Lebensgefühl oder Leistungsdruck? Mit der Nationalmannschaft bei der ersten Surf-WM

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Lebensgefühl oder Leistungsdruck? Mit der Nationalmannschaft bei der ersten Surf-WM

Unser Autor hat sich unter die Olympia-Hoffnungsträger gemischt und festgestellt, dass der deutsche Verband mit aller Kraft aufs Professionalierungs-Pedal drückt. Eine Nachtruhe konnte er trotzdem sabotieren.

Ja, Deutschland hat eine Surf-Nationalmannschaft, und – das vorweg – sie ist bei den Weltmeisterschaften in Biarritz gerade auf dem 18. Platz gelandet. Vor Argentinien, den Niederlanden und Panama – hinter Frankreich, Spanien, Portugal und allen anderen Ländern, an deren Küsten akzeptable Trainingsbedingungen brechen. Die ersten Weltmeisterschaften im olympischen Zirkel, eine Rekordzahl teilnehmender Nationen (sogar Afghanistan) und noch rekordverdächtigere Superlative in jeder einzelnen Pressemitteilung. Nicht zu vergessen ein Wettbewerbsformat, in dem jeder einzelne Surfer mit jeder einzelnen Welle Punkte fürs "Vaterland" holt, was zu einem filmreifen Gesamtsieg der Franzosen und einer verdienten Goldmedaille für den Mexikaner Jhony Corzo führte.

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Man muss kein Fan von Nationen sein, die in Wettbewerben gegeneinander antreten. Aber gegen Gänsehaut kann keine Coolness der Welt etwas ausrichten, wenn einer unserer Jungs in den letzten Sekunden doch noch die Welle bekommt, die für das Weiterkommen gerade noch gefehlt hat. Deshalb habe ich das deutsche Nationalteam für euch erst ins Trainingslager begleitet und dann direkt zur Weltmeisterschaft.

Dort hängen sie die ganze Zeit in gleichfarbigen Trainingsanzügen ab. Muss man mögen, je nach Farbe – ist aber ein anderes Thema. (Allerdings muss ich zugeben, dass sich ein gestickter Bundesadler auf der Trainingsjacke ziemlich geil anfühlt. Ich bin mit der Jacke nur einmal joggen gewesen und hatte das Gefühl, direkt schneller laufen zu können.) Mich interessiert aber vor allem, wie sich ein Haufen talentierter Individualisten in einem Team schlägt, das sich für zwei Wochen sagen lässt, wann es zu essen, zu stretchen, zu surfen oder zu schlafen hat.

Der Verband möchte im Wettkampf herausfinden, wo das eigene Engagement in internationaler Olympiavorbereitung steht, und die Athleten, ob sie überhaupt eine Chance auf die Superspiele von Tokio haben werden. Plus: Athleten haben per Definition einfach Bock auf etwas, dass sich Weltmeisterschaft nennt.

Das Trainingslager

Mit den meisten Anwesenden habe ich schon in südfranzösischen Dünen gefeiert. Wir kennen uns von Deutschen Meisterschaften, Surftrips oder aus den Weiten des Internets. Jetzt aber "herrscht ein anderer Wind … ein professioneller", erklärt mir ein Offizieller auf dem Weg zu meinem ersten gemeinsamen Abendessen mit dem Deutschen Nationalteam. Ich bin der einzige geladene Journalist und darf exklusiv und hautnah an die Athleten herantreten, die in den nächsten zwei Wochen jedoch als gut isolierter und sensibler Organismus zu verstehen sind, dem die Lasten des Alltags von einem gut funktionierenden Betreuerteam abgenommen werden. Es gibt einen Teamkoch, der dich jeden Fleischappetit mit gottgegebenen Gemüsevariationen vergessen lässt. Highcarb, Lowcarb oder Glutenfree. Einen Athletiktrainer, einen Teamchef, einen Sportpsychologen und einen französischen Techniktrainer, der die grenzenlose Offenheit und Geschichtskenntnisse seiner Landsleute erfahren durfte, nachdem bekannt geworden war, dass er unser deutsches Team trainieren wird.

Straffer Zeitplan im Trainingscamp

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Ja, der "Deutsche Wellenreitverband" fährt nach olympischer Inklusion ganz schön auf und nutzt die Leistungssportzuschüsse direkt dafür, Surfing ein bisschen leistungssportlicher erscheinen zu lassen. Drei von sechs Teammitgliedern sind Vollblutprofis, mindestens zwei haben noch nie so trainiert wie in diesen Tagen. Aufstehen um 5:30 Uhr. Eine Yoga- und zwei Surfsessions inklusive Videoanalyse, Athletiktraining und mentales Coaching. Das Leben als Profisurfer kann in diesem zweistöckigen Hostel mit zehn Doppelstockbetten ganz schön hart sein. Jedenfalls härter als es auf Instagram aussieht. Deswegen riecht es, als ich reinkomme, nach sportlichem Fokus und Curry. Organisation durch Regeln, die Verbandspräsident Philipp Kuretzky zufolge keine Konsequenzen brauchen, um gelebt zu werden: "Wenn man wenig Erfahrung hat im Umgang mit Spitzensportlern, ist es einfacher, von einem engen Korsett auf ein weiteres umzuschalten." Natürlich seien fast alle im Team erwachsen und jetzt komme jemand, der ihnen sagt, dass um 22 Uhr Bettruhe ist.

