Wrestling ist tot—lang lebe Wrestling
Foto: Imago

FYI.

This story is over 5 years old.

spandex-theater

Wrestling ist tot—lang lebe Wrestling

Klar, es wird keinen Boom mehr geben wie in den Neunzigern zu Zeiten vom Undertaker. Doch Wrestling hat sich auch entwickelt. Im Social Media-Zeitalter hat sich ein neues Universum an Storylines, Mythen und WWE-Soap-Opera gebildet.

Für den deutschen Internet-Intellektuellen muss das doch wie Gehirnfrost sein. Er kennt und liebt den US-Fernsehsatiriker Jon Stewart und seine Daily Show (von der er jüngst zurücktrat) für seine spitzzüngige Sezierung amerikanischer Politik und Gesellschaft. Hier, Ami, Spiegel vor's Gesicht. Doch genau dieser Jon Stewart ist plötzlich Gastgeber des zweitgrößten Wrestling-Events des Jahres beim WWE SummerSlam und beeinflusst sogar den Ausgang des Titelkampfs entscheidend, in dem er den Star der Liga John Cena durch sein Eingreifen um den verdienten Sieg bringt. Wie passt das zusammen? Stewart der Gesellschaftskritiker und die WWE, der reaktionäre Vermarkter einer „Sportart", die erst kürzlich sogar vom Gesinnungsgenossen und UFC-Magnat Dana White öffentlich als „fake" bezeichnet wurde? Die sich in der Vergangenheit nur allzu gerne mit dem halbrechten Haarlappen Donald Trump sehen ließ? Wie passt ein Feingeist wie Jon Stewart zu diesem Unterschichten-Spektakel? Und was ist überhaupt mit Leuten los, die Wrestling lieben?

Anzeige

John Cenas Rache an Jon Stewart

Bevor man klärt, woher die auf den ersten Blick schwer herzuleitende Begeisterung von Nerds, Geistesmenschen und Prominenten für Wrestling kommt, folgt ein kurzer Rückblick, denn Jon Stewart ist kein Einzelfall in der Tradition von Satirikern, die sich im „Showcatchen" versuchen. In den frühen Achtzigern hatte Provokateur und US-Comedian Andy Kaufmann eine Fehde mit Wrestling-Ikone (und jetzigem WWE-Kommentator) Jerry „The King" Lawler am Laufen, die bis bis zu einem legendären Auftritt bei David Letterman eskalierte inklusive Live-Watsch'n, dass die Koteletten flogen.

Natürlich ist die Sozialisation mit Wrestling in Amerika eine ganz andere als hier. Bis in die 80er-Jahre existierte ein sogenanntes territoriales System aus verschiedensten Wrestling-Ligen, die Bundesstaaten UND regionale Gefälle repräsentierten. Sie waren auf den entsprechenden lokalen Fernsehstationen zu sehen und bildeten damit für viele einen Identifikationswert, gleichbedeutend mit Kindheit und Heimat. Doch wie man auch in Deutschland und Europa beobachten kann, nimmt beispielsweise der Undertaker in den Herzen nicht weniger Ü-Dreissiger einen festen Platz ein, nur zugeben tust du das meistens erst ein paar Pale Ales später. Das gesellschaftliche Stigma ist hierzulande sicher stärker als in den USA. Geh in Kreuzberg mal auf ein Date mit deinem Kater-Blau-Aufriss und versuch, dein Daniel-Bryan-Fandom erfolgreich zu verkaufen.

Anzeige

Hier ist dein Argument: Wrestling ist Eskapismus. Wrestling ist nichts anderes wie Game Of Thrones schauen oder von mir aus Gute Zeiten Schlechte Zeiten. Es sieht aus wie Sport, ist aber Fiktion. Das Aufrechterhalten dieser Fiktion beherrscht jeder Wrestlingfan aus dem FF, es nennt sich Kayfabe. Und das muss er auch, denn die Stories, die Autorenteams der WWE schreiben, beleidigen die Intelligenz von Sechsjährigen, was ganz sicher dem halsstarrigen 70-jährigen WWE-Imperator Vince McMahon geschuldet ist. Oder wie es der renommierte Wrestling-Journalist Wade Keller formuliert: „WWE-Autoren schreiben für ein Publikum, das aus einem Zuschauer besteht: Vincent Kennedy McMahon".

