaben.

Charakter, Talent, Entwicklungsfähigkeit, Umfeld—nach welchen Schwerpunkten suchen Sie Spieler aus?
Der Charakter und die Einstellung zum Spiel spielt bei der Spielersuche eine entscheidende Rolle. Unsere Spieler sollten eine gewisse Demut an den Tag legen, sollen bescheiden sein und zu schätzen wissen, was für eine große Möglichkeit sie haben in diesem Verein ihren großen Traum leben zu können. Sie sollen dabei aber nicht ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihr Selbstvertrauen außer Acht lassen. Die Kombination aus der richtigen Einstellung und dem dazugehörigen Talent sind ausschlaggebend für uns.

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Ibrahimovic kann mit Druck umgehen, Jungprofis vielleicht noch nicht. Von welchen Seiten kommt der Druck?
Das ist ganz unterschiedlich. Klar gibt es Eltern, die vor allem im Nachwuchsbereich einen gewissen Druck auf ihre Kinder ausüben. Es gibt aber auch Jungs, die es als Druck empfinden, wenn die Fans eine gewisse Erwartungshaltung haben. Das muss man individuell beurteilen.

Gibt es Talente, von denen Sie im Vorfeld die Finger lassen, weil sie beispielsweise zu unselbstständig sind?
Junge Spieler sind immer eine Herausforderung. Wir würden niemals sagen, dass uns die Arbeit mit einem Spieler als zu aufwendig oder gar zu anstrengend erscheint. Das würde dem Menschen nicht gerecht werden. Wir versuchen den Spielern, wenn sie sich für uns entscheiden, jede erdenkliche Hilfestellung zu geben—in allen Bereichen des Lebens.

Spieler zu holen ist das eine, sie zu halten das andere. Wie schwer ist es heutzutage, die Früchte der Jugendarbeit selbst zu ernten?
Wenn wir unseren Job gut machen und uns weiterhin auch stetig verbessern, werden wir auch in Zukunft die Früchte unserer Arbeit ernten können. Wir sind ein Entwicklungsverein, unsere Aufgabe ist es junge Spieler auf ihrem Weg in den Profi-Fußball zu begleiten und ihnen die optimalen Bedingungen dafür zu bieten. Wenn sich dann ein Spieler irgendwann dazu entscheidet zu einem anderen Verein zu wechseln und wir durch eine Ablöse in der Lage sind einen neuen Perspektivspieler zu verpflichten, hat sich die Arbeit für beide Seiten gelohnt.

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Aber es tut schon weh…
Das tut immer weh, ganz klar. Aber es ist das Geschäft und das ist das Modell, dem wir uns alle bewusst sind. Wir wollen und können keinen Spieler für immer und ewig an uns binden, aber wir wollen sie ans Profi-Geschäft heranführen und im Idealfall dort die Früchte ernten.

Mittlerweile fließen zweistellige Millionenbeträge für 18-Jährige Fußballer und selbst 15-jährige verdienen schon viel Geld mit dem Sport…
Es ist für junge Menschen nicht gesund, so früh so viel Geld zu verdienen. Das ist meine persönliche Meinung. Ich weiß aber auch, dass der Markt große Verdienstmöglichkeiten hergibt. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Angebot und Nachfrage den Markt bestimmen. Für die Persönlichkeitsentwicklung ist es trotzdem nicht förderlich, wenn ein Junge mit 15 Jahren schon x-fach so viel verdient wie sein Vater.

Nationalspieler Christoph Kramer sprach mal von „Menschenhandel", andere sprechen von der „Ware Jugendfußballer".
Wo Leistung gebracht wird und eine Nachfrage herrscht, ist auch die Vergütung da - selbst im Nachwuchsbereich. Das ist bei Musikern nicht anders, die gewisse Eintrittspreise bei Konzerten verlangen können. Aber Menschen als Ware zu sehen, liegt mir fern.

Bei der Marktentwicklung—wie wichtig sind für Bremen neue Nischen und Märkte bei Transfers?
Diese Nischen gibt es nicht mehr. Der Fußball ist global, gläsern und transparent geworden. Es sind über jeden Spieler der Welt sofort Videosequenzen verfügbar, sämtliche Daten abrufbar. Für uns als Abteilung ist es trotzdem wichtig, die besonderen Spieler zu finden—und da schauen wir natürlich weltweit.

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Talente bei Youtube zu bestaunen reicht aber wahrscheinlich nicht. Ihr Büro bekommt Sie wahrscheinlich nur selten zu Gesicht.
Das Büro ist nicht mein Hauptarbeitsplatz, das ist richtig. Hier sammeln wir Informationen, tauschen uns mit anderen Scouts aus. Aber wie ich schon sagte bin ich sehr viel unterwegs—da kommen schon einige Flug- und Autokilometer zusammen.