Im Trainingscamp gelten strenge Regeln

"Diese Leistung mit der Einstellung unseres Lifestyles zu vereinbaren, ist nicht leicht, aber wir haben einen sehr guten Zugang zum Team und müssen daher nicht mit Konsequenzen drohen, um die Einhaltung der Regeln zu wahren", sagt Kuretzky. Ich bin überrascht, wie professionell das neue Nationalteam diese Bedingungen zum Automatismus werden lässt, obwohl viele in mir das kalte Bier sehen, das sie bis zum Ende der Weltmeisterschaft nicht trinken dürfen. Die Meisten sind nach einem Trainingstag so erledigt, dass sie es kaum mit offenen Augen bis zur Bettruhe schaffen.

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Tobi Schröder wird nach seinem Heat vom Team empfangen

Das Team

Das deutsche Surfnationalteam besteht aus zwei Athletinnen und vier Athleten. Alle verbinden deutsche Eltern, die ihre Erziehung zu irgendeinem Zeitpunkt ans richtige Meer verlagert haben (mit Ausnahme von Valeska Schneider: Starnberger See). Deutsches Profisurfen ist also eine Art Auswanderersport made in Deutschland, done in Übersee. Zwischen Malibu und bayrischen Wurzeln. Zwischen Hawaii, Costa Rica und Kassel. Von Rostock nach Teneriffa oder über München bis nach Südafrika und Ecuador. Tim Surtmann, Nordlicht und passionierter Teamchef, sieht den bereichernden Multi-Kulti-Effekt als "ein schon immer da gewesenes Phänomen der deutschen Surfszene und großartige Chance". Wichtig sei für den Teamchef einzig und allein, dass er dank deutscher Pässe die Möglichkeit habe, mit diesen großartigen Talenten zusammenzuarbeiten.

Frankie Harrer surft und modelt, beides ausgezeichnet

Der große Shooting-Star im deutschen Team heißt Frankie Harrer. Zur Einordnung: Die 19-Jährige stimmt sich per WhatsApp mit der sechsmaligen Weltmeisterin Stephanie Gilmore über ihre Abendgarderobe ab, leiht sich bei Malibu-Nachbar Kelly Slater ein paar Chia-Samen, wenn das Müsli mal knapp wird, frühstückt mit Legenden wie Tom Curren, erzählt mir von ihrer ersten Beziehung mit Mr. Curren Caples oder kommt gerade von einem Fotoshooting für die britische Ausgabe des Modemagazins Vogue. Frankie hat sich im Surfkosmos einen Namen in großen Wellen gemacht und sich beim Über-den-Zaun-Klettern eine Verletzung am Oberarm zugezogen, die mit zwölf Stichen genäht werden musste. Bangen, Hoffen und wasserfeste Verbände für eine Teilnahme, die sie in diesem Wettbewerb noch bis ins Halbfinale führen wird. Vielen ist klar: Wenn Frankie Harrer das Modeln nicht zum Beruf macht, gilt sie als olympische Favoritin. Auf die Frage, warum Frankie für Deutschland starte und nicht für Amerika: "Weil meine Eltern aus Bayern kommen und ich einen deutschen Pass habe." Und warum wirklich? "Naja, die olympische Perspektive spielt natürlich schon eine Rolle!"

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Leon Glatzer at his best | Foto: A. Johannes Wyneken

Kurz vor der Nachtruhe sind endlich die Heat-Auslosungen öffentlich. Das Team ist beisammen, alle gleichfarbig in blau-schwarzen Trainingsanzügen, auf denen ein Bundesadler gestickt ist. Die letzten Bretter werden geliefert und mit Deutschlandfahnen beklebt. Das gibt der ganzen Sache einen fast heroischen Beigeschmack. Voller Stolz das eigene Land bei den "World Surfing Games" repräsentieren. Etwas, das sich besser anhört, als es sich anfühlt, oder besser anfühlt, als es sich anhört? Auf jeden Fall irgendwie aufregend und verdammt surreal. Zur Ernüchterung dieses historischen Moments schmeißen im Haus nebenan heute einige Franzosen eine Badtaste-Party.