Aber das ist ja das Großartige an Wrestling-Fans, sie erzählen sich zwangsweise ihre eigenen, besseren Geschichten, die sich nicht nur im Ring, sondern auch hinter den Kulissen abspielen. In einer Zeit, wo jeder dritte pensionierte Wrestler podcastet, hat sich ein neues Universum an Storylines, Mythen und Anekdoten herausgebildet. Der Aufstieg des Underdog Daniel Bryan bis an die Spitze der Liga, der sich im Grunde nur durch Crowd-Support zugetragen hat, ist so ein Beispiel, wo Realität, Insider-Wissen und WWE-Soap-Opera in einer historischen Fight Night bei Wrestlemania 30 kulminierten.

Daniel Bryans Aufstieg zum Main Event von WrestleMania

Und doch bleiben die wirklich guten Geschichten, die der Alltag einer Wrestlingliga mit sich bringt, meist unter Verschlag. Die meisten Wrestler kuschen vor der Maschine. Dabei hat die WWE selbst das nötige Werkzeug im Schuppen, um Wrestling wieder cool zu machen. Klar, es wird wohl keinen Boom mehr geben wie in den Neunzigern zu Zeiten der Monday Night Wars zwischen McMahons WWE und Ted Turners WCW, aber grade die Jungen und Wilden bieten im Social Media-Zeitalter mehr Identifikationspotenzial denn je zuvor. Sie sind keine verkappten Rassisten (looking at you, Hulk Hogan), keine Alkoholiker, Frauenverprügler oder Schmerzmitteljunkies, die mit Mitte 50 draufgehen. Sie sind Popkultur-Nerds, Vegetarier, Musikfans und Hipster. Sie heißen CM Punk (a.D.), Daniel Bryan, Seth Rollins, Kevin Owens, Finn Balor und Sami Zayne. Dazu kommt eine neue Frauen-Wrestling-Bewegung mit charismatischen Athletinnen, die in einem zutiefst patriarchischen Umfeld gottverdammt nochmal endlich den Tits-and-Ass-Maßstab überwunden haben. Becky Lynch, Bayley, Charlotte Flair und Snoop Doggs Cousine, die großartige Sasha Banks, haben ihre Einsätze eigenhändig von Pinkelpausen in Must-See-Matches verwandelt und zudem dafür gesorgt, dass in Wrestling-Foren wie Reddits Squared Circle sexistische Kommentare rigoros von der Community wegmoderiert werden.

Anzeige

Und dennoch hält man in der WWE wie im debilen Krampf an denselben Mechanismen fest, die Wrestling in den letzen zehn Jahren keinen Millimeter weitergebracht haben. Man setzt alles auf das megamaskuline Zugpferd John Cena, einen modernen Hulk Hogan (minus Rassismus) und vergisst dabei, wie profitabel die Ära war, in der man mit Stone Cold Steve Austin, The Rock, Undertaker, Mankind und Triple H für jeden Geschmack ein Eisen im Feuer hatte. Es war die sagenumwobene Attitude-Ära mit ihrem überhasteten Crash-and-Burn-Booking, dämlichen Sexismus und Anbiederung an die Edginess der Neunziger, als Tarantino-Filme, Gangsterrap, depressiver Grunge und Selbstmordgedanken zum Mainstream wurden. Du musst natürlich zugeben: sogenannte Smarks (smart marks = schlaue Wrestlingfans) wie dich zufrieden zu stellen ist für Wrestling-Booker wie der Blick in ein schwarzes Loch. Es gibt keinen Boden. Ist es zu old school, ist es zu wenig innovativ, probiert jemand was Neues, ist es zu wenig old school. Nicht umsonst nennt die Wrestling-Industrie externe Publikationen abfällig „Dirt Sheets".