Sie sind also Ihr eigenes Ein-Mann-Büro.
Das mobile Arbeiten macht das möglich, ja. Es kommt allerdings auch immer auf die Phase der Saison an. Wenn es beispielsweise auf die Transferperiode zugeht, bin ich viel mehr unterwegs, als zum Beginn der Saison. Letztlich werden Entscheidungen aber immer im Team getroffen, deshalb werden alle gesammelten Informationen und Eindrücke geteilt.

Wenn Sie so viele Spiele sehen, können Sie denn noch Fußball gucken, ohne an die Arbeit zu denken?
Es ist traurig, dass ich mir das eingestehen muss, aber nein, das geht nicht mehr. Ich ertappe mich jedes Mal, dass ich einen Zettel suche, um mir etwas zu notieren—selbst dann, wenn ich mir ein Spiel im Fernsehen eigentlich nur so anschauen möchte. Ich analysiere, beobachte Spieler und will neue Dinge lernen. Manchmal beneide ich meine Freunde, die ein Spiel bei einem Bier ganz entspannt verfolgen können (lacht).

Sie können also nicht einfach abschalten.
Das ist richtig, hat aber sicherlich auch mit dem Saisonverlauf zu tun. Es wäre vielleicht anders, wenn wir frühzeitig im gesicherten Mittelfeld gestanden hätten. Es waren nur wenige Momente in der Schlussphase der Saison dabei, in denen ich nicht an die schwierige Situation gedacht habe.

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Wäre der Gau eingetreten, wäre Ihre Arbeit schwieriger geworden, Spieler von Werder zu überzeugen?
Natürlich wäre es für uns schwieriger geworden, uns zu positionieren. Als Bundesligist haben wir andere Argumente als wenn wir in der zweiten Liga spielen.

Das gilt auch für Agenten und Agenturen. Wie wichtig ist der Kontakt zu großen Beratungsfirmen?
Das Geschäft hat sich auf der Ebene extrem geändert. Berater und Agenturen gehören mittlerweile zum Fußballbusiness dazu und wir sind im guten Austausch mit verschiedenen Agenturen. Im Profibereich sind Berater auch notwendig, das sehe ich im Nachwuchsbereich nicht immer so.

Sind Berater schwieriger als Eltern?
Nein, das würde ich nicht sagen und das kann man auch nicht pauschalisieren. Genauso wie es schwierige Eltern und auch schwierige Scouts gibt, sind einige Spieler und einige Berater speziell. Das ist ganz normal.

Warum sind Sie eigentlich kein Fußballprofi geworden? Immerhin haben Sie es bis zur Bremer U23 geschafft.
Es war relativ früh klar, dass ich kein Profi werde—das hat mir bereits Thomas Schaaf damals schonend beigebracht (lacht).

Ist für Sie als Nachwuchsspieler ein Traum geplatzt?
Ich konnte mich immer schon ganz gut selbst einschätzen und habe damals gemerkt, dass andere Spieler einfach schneller und technisch stärker sind. Sich das einzugestehen, ist als junger Mensch sicher nicht einfach, aber absolut notwendig und wichtig. Und im Nachhinein kann ich natürlich schon sagen, dass der Weg, den ich eingeschlagen habe, für mich völlig in Ordnung war.

Sie müssen in Ihrer jetzigen Position ebenso schonend mit Talenten umgehen.
Gerade für junge Spieler ist dieser Entwicklungsschritt, zu erkennen, dass es vielleicht doch nicht reicht zum Profi, der schwerste in der Karriere. Eigentlich möchte man diesen Traum nicht so einfach aufgeben, weil man in der Regel schon viel investiert hat. Unsere Aufgabe ist es dann diese Jungs mit unserem ganzheitlichen Konzept aufzufangen. Da hilft es natürlich auch seine eigenen Erfahrungen mit einfließen zu lassen. Ich weiß schließlich wovon ich spreche (lacht).

Bochum ist mehr als Starlight Express und der VfL - das weiß und predigt Sportjournalist David Nienhaus. Seit 20 Jahren covert der 38-Jährige den Fußball im Westen der Republik: über die Castroper Straße bis nach Mönchengladbach, von Dortmund bis Köln. Als @ruhrpoet ist der preisgekrönte Social-Media-Experte immer am Puls des Anpfiffs. Starlight Express allerdings hat er noch nicht gesehen.

Dieses Interview wurde durch die Unterstützung von Samsung möglich.