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Die Eröffnung

Was man uns auf der Pressekonferenz erzählt hat, kann ich nicht sagen, weil in der Aquitaine französische Sprachkenntnisse immer noch als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden. Sicher ist, dass die Weltmeisterschaften nicht von der Nation gewonnen werden, die die besten Surfer(innen) ihr eigen nennt, sondern ihre besten Surfer(innen) animieren konnte, im hektischen Wettkampfkalender überhaupt vorbeizuschauen. Meine Sitznachbarin erklärt mir, dass aufgrund des Ausnahmezustands auf Antiterrorarchitektur (massive Steinquader), schwer bewaffnete Polizisten und Athleten-Securitys zurückgegriffen wird, die nicht nach Followern, sondern Gefährdung entscheiden, ob sie einen kleinen oder großen Sicherheitsbeamten für den Weg vom Athletenbereich zur Wasserkante bereitstellen. Somit sollte die Atmosphäre der friedlichen Völkerverständigung gewährleistet sein, die an diesem ersten Vormittag in einer großen Zeremonie gefeiert wird. Das Team aus Senegal hat mit Abstand die beste Show, die Deutschen haben die größte Flagge und geschichtlich bedingte Hemmungen, die Südafrikaner Tanika Hoffman und die Neuseeländer präsentieren wie immer den Haka. Über die Mittagshitze hinweg gibt es eine Rede von ISA-Präsident Fernando Aguerre, die klingt wie auswendig gelernter Surf-Spirit, und dann sind die "ISA World Surfing Games" mit leichtem Sonnenbrand offiziell eröffnet.

Die Dame in der Mitte des Bildes ist Tanika Hoffman

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Der Contest

Es folgen acht Contest-Tage mit kleinen und noch kleineren Wellen. 47 Nationen und 254 Starter. Wir könnten jetzt in wahre Sportlichkeit verfallen und uns einem Ergebnis nach dem anderen widmen. Eine Wellenbewertung nach der anderen analysieren und dadurch einen Leser nach dem anderen verlieren (oder gewinnen: Hier geht es zu den Einzelergebnissen). Dabei gab es zwischen all der athletischen Routine und all den Warmups auch die etwas anderen Höhepunkte. Da wäre der deutsche Teamsong, der in gemeinschaftlicher Geschlossenheit vor jedem Heat für die nötige Motivation sorgen sollte.

Oder die geheimen Taktikzeichen an der Wasserkante, zwischen Techniktrainer und Athleten. Der "wichtigste Heat der deutschen Surfgeschichte", Frankie Harrers Halbfinaleinzug oder die spartanisch eingerichteten, voneinander abgegrenzten Teamzelte, in denen die deutschen Surfhoffnungen ganze Tage verbringen mussten. Ohne funktionierende Internetverbindung, wärmende Heizung oder kühlende Klimaanlage.

"In diesem Contest verlierst du zusammen und gewinnst du zusammen", würde der König der Spiele, Fernando Aguerre, jetzt wohl sagen, wenn es noch eine Pressekonferenz gäbe. Und irgendwas ist da wohl dran, denn selbst für den contest-erfahrenen Leon Glatzer zählen die Weltmeisterschaften zum Lieblingsevent des jährlichen Wettkampfkalenders. Das deutsche Team ist angekommen und weiß im nahtlos überfüllten Biarritz auch endlich, wo es zu parken hat. Der Motor läuft, gut geölt, ab jetzt entscheiden die Nerven. Dann wieder warten! Stunden! Und trotz guter Performance ist für Leon Glatzer, Lenni Jensen und Tobias Schröder in Runde zwei Schluss. "Gegen meinen südafrikanischen Kumpel rauszufliegen, ist okay. Ich bin kein Profi, für Dylan Lightfoot hingegen hängt vom Weiterkommen eine ganze Menge ab. Ich bin schon dankbar für die Erfahrung, hier sein zu dürfen", so Tobi Schröder nach dem Ausscheiden.

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Der amtierende deutsche Meister Arne Bergwinkl schafft es als Einziger in Runde drei – und das, obwohl er mit mir am Vorabend über die Nachtruhe hinaus noch "Lord of War" fertig schauen musste. Ob ein 18. Platz gut oder schlecht ist, sei erst einmal unwichtig, denn bei diesem Pilotprojekt ginge es, so Verbandspräsident Kuretzky, vor allem um eine Bestandsaufnahme. Der Wettbewerb soll Potentiale und Schwächen im internationalen Vergleich aufzeigen und für mehr Erfahrung auf weltmeisterlichem Neuland sorgen.

Und sonst so?

Am Ende sind alle aus dem deutschen Nationalteam aus dem Wettbewerb ausgeschieden und die Athleten ziehen weiter. Frankie Harrer sitzt mit ihrem Filmer bereits im Flugzeug nach Malibu. Valeska Schneider wird in Kürze zurück nach Australien fliegen. Lenni Jensen muss wieder in die Schule und Tobias Schröder tritt in der kommenden Woche noch bei den Hochschulmeisterschaften an. Für Leon Glatzer und Arne Bergwinkl geht es nun für einige Wochen ins berauschende Indonesien. Dort, wo Milch und Honig in perfekten Wellen fließen.

Stoßen wir zum Abschied zumindest noch einmal auf das beste deutsche Surfteam aller Zeiten an? Oder gehen wir später vielleicht sogar in den berüchtigten "Playboy-Club", von dem uns die Schweizer gestern erzählt haben, Herr Präsident? "So etwas kann natürlich stattfinden, aber nicht von uns initiiert. In erster Linie geht es um Leistungssport. Das muss aus dem Team herauskommen. Wir haben für diesen letzten Abend jedenfalls einen Kasten Bier für das Team gekauft!"