Mit ihrer eigenen Farmliga NXT beweist die WWE jedoch, dass sie durchaus den Geschmack ihres intellektuellen (there, I said it) Publikums trifft und trotzdem den Massengeschmack streift. Beweis: wird ein populärer NXT-Wrestler das erste Mal dem Millionenpublikum bei der Hauptshow RAW vorgestellt, kennt ihn ein Großteil der Zuschauer in der Arena. Dennoch vertraut man selbst hier nicht dem eigenen Instinkt, sondern passt die Leute einem imaginären Massengeschmack an, dem man aber permanent hinterherhinkt. Die Jerry Springer-Ära ist vorbei. Die Zuschauer suchen ihre Realitätsflucht nicht mehr in prolligen Eifersuchtsdramen und inszenierten Machtkämpfen mit dem Chef, sondern in guten Kämpfen, in athletischen Leistung, übrigens inklusive Verletzungsgefahr, die beinahe jeden professionellen Sport auf der Welt alt aussehen lässt—Baumstammwerfen und Ultimate Fighting vielleicht ausgenommen.

Anzeige

Als Wrestlingfan hast du gelernt, die schlechten Storylines auszuhalten und entgegen aller Borniertheit der Macher positiv zu denken. Du hast dich im Gegensatz zu Vince McMahon damit abgefunden, dass das sogenannte Sports Entertainment nie so ernst genommen werden wird wie die NBA, die NFL oder die Bundesliga. Du hast akzeptiert, dass Wrestling von simplen Stories wie Sieg und Niederlage lebt und kein Breaking Bad sein kann. Hast eingesehen, dass es nicht darauf ankommt, was die anderen denken. Und du hast Jon Stewart auf deiner Seite.

Zum Abschluss fünf Wrestling-Memes, die du getrost seinen Freunden und Verwandten zeigen kannst, wenn du Argumente für deine Begeisterung für einen fiktiven Sport anführen willst.

Brock Lesnar & Paul Heyman
Ersterer ist ehemaliger UFC-Champion, passionierter Farmer auf seiner Ranch in Minnesota und die Definition eines legitimen Asskickers. Was er tut, tut schon beim Zuschauen weh. Viel Kayfabe ist da nicht mehr zu erkennen. Die Kunst ist für den Gegner, an seinen Moves nicht zu sterben. Paul Heyman ist Lesnars Freund und Manager - er ist schlichweg der beste Rhetoriker im Wrestling.

Lucha Underground
Seriell angelegte (Staffel 2 wurde gerade für 2016 bestätigt) Wrestling-Show von Robert Rodriguez Sender El Rey mit einer Mischung aus maskierten mexikanischen Wrestling Stars (Luchadores), US-Indie-Wrestlern und ehemaligen WWE'lern. Düster, cineastisch, puristisch, mit kohärentem Storytelling, das selbst beim Thema Drachen, Untote und Teleportation keine Miene verzieht.

Anzeige

The New Day
Dieses Dreierteam besteht aus Big E, Kofi Kingston und Xavier Woods. Ursprünglich hat McMahon den Dreien das an Rassismus grenzendes Gimmick der stets gut gelaunten, tanzenden und predigenden Positivity-Schwarzen aufgedrückt. Das haben die Jungs so hart übersteuert, dass du dich nur noch wegschmeissen möchtest. Beispiel: Xavier Woods spielt während der Matches auf der Posaune das Titelthema von Final Fantasy. Das reicht, oder?

Seth Rollins
. . . ist WWE World Heavyweight Champion und spielt den sogenannten feigen Heel (bad guy), der Ärger lieber aus dem Weg geht oder seine Konflikte über Beschiss löst. Doch so sehr er sich auch Mühe mit den Antipathien gibt, er kann einfach nicht verbergen, dass er der kompletteste Wrestler der Neuzeit ist. Seth Rollins ist cool, lasst euch nichts erzählen.

NXT-Takeover-Specials
Wie bereits oben erwähnt, ist die in Florida ansässige Nachwuchsliga der WWE ein Quell der Freude für Wrestlingfans. Hier geben sich outlandishe Charaktere, Stars der Indie-Ligen, intelligentes Frauenwrestling und Ringkünstler die Klinke in die Hand und am effektivsten tun sie das in den zweimonatlichen Großveranstaltungen namens TAKEOVER. Zuletzt im Barclays-Center in Brooklyn, New York: 13.000 Tickets in wenigen Minuten, das ging schneller als beim großen Bruder SummerSlam im selben Gebäude.

Folgt Berni auf Twitter: @stburnster